Jedes Leben höherer Lebensformen, auch wenn wir uns hier nur auf den Menschen beschränken, beginnt mit einer massiven Zellteilung. Diese führt zu einem Wachstum. Zusätzlich erfolgt das Wachstum nach einem genauen dreidimensionalen (Bau-)Plan. Dieser Plan zieht sich über eine vorbestimmte Zeit hin. Beim Menschen nennt sich das einfach Embryogenese. Diese könnte man auch noch in unterschiedliche Wachstumsphasen einteilen. Je nach Wachstumsphase werden unterschiedliche Organe angelegt. In der verbleibenden Zeit bis zur Geburt kommt es zu weiterer Ausreifung und vor allem zum Wachstum des Embryos. Das alles klingt sehr vertraut. Doch was man tatsächlich darüber weiß – oder bis vor Kurzem darüber wusste –, ist: gar nichts. Fernab allen religiösen oder philosophischen Spekulierens war das Heranwachsen eines Lebewesens oder Menschen ein Rätsel oder Wunder, je nachdem ob man es wissenschaftlich oder philosophisch betrachten möchte. Morphologische Studien hielten sich mit Fehl-, Tot- und Missgeburten auf. Es gab Studien an Vogeleiern, die über Wachstum Aufschluss gaben. Es gab die abenteuerlichsten Theorien, wie zum Beispiel, dass der Mensch von Anfang an schon als kleiner Mensch („Homunculus“) bereits im Mutterleib angelegt wäre und nur noch bis zur Geburt an Größe gewinnen müsste. Jedoch blieben die treibenden Kräfte, die hinter dem Wachstum standen und die die Richtung angeben, verborgen.
Erst in unserer Zeit ist es gelungen, Licht in diese Abläufe zu bringen. Hier sind vor allen Dingen zwei Entdeckungen zu nennen: das eine ist die Entdeckung der für die Organanlegung und Richtung des Wachstums bestimmenden Faktoren. Dies begann mit der Entdeckung der entsprechenden Gene durch Nüsslein-Volhard und Wieschaus1. Hierzu wurden Fliegenexperimente herangezogen. Diese Gene sind, wie sich später herausstellte, auch von großer Bedeutung für die Stammzellen im erwachsenen Organismus. Das andere war die zunehmende Einsicht, dass zur Entstehung und im späteren Leben zur Erhaltung von Organen Stammzellen zeitlebens notwendig sind.
In allen Organen und zeitlebens: Bis vor Kurzem wurde noch zwischen so genanntem Regenerationsgewebe und normalen Organen unterschieden. Zum Regenerationsgewebe gehören die Organe, die ständiges Nachwachsen ihrer Zellen erfordern, die vor allem durch Abnützung oder sich nach Verletzungen schnell wieder neu bilden können müssen. Diese sind vor allem das Blut, die Schleimhäute und die Haut mit ihren Anhangsgebilden. Hier teilen sich die Zellen kontinuierlich und haben einen hohen Turnover, sodass es immer einen hohen Anteil von Zellen gibt, die sich gerade bei der Zellteilung befinden. Daher sind diese Organe sehr empfindlich auf Chemotherapie. Denn Chemotherapie trifft und tötet die Zellen, die sich gerade teilen. Dieser Effekt ist verantwortlich für die nur allzu bekannten und gefürchteten Nebenwirkungen von Chemotherapie wie gastrointestinalen Beschwerden (Schleimhaut), Haarausfall (Haut) und Infektionen (Blut). Mittlerweile weiß man jedoch, dass sich auch in den restlichen Organen, die keiner Abnützung oder normalerweise keinen Verletzungen ausgesetzt sind, sich zeitlebens Stammzellen befinden und auch zeitlebens aktiv an der Organerhaltung und teils auch Neustrukturierung beteiligt sind. Für beides und vor allem auch das Letztere kann ein Organ als Beispiel genannt werden, das früher immer als Paradebeispiel für das Gegenteil gegolten hat, nämlich das Gehirn. Beim Gehirn ging man wie beim gesamten Nervengewebe davon aus, dass sich keine Zellen mehr teilen und dass es sich auch nicht regenerieren oder neu bilden kann. Im Gegensatz dazu gibt es heute Hinweise darauf, dass sich erstens aktive Stammzellen im Bereich des Hippocampus beim Erwachsenen befinden und zweitens diese Stammzellen und auch das Neuknüpfen von Verbindungen zwischen den Nervenzellen untereinander für das Lernen und Gedächtnis zeitlebens essenziell sind. Eine Mittelstellung zwischen Nervengewebe und Regenerationsgewebe nehmen Organe wie die Leber oder Muskeln ein, die sich bei Bedarf wieder vergrößern können. Ob dies die Arbeit klassischer Stammzellen ist, bleibt jedoch umstritten. Es könnte sich hier auch um eine reine Vergrößerung von vorhandenen Zellen (Muskel), minderwertigem Ersatzgewebe (Herzmuskel) oder auch nur das Werk von bereits teilweise differenzierten Zellen (Leber) handeln.
