Stadt und Land, alt und jung, arm und reich – ein gewisses Maß an „Gefälle“ oder Ungleichheit ist wohl in kaum einem gesellschaftlichen System zu vermeiden. Besonders evident und bedrohlich erscheint es aber dort, wo die persönliche Betroffenheit hoch ist und es sozusagen um „Leib und Leben“ geht, nämlich im Gesundheitswesen. Es widerspricht dem Solidaritätsprinzip, aber vor allem auch der Volksseele, dass nur der eine gute Versorgung bekommen soll, der sich das auch leisten kann.
Ein Blick ins Detail zeigt, dass oft Einzelschicksale als Stellvertreter für „das Systemversagen“ herhalten müssen. Lange Wartezeiten in Ambulanzen und Ordinationen werden mit Wartezeiten für Operationen vermengt. Alles in allem ist aber dennoch ein Trend spürbar, der nicht nur bei Patienten, sondern auch bei Politikern, Medizinern und Systemkennern als „besorgniserregend“ eingestuft wird: Ja, es gibt sie, die Bevorzugung jener, die mehr Geld in die Hand nehmen können und wollen, um sich im Gesundheitssystem eine „bessere Versorgung“ zu erkaufen. Zwei beispielhafte Indizien sprechen deutlich dafür: In Österreich haben etwa mehr als 1,5 Millionen Menschen eine zusätzliche private Krankenversicherung abgeschlossen. Und die Zahl der Wahlärzte steigt, wie aus den Daten von Ärztekammer und Hauptverband hervorgeht, die bis ins Jahr 1995 zurückreichen. Demnach gab es im Jahr 2000 noch knapp 5.000 Ärzte mit Ordination ohne Kassen, mittlerweile hat sich die Zahl verdoppelt.
Was in der Eisenbahn oder im Flugzeug schon längst gang und gäbe ist und nicht weiter für Diskussionsstoff sorgt, lässt im Gesundheitswesen regelmäßig die Wogen hochgehen. Aus juristischer Sicht müssen Privatpatienten die gleiche Behandlung erhalten wie alle anderen Versicherten auch. Es wäre aber kaum überraschend, wenn es nicht Ausnahmen von dieser Regel gäbe. Umstritten sind aber nach wie vor die konkreten Auswirkungen, die eine Zweiklassenmedizin langfristig mit sich bringt. Vielleicht wäre es auch wichtig, die Frage zu stellen, was Menschen tatsächlich käuflich erwerben möchten: eine bessere medizinische Behandlung? Mehr Zeit und Zuwendung? Mehr Hotelleistungen im Spital? Kürzere Wartezeiten? In jedem Fall werden die Ärzte dazu degradiert, diesen Mangel bestmöglich zu verwalten. Unzufrieden sind unterm Strich schließlich die im Kern Betroffenen alle: die Patienten genauso wie die Ärzte. Als unfair und ungerecht darf das System auch bezeichnet werden, wenn alle, die einzahlen, nicht darauf zählen können, dass sie auch im Bedarfsfall zeitnah versorgt werden. Unfair und ungerecht ist es wohl auch, wenn Ärzte am Fließband ihre Patienten durch die Ordination schleusen müssen, um auf ein vernünftiges Grundgehalt zu kommen.
Einklassenmedizin und Mehrklassenservice
„Wir haben in Österreich eine Einklassenmedizin für die Basisversorgung, denn jeder Versicherte erhält den gleichen Zugang zu den Gesundheitsleistungen, unabhängig von Alter, Wohnort, Herkunft und sozialem Status“, beschreibt Mag. Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK), die Theorie des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG). Festgeschrieben ist auch, dass die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, aber das notwendige Maß nicht überschreiten darf. „Gleichzeitig haben wir auch eine Mehrklassenmedizin oder besser ein Mehrklassenservice, zum Beispiel für die Hotelkomponenten im Spital“, so Reischl weiter. Insgesamt ortet die Expertin, dass die Diskussion um die Wahlärzte irreführend ist, denn: „Die Frage der Versorgungswirksamkeit dieser Angebote wird immer ausgeblendet.“ Viel hilft offensichtlich auch in diesem Fall nicht viel. Im ambulanten Bereich werden 4,8% Wahlärzte verzeichnet und in der Allgemeinmedizin 1,9%. „Der Anteil der Versorgung durch Wahlärzte ist in allen Fachgruppen in den letzten fünf Jahren konstant geblieben. 80% der Wahlärzte liegen bei der Honorarerstattung unter 10.000 Euro pro Jahr“, resümiert die WGKK-Obfrau. An Lösungen verspricht Reischl zu arbeiten, wenn es um die künstliche Terminverknappung bei dringend notwendige Untersuchungen wie MRT oder CT geht: „Für akute Fälle wird es immer Time Slots geben“, so Reischl. Dennoch wird es sich nach Ansicht der Expertin kein Land der Welt leisten können, Ärzte zu jeder Zeit auf „Stand-by“ zu halten, alle Wünsche und Ansprüche der Patienten zu erfüllen. „Wer im Vorhinein weiß, dass er einen nicht zeitkritischen Kontrolltermin benötigt, der muss eben rechtzeitig auch ein paar Monate im Vorhinein planen.“ Den größten Hebel gegen die Zweiklassenmedizin sieht sie in der Stärkung der Primärversorgung.
