Univ.-Prof. Dr. Georg Stingl
Universitätsklinik für Dermatologie, Medizinische Universität Wien
Mikrobiom und Immunsystem stehen in einer engen Wechselbeziehung, wie Professor Georg Stingl (Medizinische Universität Wien) im Interview mit IM FOKUS aufzeigt. Im Bereich der Dermatologie gilt dies besonders für die atopische Dermatitis, die mit einer ausgeprägten Dysbiose assoziiert ist.
IM FOKUS: Jeder Mensch hat sein eigenes Mikrobiom. Gibt es so etwas wie ein „gesundes“ Mikrobiom?
Stingl: Unter Mikrobiom verstehen wir die Gesamtheit aller Mikroorganismen bei einem Menschen oder auch bei einem anderen Lebewesen, und dieses Mikrobiom ist natürlich individuell verschieden. Ein gesundes Mikrobiom im weitesten Sinne des Wortes zeichnet sich sowohl durch eine gewisse Quantität als auch Qualität aus.
Was die Quantität betrifft, so ist die Zahl der Mikroorganismen in und auf unserem Körper ungeheuer beeindruckend: Wir sind von 30 bis 35 Billionen Keimen besiedelt, und allein unser intestinales Mikrobiom wiegt 1,5 Kilo. Im Darm finden sich mit Abstand die meisten Mikroorganismen, aber auch die großen Körperhöhlen (Stirn- und Kieferhöhle), die Haut und die Schleimhäute sind dicht besiedelt. Überhaupt gibt es vermutlich kein Organ ohne mikrobielle Besiedelung.
Die Beeinflussung der Qualität des Mikrobioms geschieht schon früh und ist von vielen Faktoren abhängig. Ein Kind kommt mit einem nahezu sterilen Darm auf die Welt und erst im Zuge der Geburt mit den mütterlichen Keimen in Kontakt. Bei einer natürlichen Geburt wird die erste Besiedelung des Neugeborenen durch das Mikrobiom im Genitaltrakt der Mutter beeinflusst, dies entfällt bei einem Kaiserschnitt. Trotzdem kann man nicht sagen, dass durch Kaiserschnitt zur Welt gekommene Individuen primär ungesünder sind als per vias naturales geborene. Dies lässt darauf schließen, dass der Begriff eines „normalen“ Mikrobioms ein sehr breiter ist.
Das Mikrobiom beeinflusst viele physiologische Prozesse und steht in enger Wechselbeziehung mit dem Immunsystem …
Bleiben wir beim Darmmikrobiom, dessen grundsätzliche Zusammensetzung anatomischen Prinzipien folgt: Im oberen Bereich des Verdauungstraktes (z. B. Dünndarm) finden sich vor allem aerobe, in tieferen Regionen (z. B. Dickdarm) hingegen anaerobe Mikroorganismen. Die in den einzelnen Bereichen siedelnden Mikroorganismen haben völlig unterschiedliche und wichtige Funktionen in der Gesunderhaltung des Darms. So hängen physiologische Prozesse beispielsweise von einem gesunden pH-Wert ab, und dieses Säure-Basen-Verhältnis wird wiederum entscheidend von der Zusammensetzung des Darmmikrobioms bestimmt. Zahl und Funktion der intestinalen Mikroorganismen beeinflussen maßgeblich die Peristaltik des Darms. Darüber hinaus produzieren im Darm ansässige Mikroben wichtige Vitamine sowie Substanzen, die verhindern, dass es zu Entzündungen im Darm kommt. Eine Störung des Darmmikrobioms erhöht demnach – wenig überraschend – die Wahrscheinlichkeit, eine chronisch entzündliche Darmerkrankung zu entwickeln.
