Primärversorgung geht uns alle an. – mit diesem Statement wurde das 89. Gesundheitspolitische Forum kürzlich in Wien eröffnet und bringt damit auch gleich auf den Punkt, woran es einmal mehr krankt: Im Gesundheitswesen ist es schwierig, einen Konsens zu finden. Zu komplex sind Strukturen, Finanzströme und Interessenlagen. Zudem rüttelt die Primärversorgung tiefer an der extra- und intramuralen Versorgungsverteilung, als es auf den ersten Blick scheint. Ob Ambulanzen entlastet werden können, ob das Hausarztdasein zum Aussterben verurteilt ist oder ob Patienten nicht auch am Telefon gut behandelt werden könnten, wird ebenso hinterfragt wie die Tatsache, dass die ärztliche Freiberuflichkeit ins Wanken gerät oder ob Primärversorgungseinheiten überhaupt in einem Gebäude oder auch als virtuelles Netzwerk arbeiten können. Angesichts der 70 Kassenplanstellen, die derzeit in Österreich nicht nachbesetzt werden können, sollte zumindest der Patient wieder in den Mittelpunkt rücken und die Frage gestellt werden, was es überhaupt braucht, um Herrn und Frau Österreicher bestmöglich zu versorgen.
Gut Ding braucht Weile
Es war eine schwere Geburt, so kann man die Gesetzeswerdung des Primärversorgungsgesetzes (PrimVG) wohl zusammenfassen. Das Ergebnis monatelanger Verhandlungen, teils unter heftigen Protesten der Ärzteschaft, ist ein 17 Paragrafen umfassendes Gesetz, das – so ist es in § 1 zu lesen – die Primärversorgung in Österreich regelt. Die Wurzeln dieses Werkes reichen bis ins Jahr 2012 zurück, wo in den Gesundheitszielen in einem Nebensatz vereinbart wurde, dass ein Ziel die Stärkung der Primärversorgung im niedergelassenen Bereich ist. „Aus diesem Satz wurde das wohl größte gesundheitspolitische Unterfangen der letzten Jahre, wenn man die Diskussion verfolgt“, ist ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), überzeugt. Eine Konkretisierung erfolgte 2013 im Bundeszielsteuerungsvertrag: Ein Konzept zur Stärkung der Primärversorgung war gefordert, das – so das engagierte Ziel – innerhalb eines Jahres in ein Gesetz gegossen werden sollte. Bis Ende 2016 sollte 1% der Bevölkerung – also 80.000 Menschen – in den Primärversorgungseinheiten versorgt werden. Mit der Neuverhandlung der §15a-Vereinbarung wurde nun festgelegt, dass bis zum Jahr 2021, also bis zur nächsten Finanzausgleichsperiode, 75 Primärversorgungseinheiten (PVE) ins Leben gerufen werden sollen. Damit das in die Gänge kommt, wird auch Geld in die Hand genommen: 200 Millionen Euro „Anschubfinanzierung“ sollen in das Projekt fließen. „75 Netzwerke würden rund 10% der Bevölkerung versorgen. Für vergleichbare ärztliche Leistungen zahlen wir derzeit rund 3,5 Milliarden Euro“, rechnet Ostermann vor und ergänzt: „Das Gesetz hilft, die Rahmbedingungen für die flächendeckende Verteilung der 200 Millionen zu schaffen, schafft Rechtssicherheit für Ärzte und andere Gesundheitsberufe und ist Grundlage für die Vertragsgestaltung.“ Das Versorgungs- und Aufgabenprofil der PVE soll eindeutig Versorgungsdefizite adressieren und einen populationsbezogenen Ansatz aufweisen. „Das Gesetz gibt uns Chancen, mehr Verbindlichkeit und mehr Sicherheit. Am Ende liegt es an uns allen, die Möglichkeiten, die es bietet, auch richtig zu nutzen“, ist Ostermann überzeugt.
