23rd Symposium on ALS/MND 2012, Chicago


Die internationale MND-Gesellschaft spannt in ihren Kongressen den Bogen von der Grundlagenforschung zur Therapie inklusive wichtiger Aspekte der multidisziplinären PatientInnenbetreuung. Dementsprechend war das Programm für den gesamten Kongress zweigeteilt, einerseits mit Referaten zur Grundlagenforschung und andererseits zu klinischen, therapeutischen und Betreuungsaspekten.

Nature and Nurture: Der Eröffnungsvortrag „Risk Factors and ALS: nature, nurture, age and luck“, wurde von Dr. Al-Chalabi, UK, gehalten, der versuchte, den gegenwärtigen Stand der Forschung zusammenzufassen. Ein wichtiger Teil seiner Ausführungen bezog sich auf das weite Feld der genetischen Faktoren, die weit über das bekannte SOD1-Gen hinausgehen. Um die Rolle möglicher Umweltfaktoren zu demonstrieren, wies er auf die Insel Guam hin, bei der vor ca. 100 Jahren das Risiko an einer ALS zu erkranken 100-mal höher als in Europa war. Seit 1995 ist das Risiko gleich hoch wie in Europa, daraus kann man folgern, dass Änderungen der Umweltfaktoren auch das Risiko beeinflussen.
Er behandelte auch das möglicherweise erhöhte ALS-Risiko von ExtremsportlerInnen sowie den Umstand, dass die Krankheit oft an einer besonders beanspruchten Extremität beginnt, und belegte dies anhand zahlreicher Untersuchungen.
Der Hauptteil seines Vortrages war genetischen Überlegungen gewidmet, wobei neben dem erwähnten SOD auch FUS, TARDBP 2006, OPTN, TDB43, ELP3, ANG und C90RF72 diskutiert wurden. In der Referenzarbeit von Chio et al. wurden diese genetischen Syndrome zusammengefasst. Besonders interessant war in diesem Zusammenhang das Spektrum der frontotemporalen Demenz (FTD) in Kombination mit ALS (FTB/ALS.)

PatientInnenautonomie: Ein Sitzungsblock war dem Thema PatientInnenautonomie und „decision making“ gewidmet. