SD 04|2021
Publikationsdatum: 2021-11-18
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Juckreiz ist eine unangenehme Empfindung, die das Verlangen auslöst, sich zu kratzen. Diese Definition von Juckreiz (Pruritus) des deutschen Arztes Samuel Hafenreffer (1660) beschreibt das „Phänomen Juckreiz“ in hervorragender Weise als eine subjektive Wahrnehmung, die nach Verarbeitung im zentralen Nervensystem unser Befinden beeinflusst und eine hingewendete mechanische Gegenreaktion auslöst.
Ein „kleines Jucken“ hie und da verspüren wir alle mehrmals täglich, und fast unbemerkt wird die Stelle gekratzt und beruhigt sich wieder. Unangenehm wird Juckreiz, wenn er eine bestimmte Intensität überschreitet und unsere Aufmerksamkeit ganz auf die juckende Stelle lenkt. Dieser „akute Pruritus“ hat eine wichtige Bedeutung für die Integrität unserer Haut und die Abwehr von äußeren Einflüssen wie z. B. Insekten, stechenden Pflanzenteilen oder Irritanzien. Akuter Pruritus ist also wichtig und kann uns vor Schäden durch diese äußeren Einflüsse schützen. Wenn der Pruritus aber länger andauert, wechselt seine „physiologische“ in eine „pathologische“ Rolle. Dieser „chronische Pruritus“ (CP; Juckreiz für 6 Wochen oder länger)1 führt durch anhaltendes Kratzen zu einer weiteren Schädigung der Haut oder Verschlechterung des ursprünglich auslösenden, juckenden Hautzustandes. Die weitere Schädigung der Haut kann wiederum Juckreiz verstärken, sodass eine ursprünglich juckende Dermatose vollkommen von sekundären Kratzspuren überlagert werden kann. In besonderen Fällen kommt es zu einer „Sensibilisierung“ gegenüber Juckreiz und der Ausbildung eines „Juck-Kratz-Zirkels“, der zu pruriginösen Hautveränderungen und schließlich zu einer eigenständigen Hautkrankheit, der „chronischen Prurigo“ (CPR) führt.2 Aus diesem „Teufelskreis“ aus Jucken und Kratzen gibt es kein Entrinnen, wenn es nicht gelingt, den Juckreiz so weit und langanhaltend zu lindern, dass die Spirale aus Jucken und Kratzen wieder zurückgedreht und der pathologische Zustand des „chronischen Pruritus“ beseitigt wird.
Von welcher Bedeutung CP in unserem täglichen Leben ist, beschreiben epidemiologische Daten. So litten in einer deutschen Hautarztpraxis 36,2 % der Patienten an Pruritus und davon wiederum 87,6 % an CP; 62 % der Betroffenen haben den Hautarzt aufgrund von CP aufgesucht.3 Bei einer Studie in Oslo litten 8,4 % der befragten Bevölkerung unter Juckreiz.4 In Deutschland litten 13,5 % zum Zeitpunkt der Befragung unter chronischem Pruritus; die Lebenszeitprävalenz lag bei 22 %.5 Einer von fünf Menschen in unseren Breiten leidet also im Laufe seines Lebens zumindest einmal unter Pruritus, der länger als 6 Wochen andauert. Viele dieser Betroffenen blicken sogar auf ein jahre- bis jahrzehntelanges Martyrium zurück, denn mit dem CP sind oft ausgeprägte Schlafstörungen und Übermüdung, Konzentrationsstörungen und Leistungsabfall, Reizbarkeit, Angststörungen, Depressionen und manchmal sogar Suizidgedanken verbunden.6
Der Weg zu einer erfolgreichen Therapie des Pruritus führt über eine gute Diagnostik, wobei der Anamnese und klinischen Untersuchung der Haut besondere Bedeutung zukommt. Neben einem Basislabor sollte die Diagnostik je nach vermuteter Ursache um Hautproben, Abstriche, spezifische Labor- oder bildgebende Untersuchungen erweitert werden. Wenn sich durch die Anamnese, die klinischen und weiterführenden apparativen Untersuchungen eine oder mehrere Ursachen eruieren lassen, sollte zunächst versucht werden, diese Ursachen zu beseitigen. Oft lassen sich aber zugrundeliegende Ursachen nicht oder nicht ausreichend behandeln oder sind gar nicht bekannt.