In dieses ganze Konvolut von unterschiedlichen Stammzellen fallen nun auch noch die so genanntenTumorstammzellen. Inwiefern sie noch den klassischen Stammzellen wie den Blutstammzellen oder den Stammzellen bei der Embryogenese entsprechen, ist unklar. Klar hingegen ist ihre Ähnlichkeit. Diese wird durch zwei Entdeckungen verdeutlicht.
Ähnlichkeiten zur Organogenese: Zum einen fand sich der im historischen Verlauf erste Hinweis für eine Ähnlichkeit von Tumoren und Stammzellen oder der Embryogenese beim so genannten Teratom. Das ist ein Tumor, der im erwachsenen Körper durch verstreute embryonale Stammzellen entsteht und sich aus unterschiedlichen Gewebsarten zusammensetzen kann. Zweitens begann die Entdeckung von Tumorstammzellen im typischen Regenerationsgewebe des Blutes 1997 durch Bonnet et al.2 Die Autoren zeigten, dass sich die akuten myeloischen Leuk ämien aus unterschiedlichen Zellen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und prozentualem Anteil im Sinne einer Hierarchie zusammensetzen. Diese spiegelt die Unterschiede und die Zellhierarchie in der normalen Blutbildung (Hämatopoese) wider. Daher gilt die akute myeloische Leukämie als Paradebeispiel für Tumorstammzellen. In der Folge kam es zu der Entdeckung von Tumorstammzellen in den Tumoren anderer Gewebe. Inwieweit auch sie dem klassischen Modell einer Stammzelle und der Zellhierarchie in Organen entsprechen, ist noch Gegenstand der Forschung. In manchen Tumoren wie dem Melanom gibt es Schwierigkeiten, dieses Modell zu übertragen. Dennoch sprechen inzwischen viele von Tumoren als eine fehlgeleitete Organogenese. Da niemand weiß, weshalb es Tumoren gibt oder welche Funktion sie haben, sollte man sich mit dem Wort Organogenese zurückhalten. Jedoch ist es unbestreitbar, dass Tumorstammzellen und normale Stammzellen viele Ähnlichkeiten besitzen. Das gilt schon grundsätzlich, da auch Tumorstammzellen die für die Definition von Stammzellen erforderlichen Kriterien erfüllen, als da wären:
Zusätzlich zu diesen Ähnlichkeiten zur Organogenese gibt es jedoch auch Ähnlichkeiten, die sich auf den ersten Blick und aus der Morphologie heraus nicht gleich ergeben. Das sind die inneren molekularbiologischen und genetischen Ähnlichkeiten, die normale Stammzellen und Tumorstammzellen aufweisen.
