Grenzerfahrungen, Verunsicherungen und Fortschritt, die uns vor neue Entscheidungssituationen stellen, bringen Krisen mit sich. Die Ethik selbst ist ein solches Krisenphänomen. Dies soll an drei Gedankenschritten illustriert werden:
Ethik ist als eigenständige philosophische Disziplin von Aris – toteles am Vorabend des Untergangs der ersten Demokratie der Welt in seiner Heimatstadt Athen etabliert worden, als die moralische Krise in diesem Gemeinwesen auf den Untergang zusteuerte. Unter Moral verstehe ich jenes Insgesamt von Einstellungen, Haltungen und Regeln, aus denen heraus wir faktisch, meist ohne viel Nachdenken, routinehaft handeln. Ethik als grundsätzliches Nachdenken über Moral, ist immer dann gefragt, wenn die Moral in die Krise kommt. Ethik ist dann die Theorie der Moral und muss bisweilen geradezu vor Moral warnen.
Krisen der Moral haben vielfache Ursachen:
Ethik als normative, philosophische oder theologische Lehre von den menschlichen Handlungen und Haltungen, insofern diese unter der Differenz von Gut und Böse, menschlich richtig oder falsch bewertet werden, war zunächst an den Universitäten als eigenes Fach in verschiedenen Lehrstühlen institutionalisiert. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Ethik darüber hinaus in multidisziplinären Ethikkommissionen institutionalisiert und zwar in verschiedenen Typen:
Fast alle Mitgliedsstaaten der EU haben nationale Ethikkommissionen oder ähnliche Einrichtungen. In Österreich gibt es die Ethikkommission beim Bundeskanzleramt seit 2001. Die Mitglieder werden persönlich vom Bundeskanzler jeweils auf 2 Jahre ernannt.
Ethik reagiert auf Krisenphänomene der Moral und die Ins – titutionalisierung von Ethikkommissionen zeigt vermutlich eine besondere Krise der Moral an. Doch was kann die Ethik und was kann sie nicht? Sie kann zunächst keine Patentlösungen für schwierige Entscheidungs- und Bewertungsfragen aus dem Ärmel schütteln. Sie kann auch dem Forscher oder Arzt nicht seine Verantwortung abnehmen. Sehr wohl aber kann sie auf klare Begriffe, auf systematisch kohärente Gedankenführung drängen und wichtige Grundsätze und Methoden zur Bildung ethischer Urteile erarbeiten.
Eine große, aber nicht unproblematische Verbreitung für die Arbeit in all den verschiedenen Typen von Ethikkommissionen hat die an der Georgetown-Universität in Washington entwickelte Richtung des so genannten „Principlism“ gefunden: T. Beauchamp und J. Childress haben aus den verschiedenen Ethikrichtungen und Traditionen vier zweifellos wichtige Gesichtspunkte medizinischen Handelns zusammenaddiert und zu Prinzipien erklärt:
Man hoffte, auf diese Weise allen Traditionen gerecht zu werden und weltanschauliche und metaphysische Hintergrundannahmen auszuschalten.
Diese Vorgangsweise ist aber nicht unproblematisch: Zunächst haben sich Begriffe wie z. B. Autonomie gewandelt. Verstanden die europäische Aufklärung und vor allem Immanuel Kant darunter die sittliche Selbstverpflichtung des Menschen unter einem, wenn auch formalen Gesetz des kategorischen Imperativs, so wandelte sich dieser Begriff immer mehr zu einem individualistischen Anspruchsprinzip, das zunehmend zu einer wunscherfüllenden Medizin führt. Im Extremfall lautet dann das Motto: „Sie wünschen, wir töten“.
Hinzu kommt, dass diese so genannten Prinzipien im konkreten Entscheidungsfall durchaus miteinander in Konkurrenz oder gar Widerspruch treten können. Welches Prinzip hat nun den Vorrang? Bei der Lösung dieser Frage kommen dann durchaus die ausgeblendeten Hintergrundannahmen (in diesem Sinn metaphysischen Annahmen) durch die Hintertür wieder herein.
Die europäische Ethiktradition geht von dem Grundprinzip der Menschenwürde aus und versteht Prinzipien wie Autonomie, Fürsorge, Solidarität, Vorsicht, Gleichheit und Gerechtigkeit etc. als aus diesem Grundsatz der Menschenwürde abgeleitete Prinzipien. Signifikant für die europäische Ethiktradition ist die völkerrechtlich verbindliche und einklagbare Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenwürde und Menschenrechte im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (Oviedo, 1997). Aus dieser Menschenrechtskonvention leiten sich u. a. folgende Prinzipien ab:
Das bisher Gesagte mag für viele plausibel klingen. Die Prob – leme beginnen allerdings mit der Interpretation der ethischen Prinzipien und setzen sich fort bei der Anwendung dieser Prinzipien auf den Patienten. Wer ist dieser Patient? Wie werde ich ihm gerecht? Diese Fragen führen nun zum dritten Punkt.
Drei solcher Zwickmühlen, wenn es um konkrete Anwendung der Prinzipien geht, sollen genannt werden:
Mit den beiden geläufigen Schlagworten „Salus aegroti suprema lex“ (das Wohl des Patienten ist der oberste Gesichtspunkt ärztlichen Handelns) und „Voluntas aegroti suprema lex“ (der gerade geäußerte Wunsch des Patienten ist der höchste Gesichtspunkt) lässt sich die erste Zwickmühle beschreiben. Dieses Dilemma wird in analoger Weise auch unter den Begriffen Paternalismus bzw. Autonomie des Patienten diskutiert. Wenn nur mehr der Wille des Patienten maßgebend ist, dann verändert sich auch das Arzt-Patienten- Verhältnis. Beide werden dann zu reinen Geschäftspartnern. Wenn die Medizin keine medizinischen Ziele und medizinischen Indikationen zum Wohl des Patienten mehr hat, wird Medizin zur reinen Ware, die man sich beliebig zu Diensten machen und für beliebige Zwecke funktionalisieren kann. Solche Tendenzen zeigen sich zum Beispiel im Bereich der Schönheitschirurgie.
