Krankheitsspezifische Leitlinien können unterstützend in der Risikoerfassung und/oder der Therapieentscheidung eingesetzt werden. In Bezug auf das Krankheitsbild der Osteoporose bedeutet dies, dass zum einen das Knochenbruchrisiko einer Einzelperson erfasst und zum anderen eine Empfehlung hinsichtlich Prophylaxe- oder Therapieeinleitung ableitbar sein sollte.
Knochendichte (T-Score) als Grundlage der Therapieentscheidung: Basierend auf der im Jahr 1994 publizierten Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) können Personen auf Basis einer mittels DXA-Methode durchgeführten Knochendichtemessung einer der folgenden diagnostischen Kategorien zugeordnet werden: a) normal, b) Osteopenie, c) Osteoporose und d) manifeste Osteoporose (im Falle prävalenter Fragilitätsfrakturen). Diese diagnostischen Kategorien stellen auch gleichzeitig die Basis für die Indikation zur Einleitung einer Osteoporosetherapie dar (Tab.).
Keine Berücksichtigung individueller Risikofaktoren: Einer der wesentlichen Gründe, warum gerade ein T-Score von ≤ –2,5 als Schwellenwert für die Diagnose einer Osteoporose definiert wurde, war die Erkenntnis, dass rund 30 % aller postmenopausalen Frauen weißer Ethnizität unterhalb dieses Schwellenwertes liegen und das Lebenszeitrisiko dieser Frauen, eine osteoporotische Fraktur zu erleiden, ebenfalls rund 30 % beträgt. Anders ausgedrückt, die Entscheidung, ob eine postmenopausale Frau eine Osteoporosebehandlung erhalten sollte oder nicht, basiert auf der Schätzung eines durchschnittlichen Lebenszeitfrakturrisikos, ohne Berücksichtigung individueller Risikofaktoren, welche das absolute (individuelle) Risiko erheblich nach oben oder auch nach unten abweichen lassen könnten.
Mit zunehmender Kenntnis von Risikofaktoren, welche das individuelle Frakturrisiko beeinflussen, ging die Entwicklung und Publikation von Berechnungs-Tools zur Erfassung des individuellen absoluten Frakturrisikos einher.
Ein Online-Berechnungs-Tool, welches gemeinsam mit der WHO auf Basis zahlreicher Metaanalysen von Risikofaktoren, der populationsspezifischen Frakturinzidenz sowie Mortalität entwickelt wurde, findet seit mehreren Jahren weltweit unter der Bezeichnung FRAX® breite internationale Anwendung.
Zur Berechnung des individuellen 10-Jahres-Frakturrisikos finden neben dem Geschlecht, dem Alter sowie fakultativ dem Ergebnis einer Knochendichtemessung mittels DXA mehrere klinische Risikofaktoren Eingang. Als Berechnungsergebnis wird das absolute 10-Jahres-Frakturrisiko angezeigt, ohne jedoch eine Empfehlung hinsichtlich Therapieindikation zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich wäre die Therapieentscheidung auf Basis einer nationalen Kosten-Nutzen-Rechnung sinnvoll, welche derzeit aber nur für einige wenige Staaten zur Verfügung steht.
Unabhängig vom FRAX®-Tool wurde von Seiten des Dachverbandes Osteologie (DVO) ein Werkzeug zur Erfassung des absoluten (individuellen) 10-Jahres-Frakturrisikos entwickelt, und ähnlich dem FRAX® online kostenfrei zur Verfügung gestellt. Die Berechnung verläuft de facto 2-stufig.
In Stufe 1 (Osteoporose-Risikotest) wird festgestellt, ob ein ausreichend hohes absolutes Frakturrisiko vorliegt, um überhaupt eine weitere Abklärung einschließlich Labor und gegebenenfalls eine Osteodensitometrie durchzuführen. Beträgt oder überschreitet das errechnete 10-Jahres-Frakturrisiko 20 %, so ist eine weitere Abklärung einschließlich Labor und gegebenenfalls Osteodensitometrie indiziert.
Therapie-Algorithmus Osteoporose: Die Ergebnisse der weiterführenden Abklärung finden in einem ebenfalls online zur Verfügung stehenden Tool (sog. Therapie-Algorithmus Osteoporose) Berücksichtigung und ermöglichen dem User danach eine Entscheidung zu fällen, ob behandelt werden sollte oder nicht.
Dieser Algorithmus berücksichtigt klinische Risikofaktoren, welche zumindest teilweise im FRAX® keine Berücksichtigung finden. Zu diesen Faktoren zählen u. a. das Sturzrisiko selbst, Immobilität, subklinischer Hyperkortisolismus u. a. Die Knochendichte-Messergebnisse können sowohl von Femur- als auch LWS-Region verwendet werden. Die so errechnete Therapieschwelle wurde allerdings empirisch mit einem 30%igen 10-Jahres-Frakturrisiko definiert, was aus Sicht zahlreicher Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Gründen inadäquat hoch erscheint. Auch werden keine populationsspezifischen Merkmale wie Frakturinzidenz, Mortalität etc. berücksichtigt.
Last but not least steht seit wenigen Monaten ein weiteres Online-Berechnungstool zur Verfügung, welches von einer britischen Arbeitsgruppe unter der Bezeichnung QFracture® entwickelt und publiziert wurde. Analog zu den beiden oben genannten Verfahren stellen die Basis für die Berechnung des individuellen absoluten Frakturrisikos die klassischen Risikofaktoren dar, welche durch eine größere Anzahl weniger gut gesicherter Risikofaktoren ergänzt wird. Ein Knochenmineraldichte-Ergebnis findet darin keine Berücksichtigung. Auch liegen derzeit keine populationsspezifischen Berechnungsoptionen vor.
Bemerkenswert ist jedoch die durchaus sinnvolle Option, das individuelle absolute Frakturrisiko für einen Zeitraum von 1–10 Jahren berechnen zu können. Dies scheint insbesondere dort sinnvoll, wo die noch zu erwartende Lebensdauer der untersuchten Person unterhalb von 10 Jahren liegt. Eine direkte Empfehlung, ob behandelt werden sollte oder nicht, stellt dieses Tool nicht zur Verfügung.