Zumeist lernt man aus forensischen Fällen, die bereits judiziert sind. Heute aber möchte ich aus höchst aktuellem Anlass einen Fall berichten, der sich ereignet hat, aber noch keine gerichtliche Auseinandersetzung begründen konnte. Eine geradezu jungfräuliche Geschichte, die zu jeder Zeit an jedem Ort in Österreich hätte stattfinden können und bei noch ausständiger richterlicher Begutachtung Raum für Spekulationen zulässt. Geradezu alltäglich präsentiert sich hier die allgegenwärtige Problematik in der Schwangerenbetreuung und das hohe Risiko, dem wir in der Praxis nahezu ausgeliefert gegenüberstehen.
Eine 25-Jährige bekommt 2011 ihr fünftes Kind, wegen einer Beckenendlage per sectionem.
Die Schwangerschaft verläuft wie die vorhergehenden ohne Auffälligkeiten. Bei der Übergabe des Kindes an die Hebamme fallen sogleich Fehlbildungen des Beckengürtels und der unteren Extremitäten auf, die sonographisch nicht erkannt wurden. Die Diagnose am Ende der pädiatrischen Durchuntersuchung: kaudales Regressionssyndrom, fehlende Lendenwirbelkörper etc.
Die sich daraus ergebende körperliche Behinderung ist als sehr schwerwiegend zu beurteilen und die Verzweiflung der Eltern verständlicherweise groß.
Patientenanwaltschaft: Die Eltern wenden sich an den Patientenanwalt, der wie folgt im Namen der Betroffenen geradezu stereotyp feststellt: Hätte die Mutter Kenntnis von einem begründeten Verdacht gehabt, dass das Kind eine Fehlbildung haben könnte, hätte sie die Schwangerschaft nicht ausgetragen.
Sie wurde außerdem gar nicht oder nur mangelhaft über die Möglichkeit eines Organscreenings aufgeklärt, ein solches habe es nämlich in dieser Schwangerschaft nicht gegeben. Es wurden ausschließlich die im Mutter-Kind-Pass vorgesehenen sonographischen Untersuchungen sowie eine in der Entbindungsklinik wegen BEL und Sectioplanung durchgeführt.
Die Verteidigung: In zumindest 3 der vorhergehenden 4 Schwangerschaften wurden pränataldiagnostische Untersuchungen inklusive Organscreening der Stufe II durchgeführt, weil diese bei rechtzeitiger Anmeldung zur Geburt im (damals) kostenlosen Leistungsangebot der Entbindungskliniken standen. Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass immer mehr Kliniken das pränataldiagnostische Angebot gekürzt oder gänzlich gestrichen haben Die Lücke wird teilweise durch ein kostenpflichtiges Angebot spezialisierter Einrichtungen geschlossen. Einen Kostenersatz für Pflichtversicherte gibt es derzeit von keiner Seite, die Kosten (150 bis 200 Euro) müssen zur Gänze selbst getragen werden.
Es handelt sich um eine standardisierte Untersuchung, die mehrheitlich empfohlen wird, aber die Entscheidung zur Durchführung obliegt ausschließlich der Schwangeren.
Die betreuenden ÄrztInnen haben die Schwangeren selbstverständlich unabhängig von ihrer persönlichen Einstellung objektiv zu informieren und dies zur eigenen Sicherheit auch zu dokumentieren. Seit einigen Jahren sind dafür vorgesehene Aufklärungsbögen der ÖGUM/ÖGGG/BÖG im Einsatz und werden zur Unterschrift vorgelegt. Im konkreten Fall wurde der Aufklärungsbogen auch unterschrieben, also bestätigt, dass die im MKP enthaltenen Untersuchungen als ausreichend angesehen und keine weiteren gewünscht wurden, also auch keine optionalen in der Ordination. Mit Signatur wurde auch bestätigt, verstanden zu haben, dass sich die 2 Sonographie-Untersuchungen im MKP nicht dafür eignen, Fehlbildungen zu erkennen. Dieses Procedere hat die Klagende mehrmals durchlaufen, in zumindest 3 der 5 Schwangerschaften (eine SS wurde erst in der 20. SSW festgestellt, in der ersten SS war sie minderjährig). Ein Organscreening der Stufe II ist so eindrucksvoll, dass es wohl schwer fallen sollte, zu behaupten, das Ziel dieser Untersuchung nicht verstanden zu haben. Darüber hinaus enthält der Regeltext eines Stufe-II-Befundes eindeutige Passagen zum Thema Behinderung/Fehlbildung.