Als weiteres Beispiel nenne ich die Stellungnahme eines nationalen Ethikkomitees, nämlich, dass man sich palliative Sedierung und Absetzung von Nahrung und Flüssigkeitszufuhr wünschen kann, auch ohne ausdrückliche medizinische Indikation. Auf diese Weise kann man sich vom Arzt, wie von einem Geschäftspartner, die Lebensbeendigung erwirken, ohne dass das Wort Euthanasie fällt. Dies wäre ein Extremfall einer reinen wunscherfüllenden Medizin, die den Arzt zum Handlanger des Wunsches des „Geschäftspartners Patient“ macht.
Wer den Menschen aber nur unter dem Aspekt seiner Willensäußerungen in den Blick nimmt, bringt eine Spaltung in das Menschsein. Reduktionistische Menschenbilder führen immer zu Spaltungen des Menschseins. Im Umkreis des australischen Ethikers Peter Singer vertreten manche die Auffassung, dass Menschsein und Personsein getrennt gesehen werden müssen: Nicht alle Menschen sind Personen, sondern nur solche, die bestimmte Eigenschaften geistiger und kommunikativer Art aufweisen. Diese Spielart des Utilitarismus macht das Personsein an der Fähigkeit, Interessen zu haben und zu zeigen, fest. Eine solche Position verkennt die Tatsache, dass Personsein keine Eigenschaft unter anderen ist, sondern diese Eigenschaften immer Eigenschaften einer Person sind. Die Frage, wer das ist, der diese Eigenschaften hat, darf nicht verdrängt werden, sondern ist und bleibt die zentrale Frage. Der Patient ist auch in reduziertem Bewusstseinszustand Person und als solche zu würdigen. Das aber bedeutet, dass grundlegend das Wohl des Patienten zu achten ist. Das grundlegende Gut ist aber immer zuerst zu verwirklichen.
Als Beispiel für eine solche Balancesuche zwischen Wohl und Willen des Patienten mag das österreichische Patientenverfügungsgesetz (abgekürzt PatVG) vom 8. Mai 2006 dienen, das gewährleisten will, dass der Arzt den Patienten in schwierigen Entscheidungssituationen nicht sein eigenes Wertesystem aufzwingt, sondern das Wertesystem des Patienten ernst genommen wird.
In der Spannung zwischen einem Verständnis der Medizin als Naturwissenschaft und der Medizin als Kunst, medizinisches Wissen und Können persongerecht anzuwenden, besteht eine zweite Zwickmühle. Schon Aristoteles – Sohn eines Arztes – hat in seiner Metaphysik damals die auch heute aktuelle Einsicht formuliert, dass Medizin Wissenschaft und Kunst gleichermaßen sein soll. Ein Arzt, der nur auf die Statis – tiken und Kurven medizinischer Forschungsergebnisse schaut und nicht mehr den Patienten anschaut oder mit ihm spricht (missverstanden als Evidence-based Medicine), atmet gleichsam nur mit einem Lungenflügel. Krank ist ja nie die Krankheit, sondern immer die Person.
Aus den verschiedenen und zum Teil problematischen oder gar gegensätzlichen Erwartungshaltungen, die an den Arzt herangetragen werden, resultiert eine dritte Zwickmühle. Mediale Berichte erzeugen mit ihren Ankündigungen neuer Forschungsergebnisse, die oft noch gar nicht abgeschlossen sind, verfrühte oder illusionäre Erwartungshaltungen – auf Neudeutsch so genannte „hypes“. So gerät der Arzt bisweilen in die Zwickmühle überzogener und unrealistischer Ansprüche des Internet-halbgebildeten Patienten einerseits und Rahmenbedingungen (z. B. vorgegeben durch die Krankenkassen) andererseits. Der Arzt spielt bei der Zuteilung gesundheitsbezogener Leistungen eine wichtige Rolle. Die Verteilungsfragen stellen sich aber auf verschiedenen Ebenen, die alle ihre ethischen Implikationen bei der gerechten Verteilung und Prioritätensetzung haben.
SCHLUSSBEMERKUNG: Als Ethiker leitet mich die Überzeugung, dass das ethisch Richtige sich langfristig und aufs Ganze gesehen auch als das medizinisch Nützliche, sozial Verträgliche und im Solidarsystem eher Finanzierbare erweisen wird. Ich verkenne als Realist nicht die Tatsache, dass sich einzelne Forscher, Firmen, ja ganze Länder einen Wettbewerbsvorteil durch ethisch problematische Vorgangsweisen verschaffen wollen. Als menschlich zukunftsfähig wird sich das allerdings nicht erweisen. Am Ende meiner Ausführungen erspare ich ihnen nicht die Mühe, sich selbst das Urteil zu bilden, ob Ethik in der Medizin ein tradierter Ballast oder vielmehr eine Notwendigkeit ist.
1 Auszug aus dem Festvortrag, gehalten anlässlich des Urologenkongresses, 20. 3. 2010, Bad Hofgastein
*Die EGE hat ein Mandat der Europäischen Kommission und berät diese in ethischen Fragen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technologie.