Verwendung der gleichen essenziellen molekularbiologischen Pathways: Wie oben bereits erwähnt, konnten seit den 1980er-Jahren bestimmte Gene und molekularbiologische Signalwege identifiziert werden, die für normale Stammzellen sowohl in der Embryogenese als auch im erwachsenen Körper wichtig sind. Es hat sich herausgestellt, dass diese auch für Tumorstammzellen essenziell sind. Es handelt sich hierbei vor allem um die Signalwege wnt, notch, hedgehog und TGFb/BMP. Diese spielen je nach Organ eine unterschiedlich wichtige Rolle. Der WNT-Signalweg ist zum Beispiel sehr wichtig bei der Entstehung von Dickdarmtumoren. Gerade bei diesem Tumor konnte auch bereits 1988 durch Bert Vogelstein aufgezeigt werden, wie sich der Tumor über eine Reihe von Vorstadien mit den entsprechend mutierten Genen heraus entwickelt.3 Dies wird auch Adenom-Karzinom-Sequenz genannt. Meist müssen mehrere Signalwege mit unterschiedlichsten Mutationen betroffen sein, damit es zur Entstehung eines Tumors kommt. Darüber hinaus sind Tumorstammzellen der Definition nach natürlich auch pluripotente Zellen, und dies wird ebenfalls genetisch durch dieselben Transkriptionsfaktoren geregelt wie bei normalen Stammzellen. Dies schließt auch die Bildung beziehungsweise Rekrutierung von Bindegewebe oder Gefäßen (Angiogenese) ein. Es gibt Berichte, nach denen sich die Nachkommen der Stammzellen in einem Tumor zu gefäßbildenden Zellen umwandeln können.
Entwicklung von Schutzmechanismen: Nicht zuletzt ähneln Tumorstammzellen normalen Stammzellen noch in einem Aspekt, der für die Therapie von Tumoren wichtig sein dürfte: Sie haben nämlich mehrere Methoden entwickelt, sich zu schützen oder, anders ausgedrückt, das Überleben des Gesamtorganismus oder Tumors zu sichern. Alle Stammzellen teilen sich nämlich sehr selten. Erst ihre direkten Nachfahren, die so genannten Progenitorzellen, teilen sich dafür sehr schnell und sorgen für die rasche Wiederauffüllung einer – sei es durch Abnützung oder Verletzung entstandenen – Lücke im Zellbestand. Deshalb werden Stammzellen auch durch Chemotherapie seltener getroffen. Mutationen von Zellrezeptoren an der Zelloberfläche können das Eindringen oder die Wirkung von Stoffen (wie Imatinib) behindern. Auch verfügen Stammzellen über Proteine in ihrer Zellwand, die dafür sorgen, dass schädliche Substanzen schnell wieder herausgepumpt werden. Eines davon (Hoechst 33342) dient sogar als Farbstoff zur Erkennung von Stammzellen in der so genannten Durchflusszytometrie. Einmal in die Zelle gelangt, werden schädliche Stoffe durch spezielle Enzyme auch schneller abgebaut (wie zum Beispiel das Chemotherapeutikum Cyclophosphamid durch das Enzym Aldehyd-Dehydrogenase). Sollte trotz allen Schutzes in Stammzellen ein Schaden angerichtet worden sein, egal ob durch Chemotherapie, moderne gezielte Medikamente oder Bestrahlung, gibt es immer noch Möglichkeiten, um ein Sterben der betroffenen Stammzelle zu verhindern. Denn Stammzellen exprimieren vermehrt antiapoptotische Moleküle. Sie sind relativ resistent gegen oxidativen Stress. Gegen Schäden an der DNA verfügen sie über ausgeprägte Reparaturmechanismen.
Insgesamt muss man also festhalten, dass Tumorstammzellen mit normalen Stammzellen eine Menge gemeinsam haben. Diese Gemeinsamkeiten scheinen jedoch leider für die Bösartigkeit des jeweiligen Tumors bestimmend zu sein.