PVE ist keine Ehe
Weitaus weniger wichtig sieht ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, den Gesetzwerdungsprozess: „Mariahilf ist das beste Beispiel, denn dieses Vorzeige-PHC hat schon lange vor dem Gesetz funktioniert.“ Die Themen Formalisierung und Verbindlichkeit hören Ärzte in diesem Zusammenhang nicht so gerne, wie Szekeres bestätig. Und außerdem sei ein PHC kein Konstrukt, um das sich die Ärzte besonders drängen: „Im 22. Bezirk mussten wir dreimal ausschreiben, bis sich jemand gefunden hat.“ Mutig findet der Ärztekammerpräsident die drei Ärztinnen, die sich jetzt des PHC angenommen haben, denn: „Die drei kannten sich vorher beruflich nicht, und wie wir wissen, sind Geschäftsbeziehungen auch immer mit einem Risiko behaftet.“ Wer später einmal eine gemeinsame Kassenordination auftrennen möchte, hat es scheinbar schwieriger, als eine Ehescheidung zu vollziehen. „Wir wollen hier bessere Ausstiegsszenarien, und wir wollen, dass Ärzte andere Ärzte anstellen können. Ob das Gesetz etwas taugt, wird die Praxis zeigen“, resümiert Szekeres. Bei all der Diskussion um die Ausgestaltung der Zentren will der Ärztekammerpräsident jedenfalls den Freien Beruf des Arztes nicht aus den Augen lassen. „Ärzte sollen keineswegs bei Baufirmen angestellt werden, die als Betreiber von PVE auftreten“, so seine Befürchtungen.
Für eine neue Flexibilität
Dass sich die Versorgungssicherheit in den letzten zehn Jahren in Österreich enorm weiterentwickelt hat, daran besteht kein Zweifel. „Die Versicherten schätzen die Gesundheitsleistungen in unserem Land. Auch wenn es nicht billig ist, wir können stolz darauf sein“, sagt Dr. Alexander Biach, Verbandsvorsitzender, Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Bei aller Erwartungshaltung wird aber aus seiner Sicht auch die Schaffung von PVE nicht ausreichen, um die Wünsche der Patienten zu erfüllen. „Keine Wartezeiten bei der Behandlung, eine 24-Stunden-Versorgung und hohe Sicherheit am Best-Point-of-Service kann auch eine PVE nicht erfüllen“, so Biach. Nachdem sich auch aufseiten der Ärzte die Erwartungshaltung geändert hat – viele wollen in flexiblen, multidisziplinären Teams und Teilzeitmodellen tätig sein –, haben PVE aber dennoch viel zu bieten, was es derzeit nicht gibt. „Es ist aber nur eine Antwort auf die vielen offenen Fragen in der Versorgungskette. Es ist ein symbolischer Akt, dass wir in ein neues Zeitalter gehen, das wir erst mit neuen Facetten füllen müssen“, ist der Verbandsvorsitzende überzeugt. Bei 75 neu zu gründenden PVE sollten seiner Ansicht nach auch die 200 Millionen Anschubfinanzierung ein ausreichend großer Motivator sein: „Immerhin sind das 2,6 Millionen pro PVE. Das sollte doch die Gründung wesentlich erleichtern.“ Zudem können die kommenden Jungunternehmer von den bisherigen Erfahrungen profitieren: „Wir haben noch ein paar Hausaufgaben zu machen, was die Sicherheit, die Planbarkeit oder den Ausstieg betrifft, aber ich bin überzeugt, dass wir für Ärzte und Patienten die passende Lösung finden werden“, sagt Biach. Auch der stufenweise Ausbau der Primärversorgung ist für den Experten ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, etwa durch die telefonische Patientenlenkung via TEWEB. Ziel ist es, der Versorgung systematisch auf den Grund zu gehen und die Patienten so zu lenken, dass sie schnell und bestmöglich versorgt werden.Woher die viel zitierte Anschubfinanzierung dafür kommen wird, darüber sind sich die Experten noch nicht ganz einig. „Ein Teil ist von der Landeszielsteuerungskommission reserviert, aber das sind nicht nur Gelder, die von der Sozialversicherung alleine kommen können“, so Biach. Es wird auch „frisches“ Geld aus den Bundesländern erwartet. Zusätzlich hat das Gesundheitsministerium den Start einer Gründungsinitiative angekündigt, um Ärzte bei der Errichtung von Primärversorgungseinheiten zu unterstützen. Die Mediziner sollen in rechtlichen, inhaltlich-organisatorischen und finanziellen Fragen beraten werden. „Letztendlich ist es egal, woher das Geld kommt und wie viel es ist. Es gibt Initiativen, die gerade ins Laufen kommen, und wir müssen aus all diesen Projekten lernen und die Potenziale der Primärversorgung erkennen“, fordert Ostermann. Wenig Verständnis hat er dafür, dass das Gesetz „zu formalistisch“ sei, denn: „Es gibt einen Rahmen vor; wie der zu füllen ist, kann in Tirol ganz anders aussehen als in Ballungszentren oder in Gegenden, die eine hohe Diabetikerrate haben.“ Innerhalb der GÖG werden aktuell regionale Versorgungsprofile erstellt, die eben genau diese Anforderungen abbilden sollen und für die weitere Entwicklung von PVE wichtige Informationen liefern werden.