Im Jahr 2005 kamen in Österreich auf 77.252 Lebendgeburten 70–80 Neuralrohrdefekte. Schätzungen gehen davon aus, dass eine vergleichbare Zahl an Schwangerschaftsabbrüchen aufgrund pränatal erkannter NTDs vorgenommen wurde. Genauere Angaben dazu existieren nicht.
Die durchschnittliche globale Prävalenz der Neuralrohrdefekte wird mit 1:500, die Prävalenz in Österreich mit 1:1.000 beziffert; somit zählen Neuralrohrdefekte zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Dabei blieb die Inzidenz in den letzten 15 Jahren annähernd unverändert.
Neuralrohrdefekte (NTDs) manifestieren sich klinisch in Form von Anenzephalien, Enzephalozelen, Meningozelen bzw. der Spina bifida. Sie sind die Folge einer Störung der Entwicklung des embryonalen Nervensystems, in der die Folsäure aufgrund ihrer enzymatischen Aktivität eine bedeutende Rolle spielt. Der Verschluss des Neuralrohrs ist dabei das Endergebnis eines Entwicklungsprozesses, bei dem die embryonale Neuralplatte gefurcht, aufgefaltet und schließlich verschlossen wird. Dieser Verschluss findet zwischen dem 18. und 25. postkonzeptionellen Tag statt. Neuralrohrdefekte sind die Folge eines unzureichenden Verschlusses.
Die Bedeutung der Folsäure: Das Risiko, ein Kind mit Neuralrohrdefekt zur Welt zu bringen, kann um bis zu 75 % gesenkt werden, wenn die Folsäurespeicher der Mutter zum Zeitpunkt der Konzeption gefüllt sind.
Folate sind wasserlösliche Vitamine aus dem B-Komplex, die dem Körper mit der Nahrung zugeführt werden müssen (grünes Blattgemüse, Früchte, Leber etc.). Nahrungsfolate liegen hauptsächlich als instabile Polyglutamate vor und müssen in Monoglutamate umgewandelt werden, um über den Darm resorbiert werden zu können. Aufgrund der Hitze- und Lichtempfindlichkeit ist die Bioverfügbarkeit von nur ca. 50 % schlecht; dies gilt es bei Zubereitung und Lagerung zu beachten.
Folsäure ist die stabile synthetische Form. Als Monoglutamat besitzt sie selbst keine Vitaminfunktion. Im Gegensatz zum natürlichen Folat zeichnet sich die Folsäure durch Hitze- und Lichtstabilität aus. Daraus ergibt sich ihre Eignung für Supplementation und Fortifikation. Erst das Leberenzym Dihydrofolatreduktase wandelt Folate bzw. Folsäure in die für den menschlichen Organismus nutzbare und somit bioaktive Form, die Tetrahydrofolsäure (Metafolin®) um.
Jede zweite Frau kann aufgrund eines genetisch determinierten Enzympolymorphismus diese Umwandlung in die Tetrahydrofolsäure nicht optimal vollziehen. Bei diesen Frauen verursacht eine Punktmutation die Reduktion der Aktivität des Schlüsselenzyms 5,10-Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR). Homozygot Betroffene (10–12 % aller Frauen) zeigen eine reduzierte Aktivität dieses Enzyms um etwa 75 %; heterozygote Merkmalsträger (40 % aller Frauen) eine Reduktion um ungefähr 30 %. Studien zeigen, dass Frauen mit Schwangerschaftskomplikationen beziehungsweise Frauen, deren Schwangerschaft von einer NTD betroffen ist, häufiger homozygote Genotypen aufweisen. Aber auch heterozygote Genotypen können ein erhöhtes Risiko aufweisen.
Die Bedeutung der Folsäure erklärt sich aus ihrer Funktion im Aminosäure- bzw. Nukleinsäurestoffwechsel. Dadurch ergibt sich bei einem Folsäure-Mangel eine Beeinträchtigung von Zellteilung und Zellwachstum. Dies ist besonders für die Entwicklung des embryonalen Nervensystems entscheidend.