Neben den Effekten direkt im Darm kann das intestinale Mikrobiom auch auf andere Organe wirken. So wurde berichtet, dass eine fehlerhafte Zusammensetzung des Darmmikrobioms bestimmte Erkrankungen des zentralen Nervensystems – wie Demenz, Alzheimer oder Autismus – begünstigt. Die vermutlich aufregendste Verbindung ist die zwischen dem intestinalen Mikrobiom und der Immunantwort. Hier wurde beispielsweise gezeigt, dass onkologische Patienten mit intaktem Darmmikrobiom besser auf eine Immuntherapie ansprechen als Patienten, deren Darmmikrobiom beeinträchtigt ist. Das wird sehr spannend werden in den nächsten Jahren!
Lässt sich das Mikrobiom beeinflussen?
Ja, das Mikrobiom ist beeinflussbar, das sehen wir z. B., wenn jemand aufgrund einer schweren Infektion mit Antibiotika behandelt werden muss. Antibiotika greifen nicht nur pathogene Erreger an, sie richten sich auch gegen harmlose Mikroorganismen und beeinflussen damit die Vielfalt des Mikrobioms negativ. Die Einnahme von Antibiotika kann in intestinalen Beschwerden unterschiedlicher Ausprägung resultieren, von gewöhnlicher Diarrhö bis hin zu antibiotikaassoziierter Kolitis. Deswegen ist auch so wichtig, diese potenten und wichtigen Medikamente vernünftig einzusetzen.
Eine Schädigung des Mikrobioms geschieht auch, wenn das Immunsystem massiv unterdrückt wird, wie es z. B. bei immunsuppressiver Therapie oder Chemotherapie der Fall ist. Durch eine antiinfektive Behandlung werden nie 100 % der Erreger abgetötet. Ein kleiner Rest von Mikroben, die gerade nicht stoffwechselaktiv sind oder über Escape-Mechanismen verfügen, bleibt immer übrig. Solche Reservoirs können normalerweise vom Immunsystem in Schach gehalten werden. Bei einem stark unterdrückten Immunsystem kann es jedoch passieren, dass Mikroorganismen, die in geringer Zahl vermutlich überhaupt keinen Schaden anrichten würden, plötzlich überwuchern. Das sensible Gleichgewicht zwischen Mikrobiom und Immunsystem verschiebt sich sozusagen zugunsten der Mikroben.
Es gibt auch Versuche, das Mikrobiom positiv zu beeinflussen, z. B. mittels Stuhltransplantation (= fäkale Mikrobiota-Transplantation, FMT). Dabei wird der Stuhl eines gesunden Spenders mittels Endoskopie oder Kapseln in den Darm einer erkrankten Person übertragen. Für eine solche Therapie kommen Patienten unter starker Immunsuppression in Frage, die, z. B. nach Organ- oder allogener Stammzelltransplantation, an schweren C.-difficile-Infektionen, idiopathischer Kolitis oder an einem Reizdarmsyndrom leiden. Der positive Einfluss von Probiotika auf das Darmmikrobiom ist fraglich: Natürlich schadet es nicht, wenn man ein Joghurt mit speziell zugesetzten Bakterienstämmen zu sich nimmt, es ist aber auch kaum vorstellbar, wie es einen Nutzen bringen wird. Dazu müssten die Bakterien in ausreichend großer Menge in einem Lebens- oder Arzneimittel vorkommen, die Passage durch Magen und Dünndarm überstehen und sich gegen die im Dickdarm vorherrschenden Bakterien durchsetzen.
Welche Rolle spielt das Mikrobiom bei gesunder Haut?
