Wissenschaftliche Evidenz ist nur Teil der Evidence- based Medicine (EBM). Alle drei Säulen der EBM haben bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt zu werden. Als Beispiel für die Differenzierung zwischen wissenschaftlicher Evidenz alleine und EBM sei die Diskussion um das Nationale Brustkrebs-Früherkennungsprogramm angeführt.*
Bewertung des Frauengesundheitszentrums Graz: Zur Punktation, also zum Vorvertrag zwischen der Österreichischen Ärztekammer und dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger (abgeschlossen am 03.06.2011), gab es am 10. 6. 2011 eine Stellungnahme/Pressemitteilung des Frauengesundheitszentrums Graz (Leiterin: Mag.a Sylvia Groth, MAS).
In dieser Stellungnahme wird moniert, dass im Rahmen des österreichischen Screening-Programms „auf die Empfehlungen der Europäischen Kommission zur Qualitätssicherung von Mammographie- Screening-Programmen kein Bezug genommen“ wird.
Unter anderem werden die folgenden Einwände erhoben:
• „Die EU-Leitlinie gibt als Zielgruppe Frauen zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr an, weil für diese Altersgruppe der beste wissenschaftliche Nachweis für eine positive Nutzen- Schaden-Bilanz vorliegt. Für die jüngeren Altersgruppen ist der Nutzen des Screenings weniger gut belegt.“
• Weiters könnte der Umstand, dass statt 5.000 (wie in der EU-Leitlinie empfohlen) nur noch 2.000 Mammographien jährlich pro Untersuchungszentrum Voraussetzung für die Teilnahme am Screening-Programm sind, „eine Qualitätseinbuße der Beurteilung von Mammographien bedeuten“,
• und nicht zuletzt wird angeführt, dass „prospektive, randomisierte, kontrollierte Studien nicht nachweisen, dass Ultraschalluntersuchungen einen positiven Nutzen haben“.
Resümierend wird festgestellt, dass „von der Ärztekammer und dem Hauptverband die Chance verpasst wurde, ein wissenschaftlich abgesichertes Screening-Programm nach Leitlinien der Europäischen Kommission qualitätsgesichert umzusetzen und damit Frauen der Altersgruppe zwischen 50 und 69 Jahren eine hochwertige gesundheitliche Versorgung zu sichern“.
Dazu ist anzuführen, dass in weiten Teilen des Programms sehr wohl den Empfehlungen der Europäischen Kommission gefolgt wurde, allerdings wurden diese sehr zum Vorteil der zu „screenenden“ Frauen an die österreichischen Gegebenheiten angepasst – im Einzelnen: • Betreff Altersgruppe: Von österreichischen Fachgesellschaften (wie der Gesellschaft für Senologie, der OEGGG und der Krebshilfe) wird ein Mamma-Screening bereits vor dem 50. Lebensjahr empfohlen.
• Betreff jährliche Untersuchungsfrequenz pro Zentrum: Der Umstand, dass statt 5.000 nur noch 2.000 Mammographien jährlich pro Zentrum gefordert werden, stellt entsprechend Expertenmeinung nicht nur keine Qualitätseinbuße dar, sondern ist wohl auch im Sinne der zu Screenenden: Allein die Vorstellung, das Mamma-Screening in ganz Österreich nur mehr in einigen (für die zum Screening eingeladenen Frauen weitgehend anonymen und wohnortfern) Zentren durchzuführen, hätte sicherlich nicht zu einer zahlenmäßig befriedigenden Inanspruchnahme des Programms beigetragen.
• Betreff Mamma-Sonographie: Der Umstand, dass nunmehr die Möglichkeit besteht, bei Frauen mit dichten Brüsten und unklarem Mammographie-Befund unmittelbar im Anschluss an die radiologische Untersuchung eine Mamma-Sonographie durchzuführen, ist wohl nicht nur ein Qualitätsgewinn, sondern auch im Sinne der Frauen.
Die „Bäuerin aus dem Waldviertel“ mit unklarem Mammographie- Befund bekommt nun nicht mehr einige Zeit nach der Mammographie vom Screeningzentrum eine neuerliche Einberufung, diesmal zur Mamma-Sonographie, sie muss sich also nicht nochmals auf die Reise begeben.
Allerdings handelt es sich beim an die Mammographie gegebenenfalls angeschlossenen Brust-US naturgemäß um keine „Screening“-Sonographie, wie vom Frauengesundheitszentrum Graz (irrtümlich?) angemerkt, sondern um eine weiterführende Untersuchung.
Zusammenfassend ist in Bezug auf das nunmehrige Nationale Brustkrebs-Früherkennungsprogramm anzuführen, dass dieses ein Beispiel für gelebte EBM ist, da es eben nicht nur auf wissenschaftlicher Evidenz basiert, sondern auch der klinischen Expertise und den Wertvorstellungen der Patientinnen entgegenkommt. Nur auf diese Weise wird auch eine zufriedenstellende Akzeptanz des Programms zu erzielen sein.
Nach der aufsehenerregenden Publikation vom November 2010 im „Lancet“, die über eine 59%ige Abnahme der Inzidenz an Genitalwarzen nach Einführung des HPV-Impfprogramms in Australien berichtete, erschien nun aktuell, im Juni 2011, der erste Bericht über eine signifikante Abnahme der Inzidenz an hochgradigen, zervikalen, intraepithelialen Neoplasien. Der Rückgang von „high grade cervical abnormalities“ (= CIN 2+ bzw. AIS) betrug bei jungen Mädchen 38 %.
Für das Frauengesundheitszentrum Graz allerdings sind diese beiden Publikationen keineswegs Anlass, die HPVImpfung nunmehr positiv zu bewerten, vielmehr wird in einer Presseaussendung angemerkt:
„Die Ergebnisse reichen nicht aus, um die Finanzierung eines österreichischen Impfprogramms durch öffentliche Gelder zu rechtfertigen, denn die soeben in der Fachzeitschrift ,Lancet‘ veröffentlichte Studie liefert nur bedingt Beweise für die Wirksamkeit der Impfung gegen HPV.“ Man solle sich „Zeit nehmen, bevor man sich für oder gegen eine Impfung für sich, die Töchter oder Söhne entscheidet“.
Expertise in „Spezifität“ und „Sensitivität“: Erlauben Sie mir noch eine kurze Anmerkung zur „Kompetenz“ des Frauengesundheitszentrums Graz. In einer rezenten Stellungnahme zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs** wird auf die Spezifität des Pap-Abstrichs wie folgt eingegangen: „Bei 20 bis 40 von 100 Frauen ist das Ergebnis (des Pap-Abstriches) falsch-positiv: Eine Zellveränderung wurde fälschlicherweise angezeigt.“
Dazu die Anmerkung: Es wird also festgestellt, dass die Spezifität des Pap-Abstriches bei 60 bis 80 % liegt (= 20–40 % falsch-positive Ergebnisse); wie ist das allerdings mit dem weiteren Text in Einklang zu bringen: „Die Spezifität, das Erkennen des Nichtvorhandenseins von geringgradigen Zellveränderungen, ist für den Pap-Abstrich mit über 90 % sehr hoch. Das Fehlen von Zellveränderungen wird in 90 von 100 Pap-Abstrichen richtig erkannt.“?
In diesem Kommentar von Frau Mag.a Sylvia Groth (Leiterin des Frauengesundheitszentrum Graz) zum Pap-Abstrich wurden doch tatsächlich Sensitivität und Spezifität des Pap- Abstrichs verwechselt, aber darauf kommt es auch nicht mehr an.
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege!
Ich bin der festen Meinung, dass sich die Politik schon zu viel Zeit genommen hat und sie aufzufordern ist, sich nicht von inkompetenten und unehrlichen Berichten von selbsternannten ExpertInnen beraten zu lassen.
Die Beratung der Politik ist also, zumindest was die Frauengesundheit betrifft, zu hinterfragen. Einerseits werden von den beratenden Institutionen Auftragsarbeiten erfüllt (siehe LBI-HTA-Studie zur gesundheitsökonomischen Bewertung der HPV-Impfung), andererseits werden Frauengesundheitsberichte verfasst, die schlicht Unwahrheiten wiedergeben (nachzulesen in Gyn-Aktiv 3/11 – Editorial); und nicht zuletzt werden Stellungnahmen veröffentlicht, die basales Fachwissen vermissen lassen (siehe Definition des Screenings bzw. von Sensitivität/Spezifität des Pap-Abstrichs).
Ihr
o. Univ.-Prof. Dr. Sepp Leodolter
PS: Die Ernennung von Frau Univ.-Doz. Dr. Pamela Rendi- Wagner zur Generaldirektorin für Öffentliche Gesundheit im Bundesministerium für Gesundheit lässt auf einen „Wandel“ hoffen.
PPS: Das nationale Impfkomitee in Finnland hat beschlossen, die HPV-Impfung einzuführen, nunmehr ist Österreich also das einzige westeuropäische Land, in dem die HPVImpfung von der öffentlichen Hand nicht unterstützt wird.
PPPS: Am 27. 6. 2011 war HPV-Aktionstag mit Impfaktion für MitarbeiterInnen (und deren Angehörige) der Medizinischen Universität Wien. Der Ansturm war gewaltig, insgesamt wurden rund 400 Personen geimpft.
* Inhalt der Punktation zwischen SV und ÖÄK im Inneren des Heftes
** http://www.fgz.co.at/fileadmin/hochgeladene_dateien/bilder/themen/Gebaermutter/ Frueherkennung_von_Gebaermutterhalskrebs_durch_den_PAP.pdf