Höhe des Folsäurebedarf: Die empfohlene Zufuhr von Folsäure beträgt ab dem 10. Lebensjahr 400 μg pro Tag. Diese wird de facto altersunabhängig nicht erreicht.
Bei Schwangeren und Stillenden ist der Folsäurebedarf zusätzlich erhöht. Das Wachstum von Plazenta und Fötus, der Anstieg des Blutvolumens in der Schwangerschaft und die vermehrte Ausscheidung des wasserlöslichen Vitamins mit dem Urin sind für den erhöhten Bedarf verantwortlich. Deshalb findet sich bei Schwangeren und Stillenden ein meinst zu niederer Plasmafolatspiegel. So liegt die Häufigkeit eines Folatmangels bei Schwangeren in den Industriestaaten zw. 20–50 %. Dafür ist vor allem das Missverhältnis zwischen Folsäureangebot und -bedarf ver- antwortlich zu sehen, denn die tägliche Folataufnahme mit der Nahrung beträgt durchschnittlich nur ca. 0,25–0,3 mg/Tag. Daher wird Schwangeren und Stillenden die zusätzliche Folsäure- Einnahme von mind. 400 μg Folsäure täglich empfohlen.
Schon perikonzeptionelle Supplementation empfohlen: Der notwendige Prozess des vollständigen Neuralrohrverschlusses findet am 18.–25. Tag post conceptionem statt. Die Folsäurespeicher sollten in diesem Zeitraum gefüllt sein. Tatsächlich aber ist vielen Frauen die bereits bestehende Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt. Deshalb wird empfohlen, rechtzeitig für gefüllte Folsäurespeicher zu sorgen. Das bedeutet eine frühe, perikonzeptionelle Supplementation von Folsäure.
Mehrere große Studien bestätigen, dass eine perikonzeptionelle Supplementierung von 400 μg Folsäure/Tag die Häufigkeit von Fehlbildungen um bis zu 75 % verringern kann.
Dieser Empfehlung schließen sich auch die Mehrzahl der Fachgesellschaften an. Allen Frauen mit Kinderwunsch bzw. Frauen im gebärfähigen Alter wird deshalb zu einer Prävention mit 400 μg Folsäure/ Tag mindestens 4 bis 6 Wochen vor Eintritt der Schwangerschaft bzw. bis zum Ende des ersten Trimenons geraten. Ein präexistenter Folatmangel kann damit schon vor der Konzeption ausgeglichen werden. Frauen mit einer Risikokonstellation (vorausgegangener Schwangerschaft mit NTD) wird darüber hinaus eine dosiserhöhte perikonzeptionelle Prophylaxe mit 4 mg Folsäure/Tag möglichst 3 Monate vor bis 3 Monate nach Schwangerschaftseintritt empfohlen. Diese Empfehlung gilt auch für Frauen unter antiepileptischer Therapie, da diese eine verminderte Folsäureresorption bedingt.
Die Semmelweis-Frauenklinik betreut ca. 2.00 Geburten pro Jahr; die zur Geburt angemeldeten Frauen bilden hinsichtlich ethnischer Herkunft, Sozialstatus, Bildungsstand und Alter eine für die Stadt Wien repräsentative Klientel. Ziel der Befragung war eine Analyse des Wissensstandes der Frauen im gebärfähigen Alter zum Thema Folsäure bzw. das tatsächliche Folsäure- Einnahmeverhalten.
