Europäische Referenznetzwerke für Seltene Erkrankungen: Bündelung von Expertise

Sie sind selten, erhalten wegen ihrer Seltenheit weniger Aufmerksamkeit und sind in der Regel sehr komplex und heterogen. Das sind die – wenigen – Gemeinsamkeiten von seltenen Erkrankungen. Es gibt nicht eine typische Erkrankung, es handelt sich um viele, meist schwere Erkrankungsbilder, die häufig auch verschiedene Organsysteme betreffen und beeinträchtigen; meist sind sie chronisch. Definiert sind sie mit einer Häufigkeit von nicht mehr als 1 : 2.000 – damit selten, in Summe sind sie jedoch häufig: Bei einer geschätzten Zahl von 6.000 bis 8.000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen sind es laut Schätzungen der Europäischen Kommission doch 5–8% der Bevölkerung, die von SE betroffen sind. Hinter all diesen Zahlen stehen Menschen mit oftmals langem Leidensweg, langem Weg bis zur Diagnose, oft ohne verfügbare Therapiemöglichkeiten.

Fortschritte in Österreich und in Europa

In den letzten Jahren ist nun einiges in Bewegung geraten, und Seltene Erkrankungen sind vom Schattendasein ins Zentrum der Bemühungen gerückt (siehe Klinik 5/2014, 18 ff., 20 ff., Klinik 6/2013, 14 ff.). Das gilt auf nationaler Ebene, wo der nationale Aktionsplan für Seltene Erkrankungen (NAPse), der – nach jahrelangen Vorarbeiten und nach noch längerem Feintuning mit allen Stakeholdern – Anfang des Jahres (endlich!) publiziert wurde, nun schrittweise umgesetzt werden soll.

Vernetzt statt verwaist

Fortschritte gibt es aber vor allem auch auf europäischer Ebene, wo das Konzept der europäischen Referenznetzwerke und Expertisezentren nun sukzessive umgesetzt wird.
Die Arbeiten konzentrieren sich derzeit auf die Designation von thematisch übergeordneten Referenznetzwerken für mehrere Gruppen Seltener Erkrankungen, die Patienten mit einer seltenen Erkrankung und ihren Ärzten Zugang zu maximaler Expertise ermöglichen sollen – im Inland oder bei Bedarf im europäischen Ausland. „Letztlich geht es – wenn das notwendig ist – auch um die Möglichkeit, Patienten grenzüberschreitend, d. h. in einem Zentrum in einem anderen Land, zu behandeln“, wie Österreichs unerschütterlicher Vorkämpfer der Orphan Diseases, Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Till Voigtländer, Medizinische Universität Wien, erläutert.

Europäische Referenznetzwerke

Gesetzliche Basis für die Referenznetzwerke ist zum einen die Richtlinie für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung aus dem Jahr 2011 (Cross-border Healthcare Directive), die dann in den Mitgliedstaaten bis 2013 umgesetzt wurde. Hinzu kamen zum anderen noch zwei Detaildokumente, die die zu erfüllenden Leistungs- und Qualitätskriterien für teilnehmende Zentren sowie den Prozessablauf für die Einrichtung dieser Referenznetzwerke formal beschrieben und festgelegt haben (der sogenannte Delegiertenbeschluss und der Durchführungsbeschluss). Beide Dokumente traten 2014 in Kraft.

Board of Member States. Als Steuerungsgremium wurde ein „Board of Member States“ für europäische Referenznetzwerke implementiert. In diesem sind Vertreter der Gesundheitsbehörden der 28 Mitgliedstaaten vertreten, jedes Mitgliedsland hat eine Stimme. Den Vorsitz teilen sich ein Vertreter der EU-Kommission und Till Voigtländer, der von den Repräsentanten der 28 Mitgliedstaaten in diese Funktion gewählt wurde.
Dieses Board of Member States hat die Aufgabe, die letzten Vorbereitungsschritte in der Designation der Referenznetzwerke zu begleiten (Stichwort: Bewerbungs- und Evaluationsprozess). Die entscheidende Funktion wird am Ende des Prozesses sein, denn dann entscheidet das Board of Member States (und nicht die EU-Kommission!) über die Designation zu einem Referenznetzwerk.

