Weltweit sind mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen von weiblicher Genitalverstümmelung bzw. Beschneidung (englisch auch „female genital mutilation/cutting“ oder FGM/C) betroffen. Geschätzt sind jedes Jahr etwa 3,6 Millionen Frauen und Mädchen von FGM/C bedroht.4, 5
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet hierbei vier unterschiedliche Arten von FGM/C:
FGM/C hat nachgewiesen keinerlei gesundheitlichen Nutzen, verursacht aber oft unmittelbare und langfristige Gesundheitsprobleme1, darunter Komplikationen im Urogenitalbereich8–10 und bei der Geburt11–13, sexuelle10, 14–16 und psychologische Probleme17 sowie Infektionen18.
Umfassende Erhebungen19, 20 haben ergeben, dass die Prävalenz von FGM/C in Ländern mit einer häufigen Anwendung dieser Praxis bis zu 98% betragen kann.21 Die höchsten Prävalenzzahlen von FGM/C bei Mädchen unter 14 Jahren findet man in Gambia (56%), Mauretanien (54%) und Indonesien (50%). Bei Frauen zwischen 15 und 49 Jahren ist die Häufigkeit von FGM/C in Somalia (98%), Guinea (97%) und Dschibuti (93%) am größten.5, 21 Repräsentative Daten liegen aus 27 afrikanischen und 3 asiatischen Ländern vor, wobei FGM/C auch noch in anderen Ländern stattfindet, zu denen es allerdings noch keine aussagekräftigen Daten gibt.
Die Migration von betroffenen Frauen in Gegenden mit hohem Einkommen wie Europa, Nordamerika und Australien macht FGM/C zunehmend zu einem globalen Problem.4
Praktische Erfahrungen in der Betreuung von Frauen mit FGM/C sind in Österreich bisher begrenzt. Von FGM/C betroffene Frauen benötigen jedoch oftmals spezialisierte gynäkologische und auch geburtshilfliche Betreuung.
In der Steiermark gab es bisher weder eine offizielle medizinische Beratungsstelle noch speziell ausgebildetes medizinisches Personal, das auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen nach FGM/C eingehen kann.
Wir haben daher eine retrospektive Datenanalyse der letzten 10 Jahre durchgeführt, um den potenziellen Bedarf an geburtshilflicher Betreuung für Frauen nach FGM/C in der Steiermark – und in weiterer Folge auch österreichweit – zu ermitteln.
Die Datenauswertung ergab, dass am LKH-Universitätsklinikum in Graz im Zeitraum von 1.1.2010 bis 31.12.2020 insgesamt 35.628 Entbindungen stattgefunden hatten.
Davon wurden 856 (2,4%) Geburten von 539 Frauen mit Nationalität oder Geburtsort eines Landes mit bekannter FGM/C-Prävalenz (anhand der UNICEF Global Database) verzeichnet.
In unserem Kollektiv stammten die größten Gruppen von Patientinnen aus Nigeria, Ägypten, Irak, Ghana und Somalia. Bezogen auf die offiziellen Prävalenzen der jeweiligen Länder lag die erwartete Anzahl der von FGM/C betroffenen Frauen bei 208/539 (38,6%), jedoch wurde in unserem Kollektiv nur in 17/539 (3,2%) Fällen FGM/C dokumentiert. Dies lässt darauf schließen, dass in 191 (92%) Fällen FGM/C möglicherweise übersehen wurde.
Weiters wurde bei 17% (n = 146) der 856 Entbindungen ausdrücklich eine Sprachbarriere festgestellt und dokumentiert.
Gesundheitsfachkräfte müssen speziell geschult werden, um betroffene Mädchen und Frauen erkennen, beraten und behandeln zu können. Primär müssen sie jedoch vor allem in der Lage sein, FGM/C zu erkennen und zu erfassen, um die physischen und psychischen Folgen von FGM/C zu behandeln oder weitere Fälle von FGM/C zu verhindern. In vielen unserer Krankenhäuser ist das Gesundheitspersonal jedoch nicht oder nur unzureichend für die Betreuung von Frauen und Mädchen mit FGM/C ausgebildet.22
Die genaue Prävalenz von FGM/C in Österreich ist derzeit nicht bekannt. Im Jahr 2019 schätzte das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen aber, dass 735−1.083 Mädchen unter 18 Jahren mit Wohnsitz in Österreich von FGM/C bedroht sind, was einen erheblichen Anstieg gegenüber 2011 bedeutet.23
In Österreich gibt es nur eine geringe Anzahl von FGM/C-Ambulanzen, die auch an Überweisungskrankenhäuser angeschlossen sind und betroffene Frauen behandeln und beraten können.23, 24
Die Einrichtung von FGM/C-Ambulanzen in jedem Bundesland wäre ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entwicklung eines umfassenden nationalen Aktionsplans, der sich mit FGM/C in seiner Gesamtheit befasst. Dort könnten Schulungen für medizinisches Personal angeboten und somit das Vertrauen zwischen Gesundheitspersonal und der von FGM/C betroffenen Gemeinschaft gestärkt werden.23
In einer rezenten Studie aus der Schweiz wurde eine ähnliche Erhebung durchgeführt, und die Ergebnisse stimmen mit den unsrigen überein: Doch dort wurde FGM/C nur in 2,3% der Fälle anstatt der erwarteten 57% kodiert.25
Mehrere Studien haben die Wissenslücken beim medizinischen Personal in Bezug auf die Prävalenz, Diagnose und Behandlung von FGM/C sowie die korrekte Identifizierung und Klassifizierung, insbesondere in entwickelten Ländern, bereits beschrieben. Dies ist ein multifaktorielles Problem, das auf schlechte Kommunikation, kulturelle Unterschiede, Sprachbarriere, ungeschultes Personal, Angst vor Beratung und mangelndes Wissen zurückzuführen ist.22, 26–30
Unsere Daten zeigen, dass bei 17% eine bestehende Sprachbarriere ausdrücklich festgestellt wurde. Die WHO-Leitlinien für die Behandlung von Frauen mit FGM/C besagen, dass im Falle einer Sprachbarriere ein offizieller Dolmetscher/eine offizielle Dolmetscherin hinzugezogen werden sollte.1 In der alltäglichen Praxis und vor allem in einer belebten Kreißsaalsituation ist dies jedoch oft nicht oder nur schwer umsetzbar. Dies verdeutlicht einmal mehr den Bedarf an spezialisierten Sprechstunden, in denen eine bestmögliche Beratung und Behandlung im Vorfeld angeboten werden kann. Dort können die betroffenen Frauen in ruhiger Atmosphäre interdisziplinär betreut werden, wobei im Idealfall Psycholog:innen, Dolmetscher:innen und geschultes medizinisches Fachpersonal zusammenarbeiten.
Um weitere Generationen vor der Durchführung von FGM/C zu schützen, ist es von großer Bedeutung, dass das Vorhandensein von FGM/C spätestens zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes vom Gesundheitspersonal erkannt wird. Die Eltern von neugeborenen Töchtern sollten über die rechtliche Situation in Österreich bezüglich FGM/C informiert und beraten werden, und die Bedeutung der körperlichen Unversehrtheit für eine gesunde Entwicklung des Kindes sollte betont werden.31