Hier kam es in den letzten Jahrzehnten zu einem echten Bewusstseinswandel: Zur Zeit meiner Ausbildung war bekannt, dass es auf der Haut einerseits pathogene Bakterien gibt, die schwere Infektionen verursachen können (z. B. ß-hämolysierende Streptokokken oder Staphylococcus aureus), andererseits aber auch eine Reihe von Kommensalen, darunter ebenfalls Strepto- und Staphylokokken-Spezies, die auf der Haut leben, ohne Schaden anzurichten. Der große Wandel die Rolle des kutanen Mikrobioms betreffend kam in den 1990er-Jahren mit der Entdeckung, dass körpereigene Hautzellen sogenannte antimikrobielle Peptide (AMP) produzieren können. Diesen „körpereigenen Antibiotika“ ist es zu verdanken, dass wir, obwohl ständig allen möglichen Mikroorganismen ausgesetzt, nur relativ selten Infektionen entwickeln. Darüber hinaus wurden zahlreiche apathogene Mikroorganismen entdeckt, die auf und in der Haut siedeln und für die Funktionstüchtigkeit des Hautorgans, vielleicht sogar anderer Organe, verantwortlich sind. Dies geschieht über zwei Mechanismen: Zum einen sind manche apathogene Vertreter des kutanen Mikrobioms wie z. B. Staphylococcus hominis ebenfalls zur Produktion von AMP fähig und können so pathogene Bakterien abtöten. Zum anderen können sie, wenn in ausreichender Zahl vorhanden, eine klinisch nichtsichtbare Immunantwort auslösen, die sich gegen pathogene Erreger richtet.
Wie verhält sich das Mikrobiom bei verschiedenen Hauterkrankungen?
Schauen wir uns die atopische Dermatitis und die Psoriasis an, beides hochentzündliche Hautkrankheiten. Während fast alle AD-Patienten an kutanen Staphylococcus-aureus-Infektionen leiden, kommt es bei PsO-Patienten nahezu nie zu Hautinfektionen. Das liegt daran, dass AD-Patienten ein gestörtes Mikrobiom und dadurch eine stark verringerte AMP-Produktion aufweisen. Das Resultat sind häufige Hautinfektionen. Bei der PsO hingegen ist das Hautmikrobiom weitgehend intakt, es werden ausreichend AMP produziert, um Hautinfektionen effektiv entgegenzuwirken.
Haben derzeit in Verwendung befindliche dermatologische Therapien Auswirkungen auf das Mikrobiom der Haut?
Bleiben wir bei der AD, die wie andere atopische Erkrankungen von einer Typ-2-Immunantwort gekennzeichnet ist. Wird das Immunmilieu eines Organs – wir sprechen hier von der Haut – zu stark in die Typ-2-Richtung gedrängt, beeinflusst das die Ausbildung jener Mechanismen negativ, welche für ein gesundes Mikrobiom notwendig sind. Die massive Einschränkung der Qualität und vor allem der Diversität des Mikrobioms bei Atopikern und die Typ-2-Entzündung scheinen also zusammenzuhängen. Bei den wichtigsten Säulen der AD-Pathogenese – Dysbiose, Hautbarriere, Typ-2-Entzündnung – stellt sich immer die große Frage: Was ist Henne, was ist Ei? Was das Mikrobiom und die Typ-2-Entzündung betrifft, kennen wir die Antwort. Hemmt man die Typ-2-Entzündung mit dem monoklonalen, gegen die Typ-2-Zytokine IL-4 und IL-13 gerichteten Antikörper Dupilumab, gehen die für AD typischen Staphylococcus-aureus-Infektionen zurück, und die Vielfalt des Mikrobioms nimmt deutlich zu. In anderen Worten: Wenn wir die aus der Balance geratene Immunantwort wieder ins Gleichgewicht bringen, z. B. mittels geeigneter Therapien, normalisiert sich auch das Mikrobiom.
Bietet sich das Hautmikrobiom selbst als Target für neue Therapien an?
So wie Stuhltransplantationen bei einem gestörten Darmmikrobiom könnten Hauttransplantationen bei einem gestörten kutanen Mikrobiom helfen. Dementsprechend gibt es Überlegungen, Patienten mit ausgedünntem Hautmikrobiom (dazu zählen AD-Patienten) gesunde Hautbakterien zu „transplantieren“. Dieser Ansatz befindet sich derzeit noch in der frühen Phase der klinischen Erprobung; aktuell laufende Studien evaluieren verschiedene Carriers, wie Cremes oder Liposomen, die eine möglichst effektive Mikrobiom-Transplantation ermöglichen.
Danke für das Gespräch