Vermeidbares Leid

Im Jahre 2019 wurden in Österreich 83.386 Todesfälle verzeichnet, bei 38,55 % (32.148 Personen) waren Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems die Todesursache, bei 24,65 % (20.554 Personen) bösartige Neubildungen (Abb. 1).

 

 

Populations-attributable Risikofraktionen (PAF)

Von Arbeitsgruppen des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg wurde den wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren für Krebserkrankungen nachgegangen. Die Autoren nutzten dazu das Konzept der Populations-attributablen Risikofaktoren. Dieser Fachbegriff stammt aus der Epidemiologie und gibt jenen Prozentsatz an, um den – durch Ausschaltung eines speziellen Risikofaktors – die Häufigkeit einer speziellen Krankheit in einer Population abnehmen würde. Im Gegensatz zum relativen Risiko (RR) beziehen PAF die Häufigkeit einer Erkrankung mit ein, sie hängen also wesentlich von der Zahl der risikoexponierten Personen in der Bevölkerung ab, vom Ausmaß der Risikoerhöhung für die Zielkrankheit durch den speziellen Risikofaktor und von der absoluten Häufigkeit der Krebserkrankung.Von den Autoren wurden in ihren Zusammenstellungen die wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren und die damit verbundenen Krebsformen identifiziert, um die dazugehörigen PAF, also die Zahl der vermeidbaren Krebserkrankungen zu bestimmen (Abb. 2).

 

 

Modifizierbare Krebs-Risikofaktoren

Übergewicht/Adipositas, körperliche Inaktivität und ungesunde Ernährung:1 Übergewicht und Adipositas spielen nicht nur in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine wichtige Rolle, sondern auch für Krebserkrankungen. Die Statistik Austria weist in diesem Kontext 3,4 Mio. Österreicherinnen und Österreicher als übergewichtig bzw. adipös aus; 32 % bzw. 14 % der Bevölkerung haben demnach einen Body-Mass-Index von über 25 bzw. über 30.

Entsprechend der hohen Prävalenz von Übergewicht und vor allem auch körperlicher Inaktivität ist laut Autoren davon auszugehen, dass insgesamt etwa 15 % der Krebsfälle auf diese beiden Faktoren zurückzuführen sind (6,9 % auf einen BMI > 25, 6,1 % auf Inaktivität). Zu den potenziellen biologischen Mechanismen, die für einen kausalen Zusammenhang zwischen überschüssigem Körperfett und der Entstehung von Krebs sprechen, gehören u. a. Insulinresistenz und chronische Entzündungen. Körperliche Aktivität würde durch Abbau von adipösem Gewebe und Verringerung der Insulinresistenz zur Krebsprävention beitragen sowie durch Reduktion von chronischen Entzündungen zur Abnahme von oxidativem Stress und somit zur Verringerung der DNA-Schäden.

Eine etwas geringere Zahl an Krebsfällen ist durch eine zu niedrige Ballaststoffzufuhr (3 %), eine zu geringe Konsumation von Obst und nicht-stärkehaltigem Gemüse (2 %) bzw. durch den Verzehr von Wurstwaren (2 %) bedingt (insgesamt also 7 %). Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen demnach, dass potenziell beeinflussbare Lebensstilfaktoren wie Übergewicht, körperliche Inaktivität und ungesunde Ernährung in beträchtlichem Umfang zur Entstehung von Krebserkrankungen beitragen können.

Tabak und Alkohol:2 Wesentlich dramatischer ist der Einfluss von Rauchen und hohem Alkoholkonsum auf die Krebsentstehung. Bereits im Jahre 1964 erkannten die Gesundheitsbehörden in den USA, dass Rauchen eine kausale Ursache für Lungen- und Kehlkopfkrebs ist, seither gibt es auch zahlreiche Belege für einen Zusammenhang zwischen Rauchen und weiteren 12 Krebserkrankungen. Insgesamt sind entsprechend den Autoren etwa 19,3 % der Krebserkrankungen unmittelbar dem Rauchen zuzuschreiben; Passivrauchen wurde in der Arbeit gar nicht berücksichtigt!

Alkoholismus wurde im Jahre 1988 von der International Agency for Research on Cancer (IARC) als krebserzeugend eingestuft. Er ist kausal ein Risikofaktor für 6 Krebserkrankungen, geschätzte 2 % aller Krebserkrankungen sind auf zu hohen Alkoholkonsum zurückzuführen. Als Richtwert für den durchschnittlichen Konsum von reinem Alkohol werden von den Autoren für Männer 24,6 g/d und für Frauen 20,2 g/d angegeben (in einem Standardglas – 1 kleines Bier bzw. 1 Achtel Wein bzw. 1 Glas Sekt bzw. 3 cl. Schnaps – sind zwischen 10 und 12 g Alkohol enthalten). Im Übrigen steht fest, dass es in Bezug auf die Risikoerhöhung synergistische Interaktionen zwischen Rauchen und Alkoholkonsum gibt, diese wurden in den Studien allerdings nicht berücksichtigt.

Infektionen und bestimmte Umweltfaktoren:3 Schätzungsweise 4 % aller Krebsfälle sind durch Infektionen bedingt, etwa 2/3 der Fälle gehen auf Infektionen mit Helicobacter pylori bzw. dem humanen Papillomavirus zurück. Leberzellkarzinome als Folge von Hepatitis B und Hepatitis C sind lt. Literatur für knapp ein Viertel aller infektionsbedingten Krebsfälle verantwortlich (Abb. 3).
Der Anteil an Krebsfällen, die auf bestimmte Umweltfaktoren zurückzuführen sind, liegt entsprechend der Recherche der Autoren bei mind. 1,2 %, vermutlich ist die Zahl jedoch deutlich höher.

 

 

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,

die zitierten Arbeiten gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Krebserkrankungen durch Veränderung des Lebensstils vermeidbar wäre (Abb. 2). Diese Quantifizierung kann es der Gesundheitspolitik erleichtern, Prioritäten zu setzen, wobei neben Anstrengungen in Richtung Primär- und Sekundärprävention auch der sog. Primordialprävention Bedeutung zukommt. Unter Primordialprävention ist die Reduktion von gesellschaftlichen Risikofaktoren, die zu einem erhöhten Krankheitsrisiko beitragen, gemeint, wie z. B. Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen, Jodzusatz zu Speisesalz, Verminderung der Luftverschmutzung, nationale Ernährungsstrategien mit Einbeziehung der Nahrungsmittelindustrie, die Förderung von regelmäßiger Bewegung (v. a. in Schulen) und nicht zuletzt auch von Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die Primordialprävention verfolgt also das Ziel einer Veränderung von gesellschaftlichen Risikofaktoren, wobei das Bemühen um einen gesunden Lebensstil und die Schaffung von gesundheitsfördernden Lebensumgebungen im Vordergrund stehen. Das individuelle Risiko, an Krebs zu erkranken, lässt sich zwar nicht vorhersehen – genetische Faktoren spielen sicherlich eine wichtige Rolle –, doch die Reduktion bekannter Risikofaktoren hätte zweifellos eine deutliche Abnahme der Krebsinzidenz zur Folge.


  1. Behrens G. et al., Deutsches Ärzteblatt, Jg. 115, Heft 35–36, 3. 9. 2018
  2. Mons U. et al., Deutsches Ärzteblatt, Jg. 115, Heft 35–36, 3. 9. 2018
  3. Gredner T. et al., Deutsches Ärzteblatt, Jg. 115, Heft 35–36, 3. 9. 2018