 

 

Medizinische und politische Entscheidung

Beschickt wird das Board of Member States überwiegend mit Beamten aus den jeweiligen Gesundheitsministerien, bei kleinern Mitgliedstaaten sind es oft auch Mediziner, die im Auftrag des Ministeriums ihr Land vertreten. Die Entscheidung, ob ein Begutachtungsvorschlag angenommen und ein Referenznetzwerk eingerichtet wird, ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesundheitspolitische, wie Voigtländer erläutert. Denn schließlich geht es um eine nachhaltige Perspektive. Ein entscheidender Schritt liegt daher schon am Anfang des Bewerbungsprozesses. „Die sich bewerbenden Zentren müssen eine Bestätigung ihrer kompetenten Gesundheitsautorität haben, dass das Mitgliedsland diese Bewerbung unterstützt.“ Der Gedanke dahinter: „Referenznetzwerke sollen etwas Langfristiges sein, da muss auch eine Gewährleistung und ein gesundheitspolitisches und gesundheitsökonomisches Bekenntnis gegeben sein, ein Zentrum an einem bestimmten Standort längerfristig unterstützen zu wollen. Insofern spielen mehr als medizinische Gründe hinein“, erläutert Voigtländer.
Konkret ist gedacht, dass sich mehrere Expertisezentren für bestimmte Erkrankungen zu einem europäischen Netzwerk zusammenschließen, alle erforderlichen Unterlagen, inklusiver der Unterstützung der jeweiligen nationalen Gesundheitsbehörden, einreichen und sich als europäisches Referenznetzwerk bewerben.

Verfahrensdetails

„All das ist eine neue Dimension für Europa, es ist daher auch ein bisschen Learning by Doing“, sagt Voigtländer. Die grundlegenden Gesetzestexte gibt es bereits. Die konkreten Bewerbungsunterlagen und konkreten Kriterien sind derzeit in Ausarbeitung. Im Laufen ist ferner bereits die Ausschreibung für multinationale Institutionen, die die Begutachtung durchführen sollen. Hier ist geplant, mehrere solcher Institutionen zu akkreditieren.
Der Zeitplan sieht vor, dass bis Ende des Jahres die Bewerbungsunterlagen fertig gestellt sind. Ende des 1. Quartals 2016 sollen die begutachtenden Institutionen feststehen und die Ausschreibungen für Referenznetzwerke erfolgen, im 2. Quartal die Begutachtung und im 3. Quartal die Entscheidung im Board of Member States erfolgen.
Wenn also alles läuft wie geplant, sollten Ende nächsten Jahres endlich die ersten europäischen Referenznetzwerke implementiert werden.

 

Im Portrait

Österreichische Expertise in der EU

Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Till Voigtländer, ­Klinisches Institut für Neurologie der Medizinischen Universität Wien, ist seit 2004 österreichischer Projekt­koordinator von Orphanet, dem internationalen Referenzportal für Seltene Erkrankungen. In dieser Funktion war er nicht nur der Vorreiter im ­Bemühen um mehr Bewusstsein für Seltene Erkrankungen, sondern ist auch die treibende und – über Institutionsgrenzen hinweg – koordinierende Kraft im Bestreben um eine bessere Verankerung der seltenen ­Erkrankungen im österreichischen Gesundheitssystem.
2011 wurde er zum fachlich-inhaltlichen Leiter der Nationalen Koordinationsstelle für Seltene Erkrankungen (NKSE) bestellt, die das Bundes­ministerium für Gesundheit an der GÖG (Gesundheit Österreich GmbH) einrichtete.
Der Front Man Österreichs bei entsprechenden europäischen Gremien und Tagungen koordiniert seit heuer auch die gesamteuropäischen Interessen: Als vom BMG delegierter Vertreter Österreichs im europäischen Board of Member States, das mit der Designation von europäischen Referenznetz­werken betraut ist (siehe Beitrag links), wurde er von den Vertretern der 28 Mitgliedstaaten nun zum ­Vorsitzenden gewählt.

Die Vernetzung und Bündelung der europäischen Expertise erfolgt somit unter (wahl-)österreichischem Vorsitz.
Till Voigtländer ist in Duisburg, Deutschland, geboren und lebt seit 17 Jahren in Österreich.

 

Interview mit: Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Till Voigtländer

Klinisches Institut für Neurologie der Medizinischen Universität Wien


AutorIn: Susanne Hinger

Klinik 05|2015

Herausgeber: MedMedia Verlag und Mediaservice GmbH
Publikationsdatum: 2015-11-11