Ein 2-seitiger standardisierter, semistrukturierter Fragebogen mit 16 Fragen rund um den Themenkomplex Folsäureeinnahme wurde konzipiert. Dieser wurde im Zeitraum November 2010 bis einschließlich März 2011 an 627 Schwangeren verteilt. Die Frauen erhielten den Fragebogen in der Ambulanz der Semmelweis-Frauenklinik bei der Anmeldung zur Geburt (12. bzw. 20. SSW). Folgende Themenbereiche wurden abgefragt:
die Anamnese hinsichtlich Fehlgeburten und Fehlbildungen in der Familie (NTD)
die Einnahme von Folsäure-Präparaten
der Folsäure-Einnahmemodus (Dosis, Zeitfenster, Präparat)
das Vorliegen einer geplanten bzw. ungeplanten Schwangerschaft
die Verwendung oraler Kontrazeptiva vor Eintreten der Schwangerschaft
der Wissensstand bzw. die Informationsquellen zur Bedeutung der Folsäure
die Versorgung von Frauen mit Migrationshintergrund und sprachlicher Barriere
Die Auswertung der Fragebögen ergab einen relativ hohen Anteil an Frauen, die Folsäure rund um die Schwangerschaft eingenommen hatten (68 %). Von diesen Frauen nahmen 32 % die Folsäure bereits präkonzeptionell, 68 % begannen mit der Substitution erst postkonzeptionell. Durchschnittlich lag der Beginn der Folsäure-Einnahme in der SSW 6,5. Zu diesem Zeitpunkt ist das Neuralrohr bereits verschlossen; für die Prävention der NTDs kommt bei diesen Frauen die Folsäuresupplementation also zu spät. Zur Regelmäßigkeit der Einnahme befragt, gaben 37 % der Befragten eine regelmäßige Folsäureeinnahme an. 37 % nahmen ein Kombinationspräparat ein, das die bioaktiven Form Metafolin® beinhaltet. 64 % der Frauen mit Migrationshintergrund und sprachlicher Barriere hatten keine Folsäure genommen; das sind doppelt so viele Frauen wie im Gesamtkollektiv. Bezüglich des Wissens- und Informationsstandes konnte erhoben werden, dass nur 35 % der Frauen im Vorfeld der Schwangerschaft über die positive Bedeutung der Folsäure Bescheid wussten. 67 % aller befragten Frauen erhielten die Information zur Folsäure vom ihrem Frauenarzt. Wenig überraschend war der hohe Anteil an Schwangeren mit optimaler Folsäureeinnahme in jener Gruppe von Frauen, die die Schwangerschaft geplant hatten. Im Gesamtkollektiv waren 72 % der Schwangerschaften geplant. 93 % der Frauen, die Folsäure präkonzeptionell eingenommen haben, hatten die Schwangerschaft auch geplant. 20 % der Befragten haben die Pille innerhalb der letzten 12 Monate vor der Schwangerschaft eingenommen. Durchschnittlich 3,8 Monate nach Absetzen der oralen Kontrazeption trat bei diesen Frauen eine erfolgreiche Schwangerschaft auf (Fazit aus den Ergebnissen siehe Textkasten).
Aus den Ergebnissen dieser Befragung muss also abgeleitet werden, dass weiterhin eine Optimierung der Folsäure-Versorgung möglich und deshalb anzustreben ist. Dies gilt insbesondere für den großen, kinderreichen Bevölkerungsanteil der Migrantinnen, aber auch ganz allgemein für Frauen im gebärfähigen Alter, die noch nicht schwanger sind. Zielgruppe sollten also Frauen mit konkretem Kinderwunsch sein, aber auch jene Frauen, die eine Schwangerschaft (noch) nicht planen. Das betrifft somit auch Frauen, die aktuell orale Kontrazeptiva einnehmen.