Trockene Haut und eine gestörte Hautbarriere können jegliche Form des CP verstärken, sodass immer eine „rückfettende Hautpflege“ als Basistherapie angewandt werden sollte. Durch Zusatz von Menthol oder Polidocanol kann die juckreizlindernde Wirkung noch verstärkt werden.
Der Einsatz von topischen Kortikosteroiden (TCS) ist v. a. in der Anfangsphase bei entzündlichen Hauterkrankungen mit CP und bei CPR sinnvoll. Wie bei atopischer Dermatitis (AD) kann eine „proaktive Therapie“ angeschlossen werden, um den Therapieeffekt aufrechtzuerhalten. Bei intensiv juckenden Prurigoknoten war die gezielte Behandlung mit starken TCS unter Okklusion sehr wirksam.8 Die Calcineurin-Inhibitoren Pimecrolimus und Tacrolimus können ebenfalls für die proaktive Therapie eingesetzt werden. Bei umschriebenen Formen des CP wie Lichen simplex chronicus, Notalgia paraesthetica oder brachioradialem Pruritus sind Capsaicincremen in ansteigender Konzentration (0,025 bis 0,1 %) oder capsaicinhaltige Pflaster (8 %) erfolgreich eingesetzt worden.
Neue Ansätze in der topischen Therapie für umschriebenen Pruritus kommen aus der AD. Crisaborol, ein Phosphodiesterase-4-Hemmer, ist bereits für die Behandlung der AD zugelassen und hat eine signifikante juckreizhemmende Wirkung. Die Gruppe der Januskinase-Inhibitoren (JAKi; Tofacitinib, Ruxolitinib, Delgocitinib u. a.) hat bei topischer Anwendung in der AD ebenfalls zu signifikanter Juckreizhemmung geführt. Delgocitinib ist in Japan bereits für die AD zugelassen. Januskinasen (JAK1, -2, -3 und TYK2) sind intrazelluläre Moleküle, die an der Weiterleitung der Signale von bestimmten Zytokinrezeptoren in den Zellkern beteiligt sind. JAKi unterbrechen die Signalweiterleitung vom Rezeptor in das Zellinnere und damit die Zytokinwirkung an der Zielzelle. Januskinasen sind z. B. an der Signalvermittlung von Interleukin-(IL-)31, IL-4, IL-13 und IL-5 beteiligt, die in der Pathophysiologie des Pruritus eine wichtige Rolle spielen.9
In der systemischen Behandlung von Pruritus haben wir derzeit nur eingeschränkte Möglichkeiten, und die meisten sind off-Label. Die breit eingesetzten Antihistaminika haben bei akutem Pruritus (z. B. Urtikaria) zwar vielfach gute Wirkung, bei CP wirken sie in der üblichen Dosierung hingegen meist nur gering oder gar nicht, wenn man vom sedierenden Effekt der Antihistaminika der 1. Generation absieht. Da Antihistaminika der 2. Generation (z. B. Loratadin oder Cetirizin) ein gutes Sicherheitsprofil aufweisen, können sie bei CP versucht werden. Wenn sie in der empfohlenen Standarddosierung keine Wirkung zeigen und auch eine 4-fache Dosissteigerung (wie bei chronisch spontaner Urtikaria) zu keiner deutlichen Juckreizlinderung führt, sollten sie aber wieder abgesetzt werden. Die Behandlung mit Breitband- oder Schmalband-UVB kann bei unterschiedlichen Formen des CP mit oder ohne spezifische Hautveränderungen eingesetzt werden und führt bei zahlreichen Indikationen (z. B. AD, Psoriasis, urämischer Pruritus, CPR, CP unklarer Genese) zu einer merklichen Besserung.10 Die Verfügbarkeit der Phototherapie hat in den letzten Jahren leider deutlich abgenommen, sodass sie meist nur noch in Hautkliniken, einigen Hautarztpraxen oder Therapiezentren angeboten wird.
Systemische Glukokortikosteroide sollten, wenn überhaupt, nur kurzfristig bei ausgeprägten Formen des CP eingesetzt werden, wenn ein sehr hoher Leidensdruck besteht, oder zur Überbrückung, bis andere Maßnahmen, z. B. eine UV-Phototherapie, ihre Wirkungen entfalten. Andere Immunsuppressiva, wie Ciclosporin, Methotrexat oder Azathioprin, können off-Label in ausgeprägten Fällen von CPR mit Erfolg eingesetzt werden, während es für den Einsatz dieser Medikamente bei CP ohne entzündliche Hautveränderungen keine verlässlichen Daten gibt. Gabapentinoide wie Gabapentin und Pregabalin sind u. a. für neuropathische Schmerzen zugelassen und haben eine juckreizhemmende Wirkung bei neuropathischem Pruritus, wie brachioradialem und postzosterischem Pruritus sowie „small-fiber neuropathy“ gezeigt. Gabapentinoide haben auch bei Hämodialyse-Patienten zu einer signifikanten Verminderung des urämischen Pruritus geführt. Bei CPR wirken Gabapentin und Pregabalin gut gegen Pruritus und Prurigoläsionen. Insbesondere bei Niereninsuffizienten ist eine niedrige Anfangsdosis und langsame Dosissteigerung wichtig, um Nebenwirkungen gering zu halten. Eine ausreichend lange Behandlung von mindestens 8–12 Wochen ist notwendig, um die Wirkung auf Pruritus und Prurigo beurteilen zu können.
Antidepressiva haben bei CP nicht nur bei begleitenden Depressionen juckreizhemmende Wirkung. Mirtazapin hat in einer Dosis von 7,5–30 mg eine juckreizhemmende und schlafanstoßende Wirkung und sollte abends gegeben werden. Das zu den Antihistaminika der 1. Generation zählende Hydroxyzin ist bei CP wegen seiner antihistaminergen und anxiolytischen Wirkung, v. a. bei gleichzeitig vorhandenen Angstzuständen und Schlafstörungen, wirksam. Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI), wie Sertralin, Paroxetin, Fluoxetin und Fluvoxamin, haben insbesondere bei paraneoplastischem, urämischem oder hepatischem Juckreiz eine hemmende Wirkung. Opiate und ein Ungleichgewicht zwischen Mu-Opiat-Rezeptoren (MOR) und Kappa-Opiat-Rezeptoren (KOR) scheinen bei CP unterschiedlicher Genese eine pathophysiologische Rolle zu spielen. Dabei führt die Blockade von MOR einerseits und die Aktivierung von KOR andererseits zu einer Hemmung von Juckreiz. Dies ist der Hintergrund, vor dem MOR-Antagonisten, wie Naloxon und Naltrexon, oder KOR-Agonisten, wie Nalfurafin, in der Behandlung von CP eingesetzt werden. Insbesondere bei urämischem Pruritus hat der KOR-Agonist Nalfurafin, der allerdings nur in Japan zugelassen ist, zu einer signifikanten Juckreizhemmung geführt.
Neue systemische Therapien: Bei der AD haben die Biologika Dupilumab (IL-4-/-13-Hemmung) und Tralokinumab (IL-13-Hemmung) signifikante antipruritische Wirkungen. Dupilumab wurde off-Label auch bei CPR und bullösem Pemphigoid mit Erfolg eingesetzt und führte zu einer signifikanten Reduktion von Pruritus und Hautveränderungen. Dupilumab wird bei chronischer Prurigo derzeit in RCT untersucht.9
JAKi, die gleichzeitig mehrere juckreizrelevante Zytokine beeinflussen können, hemmen Pruritus bei AD rasch und signifikant. Off-Label hatte Tofacitinib bei „CP unklarer Genese“ eine deutlich juckreizhemmende Wirkung. Baricitinib konnte off-Label bei einem Patienten mit CPR Juckreiz und Prurigoläsionen reduzieren. Ruxolitinib, ein JAK1-/-2-Inhibitor, ist seit Längerem in der Behandlung der Polycythaemia vera (PV), die in der Mehrzahl der Fälle mit einer Mutation im JAK2-Gen einhergeht, im Einsatz und hat hier eine signifikante juckreizhemmende Wirkung auch auf den bei PV typischen aquagenen Pruritus gezeigt. JAKi könnten also in Zukunft auch bei anderen Formen des CP und bei CPR eingesetzt werden.9
Ein sehr vielversprechender Ansatz in der Behandlung von CP ist die Blockade von IL-31, dem sogenannten „Juckreiz-Zytokin“. Das Biologikum Nemolizumab, das den IL-31-Rezeptor alpha hemmt, hat bei AD eine signifikante juckreizhemmende Wirkung.11 Auch bei der nodulären Form der CPR („Prurigo nodularis“) zeigte Nemolizumab in einer Phase-II-Studie eine rasche und signifikante Reduktion des Pruritus und der Prurigoknoten.12 Die Ergebnisse der mit Nemolizumab laufenden Phase-III-Studien bei Prurigo nodularis und AD werden im nächsten Jahr erwartet.
Ein weiteres Medikament zur Hemmung von IL-31 ist Vixarelimab (KPL-716), das am zweiten Teil des IL-31-Rezeptors, dem Oncostatin-M-Rezeptor beta, angreift. Vixarelimab wird gerade in einer Phase-IIa-/-b-Studie bei Prurigo nodularis geprüft. Voruntersuchungen bei AD haben eine deutliche juckreizhemmende Wirkung gezeigt.13
Nalbuphin, ein partieller MOR-Antagonist und KOR-Agonist, hat bei Hämodialyse-Patienten eine signifikante Reduktion des urämischen Pruritus innerhalb von 8 Wochen gezeigt.14 Bei der Prurigo nodularis konnte Nalbuphin in einer Phase-II-Studie bei Patienten, die die gesamte Behandlung von 10 Wochen beendet hatten, Pruritus signifikant hemmen.15 Die Ergebnisse der Phase-III-Studien bei Prurigo nodularis werden im nächsten Jahr erwartet.
Difelikefalin ist ein neuer KOR-Agonist, der intravenös oder oral verabreicht werden kann. Bei Hämodialyse-Patienten hat Difelikefalin bei i. v. Gabe 3-mal pro Woche nach der Dialyse innerhalb von 12 Wochen zu einer signifikanten Abnahme des urämischen Pruritus geführt.16 Mittlerweile ist Difelikefalin unter dem Namen Korsuva® für diese Indikation bei Erwachsenen von der FDA zugelassen. Difelikefalin wird auch bei anderen Indikationen, wie AD, Notalgia paraesthetica und primär biliäre Zirrhose, auf seine juckreizhemmende Wirkung geprüft.17
Insgesamt ist Pruritus von einem kaum beachteten Symptom zu einem intensiv beforschten „Hot Topic“ geworden. Dies zeigt die zunehmende Zahl an Studien bei chronischem Pruritus und chronischer Prurigo. Auch bei AD, Psoriasis und anderen inflammatorischen Erkrankungen ist Pruritus mittlerweile in den Studienprotokollen ein wesentlicher sekundärer oder sogar primärer Endpunkt geworden. In den nächsten Jahren dürfen wir mit einer Reihe von Medikamenten rechnen, die bei den unterschiedlichen Formen des CP und CPR zum Einsatz kommen. Wünschenswert wäre für die Zukunft natürlich ein gut verträgliches Medikament, das breit und indikationsunabhängig Pruritus hemmen und so den hohen Leidensdruck der Betroffenen lindern und ihre Lebensqualität verbessern kann.