Streng genommen repräsentiert die Palliativmedizin nur den medizinischen Teil der Palliativbetreuung, wird aber im Deutschen als pars pro toto verstanden. Aus der bewusst weit gefassten Definition der WHO ergibt sich, dass Patienten mit unterschiedlichsten Erkrankungen und zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Krankheitsprozess für palliativmedizinische Betreuung geeignet sind. In der Realität zeigt sich allerdings, dass die weitaus überwiegende Mehrzahl der Patienten, die durch Palliative Care betreut werden, onkologische Erkrankungen haben.
Dass gerade onkologische Patienten palliativmedizinischen Betreuungsbedarf haben, ist seit Beginn der PM erkennbar: so war schon der erste Patient, den Cicely Saunders, die Gründerin der PM, im palliativmedizinischen Sinn betreute, ein Patient mit fortgeschrittenem Bronchuskarzinom. Obwohl nach und nach klar wurde, dass auch Patienten mit ganz anderen Erkrankungen mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, werden bis heute vor allem Krebspatienten in der PM betreut. Auf österreichischen Palliativstationen, die ja in Akutkrankenhäusern mit einer räumlichen und oft auch organisatorischen Nähe zu onkologischen Einrichtungen verortet sind, liegt ihr Anteil bei ca. 90 %.
Der Palliative Care liegt ein interprofessionelles Betreuungskonzept zugrunde, in dem durch Pflegende, Ärzte, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Psychologen und Seelsorger den mannigfaltigen Bedürfnissen von Krebspatienten entgegengekommen wird. Im Vordergrund der Bemühungen aller Berufsgruppen steht dabei die Linderung von Symp tomen, seien diese körperlich, psychisch sozial oder spirituell. Durch die existenzielle Krise, die mit jeder Krebserkrankung einhergeht, sind alle Symptome durch mehrere Ursachen belegt. Das wiederum erfordert einen multiprofessionelles Therapieansatz.
Während bisher in der Praxis Palliativmedizin häufig erst zum Einsatz kommt, wenn keine gegen den Tumor gerichtete Therapien mehr verfügbar sind, weisen rezente Studien darauf hin, dass ein wesentlich früherer Einsatz der Palliative Care wahrscheinlich sinnvoller und effizienter ist. In einer klinischen Phase-II-Studie wurde schon 20071 nachgewiesen, dass eine von Beginn der Erkrankung zusätzlich „verordnete“ standardisierte Palliative Care prinzipiell machbar ist und von den Patienten gut angenommen wird.
Auf Basis dieser Phase-II-Ergebnisse wurde in den letzten zwei Jahren eine prospektive, kontrollierte randomisierte Phase-III-Studie2 durchgeführt, in der Patienten mit einem Bronchuskarzinom im Stadium IV von onkologischer Seite behandelt wurden, die Hälfte der Patienten aber zusätzlich die bereits in der Phase-II-Studie getestete, standardisierte Palliative Care erhielt. Letztere bestand in zumindest monatlichen Kontakten mit dem Palliative-Care-Team, bei denen nach einem vorgegebenen Protokoll unter anderem das Beschwerdebild erhoben wurde, die Ziele und Wünsche der Patienten besprochen wurden, entsprechende palliativmedizinische Therapien durchgeführt wurden und aus den Gesprächen resultierende Konsequenzen für die onkologische Therapie mit dem behandelnden Onkologen besprochen wurden.
Nicht nur Lebensqualität, auch Überleben verbessert: Dieses palliativmedizinische Maßnahmenpaket bewirkte eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität der Patienten und eine signifikante Verminderung von Depressionssymptomen. Obwohl die derart behandelten Patienten signifikant weniger mit aggressiven Chemotherapien am Lebensende behandelt wurden, war ihre Überlebenszeit nicht kürzer, sondern im Mittel sogar um fast 3 Monate länger (Abb.).