Die Klagende wurde in besagter SS gleich nach Ausstellung des Mutter-Kind-Passes (in der 7. SSW) zur Geburtsanmeldung und NT-Messung (soweit auch in der Kartei dokumentiert) ins Krankenhaus überwiesen. Dort entscheidet sich dann üblicherweise, ob die Untersuchung durchgeführt werden kann oder nicht. Wie bereits erwähnt, existieren derzeit in Wien sehr uneinheitliche Regelungen. Einige Abteilungen haben gar kein Angebot, einige ein kontingentiertes, einige machen NT, aber kein Organscreening, einige machen es von der frühzeitigen Anmeldung abhängig – und streng genommen sind die Vorgehensweisen nicht in Stein gemeißelt, sodass Abweichungen im Procedere immer möglich sind.
Als niedergelassener Facharzt hat man schon Mühe, den Überblick zu behalten, jedenfalls hat es sich bewährt, Schwangere darüber zu informieren, wer was anbietet oder zumindest zu beauftragen, selbst Erkundigungen einzuholen.
Derzeit spricht vieles dagegen, dass ein gekürztes Leistungsangebot zu einem dramatischen Geburtenrückgang an den Abteilungen ohne Pränataldiagnostik führt. Das bedeutet möglicherweise, dass der Wunsch nach ordentlicher Abklärung bei den Betroffenen weniger stark ausgeprägt ist und andere Kriterien bei der Wahl der Entbindungsklinik wichtiger sind.
Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass nur ein Drittel der Schwangeren in Wien ein kostenloses Stufe-II-Screening bekommt, zwei Drittel haben nur den hochschwelligen Zugang über Privatinstitute, davon wiederum entscheidet die Mehrheit, diese Leistung nicht privat „einzukaufen“.
Wenn sie jetzt die Fakten kennen, werden sie sich vermutlich zwei Dinge fragen: Wo bleibt die Eigenverantwortung der Schwangeren und was darf als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden? Die Beantwortung dieser Fragen stand in der Vergangenheit selten im Fokus (auch das Salzburger OGH-Urteil JJT/20060307 konnte diese Frage nicht beantworten und hat dies zur weiteren Klärung an das Erstgericht zurückgespielt), weshalb ich mich gerade hiezu äußern möchte.
Wie uninformiert darf man sich als Patient zeigen, ohne Gefahr zu laufen, für unmündig erklärt zu werden? Wissen zu erwerben ist in vielen Bereichen des Lebens Bürgerpflicht, man denke an den Satz: „Unwissenheit schützt nicht vor dem Gesetz.“ Keinesfalls darf es jemals zu einer Aufklärungsverweigerung kommen, aber liegt es nicht in der Verantwortung eines Patienten, sich jene Informationen aktiv einzuholen, die er/sie benötigt, um eigene Vorstellungen zu erfüllen, gerade wenn es sich um Vorsorgeuntersuchungen handelt?
Es liegt in der Natur einer Vorsorgeuntersuchung Umstände zu erkennen, die ein rechtzeitiges Handeln ermöglichen, um größeren Schaden (sekundäre Prävention) oder jeglichen Schaden (primäre Prävention) abzuwenden. Im Falle des Organscreenings geht es selten um therapeutische Optionen und Behandlungsverzögerung, sondern vielmehr um die Entscheidung für oder gegen die Schwangerschaft. Man müsste das stereotype Vorbringen: „Wenn ich gewusst hätte, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Behinderung besteht, dann hätte ich die Schwangerschaft keinesfalls ausgetragen“ geradezu so interpretieren, dass die Schwangere eine klare Vorstellung davon hat, „was wäre wenn“, und deshalb eine besondere Verpflichtung hätte, „alles zu tun“, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Angesichts so konkreter Vorstellungen muss sich eine Schwangere schon in der Schwangerschaft, wenn nicht sogar vor der SS mit dem Gedanken einer möglichen Behinderung auseinandersetzen. Die Verdrängung solcher Vorstellungen ist zwar verständlich, kann aber nicht dem Arzt angelastet werden.
Die Möglichkeit einer Behinderung scheint also unbestritten zum Allgemeinwissen zu gehören, gilt das auch für eine Untersuchung, die seit 20 Jahren durchgeführt wird und im konkreten Fall bei unserer Patientin auch Teil vorhergehender Erfahrungen war?
Aufklärungspflicht im nicht-kurativen Bereich als grenzenlose Bringschuld der ÄrztInnen zu sehen halte ich für eine fatale Entwicklung. Denken wir an Impfungen, über die wir nicht gesprochen, an Mammographien, die wir nicht förmlich aufgedrängt und jährliche Ganzkörperscans, die wir nicht ausdrücklich empfohlen haben!