Demografie und Ärztedichte
Die demografische Entwicklung ist oft ein Argument, das ins Treffen gebracht wird, wenn es um die wachsenden Ansprüche an die medizinische Versorgung geht. Doch in puncto Ärztedichte ist Österreich eine Insel der Seligen, denn auf 1.000 Einwohner kommen 4,9 Ärzte. Im OECD-Schnitt sind es lediglich 3,7. Und während die Bevölkerung in den letzten 40 Jahren in Österreich um 13% zugenommen hat, ist die Zahl der Ärzte im selben Zeitraum um rund 300% gestiegen. Allein 176% mehr Kassenärzte stehen für die Behandlung der Patienten zur Verfügung. „Diese Wachstumsraten sind seit dem Jahr 2000 ein wenig abgeflacht, dennoch sind 27% mehr Allgemeinmediziner und 52% mehr Fachärzte im System“, beziffert Dr. Clemens Auer, Sektionsleiter Sektion I (Gesundheitssystem, zentrale Koordination), Bundesministerium für Gesundheit und Frauen, den Markt. Damit liegt Österreich im Hinblick auf die Ärztedichte an zweiter Stelle der OECD-Länder. „Aus ökonomischer Sicht gibt es hier eine große Kluft, denn die Ärzte, die hier in den Markt gekommen sind, wollen auch entsprechend entlohnt werden und einer Beschäftigung nachgehen“, betont Auer und hält es für wenig verwunderlich, dass eben der Wahlarztsektor dramatisch angestiegen ist, denn: „Spitäler haben nicht mehr Stellen, die Krankenkassen nicht mehr Verträge, und so hat sich unter Beibehaltung des Grundkonsenses über das Sachleistungs- und Solidaritätsprinzip eine schleichende Privatisierung eingestellt.“ Die Politik sieht wenig Chancen, regulierend einzugreifen, wenn es um den zwischen der Ärztekammer und dem Hauptverband ausgehandelten Gesamtvertrag geht. „Hier gibt es deutliche Steuerungsschwächen des Selbstverwaltungssystems“, stellt Auer fest. Wenn das Solidarsystem als gesellschafspolitischer Wert erhalten bleiben soll, wird an einer Abkehr von der „beruflichen Einsamkeit“ in der Einzelordination auch kein Weg vorbeiführen.
Ärzte wollen Kassenverträge
Auch Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer für Wien, weiß um die Existenz der Zweiklassenmedizin, doch schränkt er ein: „Das gilt keinesfalls bei Unfällen oder schweren Erkrankungen.“ Je kräftiger jedoch im Gesundheitssystem der Sparstift angesetzt wird, umso schwieriger wird eine adäquate Behandlung in einem vernünftigen Zeithorizont bei elektiven Eingriffen. Doch glaubt der Ärztekammerpräsident nicht an die angebotsinduzierte Nachfrage, sondern eher an die Marktmacht, denn: „Gäbe es kurze Wartezeiten beim Kassenarzt, würde niemand einen Wahlarztbesuch aus der eigenen Tasche bezahlen, der ohnehin schon seine Sozialversicherungsbeiträge bezahlt hat.“ Er ist auch überzeugt, dass die Mehrheit der Ärzte lieber in einem Sozialversicherungssystem Patienten behandelt, als in ein privates auszuweichen. Daher fordert Szekeres auch mehr Kassenstellen, vor allem in der Bundeshauptstadt, wenn im Spitalssektor eingespart wird. Und er spricht auch deutlich das soziale Gefälle an: „Der Zugang zu leistbarer Krankenbehandlung darf die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch größer machen.“
Szekeres spricht klar aus, dass die Ärztekammer ihre Unterstützung bei Systemverbesserungen anbietet, aber sich gegen Einzelverträge und Primärversorgungszentren im Eigentum von Venture Fonds wehrt. „Das geht auf Kosten der Patienten, denn hier steht nur die Ökonomie im Vordergrund“, meint der Ärztekammerpräsident. Dazu wäre es notwendig, auch im eigenen Berufsstand dafür zu werben, dass die Sachleistungsmedizin und öffentlich organisierte Medizin eine hochwertige Medizin ist.
Quelle: 80. Gesundheitspolitisches Forum „Zwei-Klassen-Medizin in Österreich: Realität oder ein Mythos?“