Meilenstein in der Geschichte der Palliativmedizin: Diese Studie zeigt nach allen Kriterien der evidenzbasierten Medizin nicht nur, dass Palliative Care extrem wirksam ist, sondern zeigt auch, wie sie angewendet werden muss: es geht somit nicht mehr um entweder Onkologie oder Palliative Care, sondern um eine gleichzeitige Behandlung durch Onkologen und Palliativmediziner vom Zeitpunkt der Diagnosestellung an. Darüber hinaus widerlegt sie eindrucksvoll die immer wieder geäußerten Bedenken, dass Palliative Care zwar die Lebensqualität erhöht, aber gleichzeitig die Überlebenszeit verkürzen könnte: sie weist eindrucksvoll nach, dass zusätzliche Palliative Care die Lebensqualität wie erwartet erhöht und dabei aber die Überlebenszeit nicht nur nicht verkürzt, sonder sogar signifikant verlängert.
Diese Studie stellt somit die Palliative Care mitten in die evidenzbasierten Maßnahmen der Onkologie und ist somit essenzieller Bestandteil der Therapie des Bronchuskarzinoms. Inwieweit das auch für anderen Krebserkrankungen gilt, ist derzeit noch unklar. Auch der erzielte Überlebensvorteil bedarf noch einer Absicherung durch weitere Studien.
Einer der wesentlichsten Gründe, warum Krebspatienten das Gros der Patienten in palliativmedizinischer Betreuung ausmachen, liegt im Wechselspiel vom Ausmaß der Beschwerden von Krebspatienten und der Intensität des therapeutischen Aufwandes während des oft sehr kurzen Krankheitsverlaufes. So ist der Beginn einer Krebserkrankung oft dadurch gekennzeichnet, dass nur geringste Beschwerden bestehen, hinter denen sich dann eine Krebserkrankung verbirgt, die bei vielen Patienten über kurz oder lang zum Tod führt. Um diese Erkrankung zurückzudrängen und dadurch Überlebenszeit und Lebensqualität zu schaffen, sind meist intensive therapeutische Maßnahmen notwendig, die nicht – wie sonst in der Medizin üblich – in direkter Relation zur Intensität des Beschwerdebild stehen, sondern im Fall einer Krebserkrankung, zur Aggressivität bzw. damit verbundener Prognose des Tumors. Das Zurückdrängen des Tumors, gemessen an seiner Ausdehnung in bildgebenden Verfahren, ist das therapeutische Ziel. Beschwerden, die in dieser Phase ja eher therapieassoziiert als krankheitsassoziiert sind, spielen da eine untergeordnete Rolle, auch in der Wahrnehmung der Patienten. Gelingt ein Zurückdrängen dann nicht (mehr), kommt es zu einer massiven Zunahme der Beschwerden, die dann zum ersten Mal im Krankheitsverlauf direkt tumorassoziierte sind. Genau zu diesem Zeitpunkt, an dem eine Therapie notwendiger denn je ist, erfährt der Patient, dass ihm eine Chemotherapie nicht mehr helfen kann.
Dieses vermeintliche therapeutische Vakuum aufzuheben, in das der Patient dann fällt und das spezifisch für Krebspatienten ist, ist die Hauptaufgabe und Kernkompetenz der PM. Palliativmedizinische Betreuung, vor allem wenn sie von Palliativmedizinern mit onkologischer Grundausbildung (oder alternativ in Kooperation mit Onkologen) durchgeführt wird, bietet sich hier als optimales Betreuungsmodell an. Ein gemeinsames Überweisungsgespräch zwischen Patienten, betreuenden Onkologen und Palliativmedizinern gewährleistet, dass der Hauptfokus der Betreuung – auch in der Wahrnehmung des Patienten – weg von der Antitumortherapie („Tumorbekämpfung“) hin zur Therapie der physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Probleme gerichtet wird. Dies muss nicht notwendigerweise eine völlige Abkehr von allen Antitumormaßnahmen bedeuten, kann ihnen aber einen realistischeren Stellenwert im Gesamtbetreuungspaket zuweisen.
1 Temel et al., J Clin Oncol 2007; 25:2377-82
2 Temel et al., New Engl J Med 2010 Aug 19; 363 (8):733-42