Frühstadium chronischer Nierenerkrankungen: Aktueller Stand der Diagnostik und Therapie

Die höchste Prävalenz von Nierenerkrankungen haben Patienten mit Diabetes mellitus. Es gibt keine genauen Daten zur Prävalenz des Typ-2-Diabetes, in Analogie zu anderen europäischen Registerdaten dürfte die Zahl aber zwischen 5 und 8% liegen1, 2. Etwa ein Drittel aller Patienten mit Diabetes, das sind in Österreich somit etwa 200.000 Personen, dürfte an einer Nephropathie leiden3 (siehe auch Abbildung 1 im Beitrag „Chronische Nierenerkrankung: Epidemiologie und neue Risikofaktoren“). Bei diesen Patienten liegen entweder bereits eine eingeschränkte exkretorische Nierenfunktion oder/und eine Albuminurie vor. Diese beiden Parameter werden daher derzeit als Standardmarker für die Evaluation dieser hochprävalenten Erkrankung und den Therapieerfolg bestimmt. Eine frühe Diagnose einer Nierenschädigung vor allem bei Patienten mit Diabetes ist sehr wesentlich, da eine Nephropathie sowohl die Prognose massiv verschlechtert als auch die Therapie beeinflusst. So wird von Leitlinien empfohlen, bei Patienten mit Typ-2-Diabetes zum Zeitpunkt der Diagnosestellung mit einem regelmäßigen Mikroalbuminurie-Screening zu beginnen.
Die Reduktion der Albuminurie dient aber auch als Surrogatparameter für die Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention, da es üblicherweise Jahre dauert, bis ein eindeutiger GFR-Verlust bis zur terminalen Niereninsuffizienz nachzuweisen ist. Primärpräventions- und Interventionsstudien in frühen Diabetesstadien haben meist eine wesentlich kürzere Beobachtungszeit. Wenn man nun aber postuliert, dass eine Nephropathie bei Diabetikern immer dem klassischen Schema Hyperfiltration – Mikroalbuminurie – Albuminurie – Abfall der GFR – terminale Niereninsuffizienz folgt, kann man auch davon ausgehen, dass eine Therapie, die z. B. das Auftreten einer Mikroalbuminurie verhindert, längerfristig die GFR stabilisiert. Andererseits können Interventionen, die die Albuminurie nicht beeinflussen oder diese sogar verstärken, rasch als potentiell nephrotoxisch erkannt werden – selbst wenn sie die GFR nicht unmittelbar verändern. Wie in rezenten Studien allerdings auch klar sichtbar wurde, ist eine kurzfristige Reduktion der Albuminurie unter Therapie nicht immer ein guter Marker für die Progressionsverzögerung der terminalen Nierenerkrankung. In den Studien ONTARGET und ALTITUDE war das Gegenteil der Fall: Eine frühe Reduktion der Albuminurie durch mehrfache RAS-Blockade erhöhte die Progressionsrate4, 5. Aufgrund der Ergebnisse dieser Studien müssen einige Fragen gestellt werden:

  1. Leiden tatsächlich alle Patienten mit Diabetes mellitus und einer reduzierten Nierenfunktion an einer „klassischen“ diabetischen Nephropathie?
  2. Wenn dies nicht der Fall ist, bleibt die Albuminurie trotzdem ein geeigneter Surrogatparameter für die Einschätzung des individuellen Risikos und der Effizienz einer Therapie?
  3. Gibt es Situationen, in denen (alleine oder zusätzlich) andere Parameter (wie z. B. die GFR) a priori mit berücksichtigt werden müssen?

Landmarkstudien zum Verlauf der Nephropathie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes

In der UKPDS entwickelten 38 % der Teilnehmer innerhalb von 15 Jahren eine Mikro- oder Makroalbuminurie. Bei 28% sank die (nach Cockcroft und Gault geschätzte) Kreatininclearance unter 60 ml/min, wobei nur 51% dieser Patienten vorher eine Albuminurie hatten6. Auch in der NHANES-III-Erhebung hatten nur 45 % der Diabetiker mit einer GFR unter 60 ml/min/1.73m2 eine Mikro- oder Makroalbuminurie7, in einer Studie von Thomas et al. waren es 55 %8. Nicht ganz überraschend ist daher auch, dass bei Typ-2-Diabetikern eine Albuminurie und eine reduzierte eGFR unabhängige Risikofaktoren für kardiovas kuläre, aber auch renale Endpunkte sind9. In der ACCORD-Studie entwickelten von 2.894 normoalbuminurischen Patienten 429 eine Mikro- und 44 eine Makroalbuminurie. Bei 33 Patienten stieg das Serumkreatinin über 3 mg% an, oder es trat eine Dialysepflichtigkeit ein, ohne dass jemals eine erhöhte Albuminurie beobachtet wurde; dies war nur bei 3 Patienten mit Albuminurieanamnese der Fall. Diese Studie zeigt, dass im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes bei Typ-2-Diabetes ein GFR-Verlust bei Normoalbuminurie auch zu schweren Nierenerkrankungen führt und der Abfall der GFR bei dieser Form der Nephropathie sogar rascher erfolgt als bei „klassischer“ diabetischer Nephropathie10.
All diese Daten stehen offenbar im Widerspruch zum Ergebnis der Studien bei Pima-Indianern, bei denen die GFR hoch blieb, solange keine Makroalbuminurie auftrat11.
Dafür gibt es zumindest zwei Erklärungsmöglichkeiten. Einerseits ist bekannt, dass bei weitem nicht alle, sondern wahrscheinlich nur 30–50 % der Typ-2-Diabetiker mit eingeschränkter Nierenfunktion histologisch Zeichen einer diabetischen Nephropathie aufweisen12. Folgt man diesem Ansatz, dann würde dies bedeuten, dass der Wert von Therapieschemata und Surrogatendpunkten, die bei „klassischer“ diabetischer Nephropoathie akzeptiert sind, bei mehr als der Hälfte der Typ-2-Diabetiker mit Nephropathie unklar ist. Eine andere Erklärungsmöglichkeit wäre, dass moderne, kombinierte und intensivierte Therapieverfahren den „klassischen“ Verlauf der diabetischen Nephropathie verändern. Gegen diese Theorie spricht, dass in der STENO-II-Studie eine aggressive multifaktorielle Therapie bei mikroalbuminurischen Typ-2-Diabetikern zwar das Risiko einer Nephropathie um 61 % reduzierte, wenn man diese nach den klassischen Kriterien als Inzidenz einer Makroalbuminurie definiert; der doch deutliche Abfall der GFR um 30 ml/min während der Beobachtungszeit wurde aber nicht beeinflusst13.
Offensichtlich ist der Verlauf der Nierenerkrankung bei Patienten mit Diabetes heterogen, und die Albuminurie als einziger Prognoseparameter genügt nicht für eine ausreichend genaue Einschätzung des Risikos und der Therapieeffizienz. In Kombination mit der GFR ist die Vorhersage besser, allerdings wäre ein Panel von komplementären Biomarkern sehr hilfreich, um die Präzision der Vorhersage zu erhöhen.

 

1 Prevention, C.D.C., National Diabetes Fact Sheet: national estimates and general information on diabetes and prediabetes in the United States, in Annual Report, Department of Health and Human Services 2011.
2 Women, AFMoa, EU Conference on Prevention of Type 2 Diabetes, in: Conference Report 2006.
3 Hronsky M et al., Population-based estimation of Prevalence and Incidence of CKD in Diabetic Patients in Austria, in SysKid Ann Meeting Bergamo 2012.
4 Yusuf S et al., Telmisartan, ramipril, or both in patients at high risk for vascular events. The New England journal of medicine, 2008. 358(15): p. 1547–59.
5 ALTITUDE. Available from: http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/ Press_release/2011/12/WC500119982.pdf.
6 Retnakaran R et al., Risk factors for renal dysfunction in type 2 diabetes: U.K. Prospective Diabetes Study 74. Diabetes, 2006. 55(6): p. 1832–9.
7 Kramer HJ et al., Renal insufficiency in the absence of albuminuria and retinopathy among adults with type 2 diabetes mellitus. JAMA: the journal of the American Medical Association, 2003. 289(24): p. 3273–7.
8 Thomas MC et al., Nonalbuminuric renal impairment in type 2 diabetic patients and in the general population (national evaluation of the frequency of renal impairment cO-existing with NIDDM [NEFRON] 11). Diabetes care, 2009. 32(8): p. 1497–502.
9 Ninomiya T et al., Albuminuria and kidney function independently predict cardiovascular and renal outcomes in diabetes. Journal of the American Society of Nephrology : JASN, 2009. 20(8): p. 1813–21.
10 Ismail-Beigi F et al., Combined intensive blood pressure and glycemic control does not produce an additive benefit on microvascular outcomes in type 2 diabetic patients. Kidney international, 2011.
11 Nelson RG et al., Development and progression of renal disease in Pima Indians with non-insulin-dependent diabetes mellitus. Diabetic Renal Disease Study Group. The New England journal of medicine, 1996. 335(22): p. 1636–42.
12 Mazzucco G et al., Different patterns of renal damage in type 2 diabetes mellitus: a multicentric study on 393 biopsies. American journal of kidney diseases : the official journal of the National Kidney Foundation, 2002. 39(4): p. 713–20.
13 Gaede P et al., Multifactorial intervention and cardiovascular disease in patients with type 2 diabetes. The New England journal of medicine, 2003. 348(5): p. 383–93.