Folgende Strategien zur Optimierung der Folsäureversorgung Schwangerer sind anzudenken:
Informationskampagnen z. B. in Schulen und Berufsschulen
forcierte Beratung der Patientinnen durch die Fachärzt Innen auch im Kollektiv der Nichtschwangeren
die Folsäureanreicherung von Grundnahrungsmitteln (z. B. Mehlfortifikation)
Anreicherung oraler Kontrazeptiva mit Folsäure
Durch die Mehlfortifikation – in Analogie zur Speisesalzjodierung – wird versucht, über Grundnahrungsmittel die Aufnahme von Folsäure zu steigern. Dadurch könnte auch jene Gruppe von Frauen erreicht werden, die sich nicht ausreichend gesund und ausgewogen ernähren (Fast-Food-Generation). Auch Frauen aus niedrigen sozioökonomischen Schichten, die nachweislich schlechter mit Folaten versorgt sind und deren Zugang zu Informationsquellen (Schulen, Internet, medizinische Versorgung etc.) beschränkt ist, könnten durch die Mehlfortifikation in besonderem Maße profitieren. Eine Fortifikation wurde bis dato in 52 nicht-europäischen Ländern (z. B. Lateinamerika und USA) eingeführt. Die Dosierung wurde an die minimale Bedarfsmenge von 0,4 mg/Tag unter Berücksichtigung eines Verlusts von 40 % beim Backvorgang angepasst. Somit werden 100 g Mehl mit 0,2 mg Folsäure angereichert. Alternativ ist noch die Anreicherung von Lebensmitteln zu nennen, die nicht den Grundnahrungsmitteln angehören, aber den speziellen Vermerk der Folsäure-Anreicherung tragen (z. B. in Großbritannien – Müslianreicherung).
Die Anreicherung oraler Kontrazeptiva mit Folsäure stellt eine zielgruppenspezifische Vorgehensweise dar. Auf den ersten Blick erscheint diese Behauptung paradox, da man ein „Schwangerschaftsvitamin“ mit einem Kontrazeptivum kombinieren würde; beide Substanzen sprechen jedoch die gleiche und auch entscheidende Zielgruppe an – Frauen im gebärfähigen Alter. In den USA liegt bereits seit 2010 die Zulassung für die Kombination eines oralen Kontrazeptivums mit Folsäure vor. In Europa ist diese Zulassung noch ausständig. Durch die Kombination von Folsäure mit einem oralen Kontrazeptivum würde der unzureichenden präkonzeptionellen Folsäureeinnahme (durch Unwissenheit und/oder fehlende Empfehlung) effizient entgegengewirkt werden. Im Rahmen der Verhütungsberatung würde so die Folsäure-Supplementation angesprochen und damit das Bewusstsein für die Bedeutung der Folsäure geweckt werden. Einer geplanten Schwangerschaft geht häufig die Einnahme oraler Kontrazeptiva voraus. Ohne ärztliche Rücksprache wird von ca. 60 % der Frauen das orale Kontrazeptivum abgesetzt, um schwanger zu werden. Nach dem Absetzen der oralen Kontrazeptiva werden lt. Angaben der Literatur 21,1 % der Frauen bereits nach dem 1. Zyklus, 45,7 % nach dem 3. Zyklus und 79,4 % nach spätestens 13 Zyklen schwanger. Ähnliches geht auch aus den Daten der Semmelweis-Frauenklinik hervor. Im Durchschnitt kam es nach Absetzen des oralen Kontrazeptivums nach 3,8 Monaten zu einer Schwangerschaft. Da das Nahrungsfolat darüber hinaus durch die Einnahme oraler Kontrazeptiva auch vermindert resorbiert wird, wäre eine Kombination der oralen Kontrazeptiva mit Folsäure in diesen Fällen von Vorteil. Ein weiteres Argument für die „Pillen-Folsäure-Strategie“ stellt die hohe Compliance bei der Einnahme oraler Kontrazeptiva im Gegensatz zur Einnahme von Supplementen dar – dies bestätigen auch unsere Beobachtungen; nur 37 % der Befragten nahmen an der Semmelweis-Frauenklinik im untersuchten Zeitraum Folsäure-Präparate regelmäßig ein.
Literatur bei den Verfasserinnen