Tumortherapie bei älteren PatientInnen

Welcher Tumorpatient ist alt?

Die Breast International Group (BIG) befragte ihre Mitglieder, welchen Grenzwert sie anwenden würden, um PatientInnen als alt zu charakterisieren. 57 % gaben an, dass es möglicherweise sinnvoll ist, einen oberen Altersgrenzwert zu definieren, wobei 28 % von einem Lebensalter von 70 Jahren ausgingen, 21 % von 75 Jahren und 8 % von 80 Jahren. Ein weiteres Ergebnis der Umfrage war, dass nur in 2 % der onkologischen Zentren eine etablierte Zusammenarbeit zwischen Onkologen und Geriatern existiert. Einig war man sich darüber, dass einerseits das biologische Alter und andererseits die biologischen Charakteristika der onkologischen Erkrankung die wichtigsten Kriterien für die Therapieentscheidung sind. Allerdings beeinflusst für 96 % der Befragten tatsächlich das Lebensalter die Empfehlung auch nach Adjustierung für den Gesundheitsstatus. Je älter, umso mehr variiert die Therapieentscheidung.

Das Lebensalter allein sollte die Therapie nicht bestimmen: Retrospektive Analysen weisen darauf hin, dass ältere PatientInnen, die im Rahmen kontrollierter klinischer Studien behandelt werden und „fit“ sind, die Standardtherapien genauso gut vertragen und prognostisch davon profitieren wie jüngere PatientInnen. Offensichtlich ist das Lebensalter per se kein Risikofaktor. Für das individuelle Risiko-Be nefit-Profil ist also vor allem das biologische Alter inkl. vorhandener Komorbiditäten entscheidend, wobei sich Letzteres durch ein systematisches geriatrisches Assessment, das auf standardisierten validierten Meßinstrumenten basiert, ermitteln lässt.

Geriatrisches Assessment: körperlich und mental

Das geriatrische Assessment hat zu nächst diagnostische Bedeutung. Es soll in einem ersten Schritt die medizinisch „fitten“ PatientInnen von jenen unterscheiden, die klinisch relevante Einschränkungen aufweisen und eine Therapiemodifikation benötigen (Tab.).

 

 

  • Die „fitten“ älteren PatientInnen („Go go“) können wie die jün geren PatientInnen eine etablierte Standardtherapie erhalten.

Liegen klinisch relevante Einschränkungen vor, so bietet das weiterführende „Comprehensive Geriatric Assessment“ (CGA) eine wichtige Unterstützung, um einen individuellen Behandlungsplan erstellen zu können. Das CGA ermöglicht es, gesundheitliche Probleme zu erkennen, die mit einem erhöhten therapiebedingten Nebenwirkungsrisiko einhergehen und den Therapieerfolg schmälern können:

  • PatientInnen mit leichteren, klinisch relevanten Einschränkungen („Slow go“) erhalten eine modifizierte – weniger belastende – Therapie mit dem Ziel, die Tumorerkrankung zurückzudrängen, ohne therapiebedingte Einschränkungen in Kauf zu nehmen.
  • PatientInnen mit erheblichen Einschränkungen („No go“) erhalten eine primär an den Krankheitssymptomen orientierte, palliative Behandlung.

Die Einteilung der PatientInnen in diese 3 Gruppen basiert auf ihrem funktionellen Status und daraus abgeleiteten definierten Therapiezielen (Tab.). Zusätzlich zum körperlichen Status werden die mentale und emotionale Verfassung, die soziale Eingliederung und Unterstützung, der Ernährungszustand, die Lebenserwartung, geriatrische Syndrome und eine möglicherweise vorliegende Polypharmazie validiert. Neben den Komorbiditäten sind insbesondere auch altersbedingte, physiologische Veränderungen zu erfassen, da sich diese möglicherweise ungünstig auf die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik der Medikamente auswirken.

Geriatrisches Assessment in der Onkologie

Parallel zur Erfassung der prognostischen Parameter der Krebserkrankung (z. B. Staging) wird bei älteren PatientInnen mit Krebserkrankung ein zusätzliches geriatrisches Assessment empfohlen, um die im Alter auftretenden Veränderungen zu erkennen. Die Datenlage spricht dafür, dass bei Erhebung des geriatrischen Assessments ein zweistufiges Vorgehen möglich ist, bei dem zunächst jene PatientInnen identifiziert werden, die keine Einschränkungen aufweisen, und nur die PatientInnen mit Defiziten ein detailliertes Assessment erhalten.

Funktioneller Status: Traditionell wird in der Onkologie der funktionelle Status anhand des 1948 von David Karnofsky publizierten Index bestimmt. Dieser Index ist ein validiertes Instrument und der Bestimmung des WHO- oder des ECOGPerformance- Status gleichwertig.

Demenz: Die Kenntnis der kognitiven Situation ist im Rahmen der onkologischen Therapie von herausragender Bedeutung, um über die Fähigkeit zur Einwilligung in die Therapie und die Möglichkeit zur Compliance im Rahmen der oft komplexen Therapie zu entscheiden.

Depression: Ein besonderes Problem bei älteren TumorpatientInnen ist das Vorliegen von Depressionen. Diese haben sich z. B. bei Ovarialkarzinom-Patientinnen im Alter von über 70 Jahren neben dem Stadium als unabhängiger Prädiktor erwiesen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Symptome der Krebserkrankung und der Depression wie z. B. Gewichtsverlust, Müdigkeit, Appetitlosigkeit durchaus ident sein können.

Mobilität: Ein wesentlicher Parameter zur ärztlichen Einschätzung der therapeutischen Belastung von älteren TumorpatientInnen ist der Einfluss der Erkrankung auf die Mobilität.

Soziale Situation: Soziale Unterstützung kann ein für das Überleben prognostisch relevanter Parameter sein.

Komorbiditäten: Die Häufigkeit von Komorbiditäten zeigt einen deutlichen altersabhängigen Anstieg. Die Bedeutung der systematischen Erfassung von Komorbiditäten liegt zum einen in der Notwendigkeit der Abschätzung der Prognose und zum anderen in der Risikoabschätzung, d. h. ob eine onkologischmedikamentöse Therapie ohne erhöhte Komplikationsrate durchgeführt werden kann.

ZUSAMMENFASSEND kann festgestellt werden, dass es eine vordringliche Aufgabe sein wird, evidenzbasierte Therapieempfehlungen für ältere PatientInnen zu entwickeln, die sich nicht am chronologischen, sondern am biologischen Alter orientieren. Es gilt im Einzelfall eine adäquate Balance zwischen Lebenserwartung, Therapiebenefit und Therapierisiken zu finden, um eine Über-, aber auch Untertherapie älterer TumorpatientInnen zu vermeiden.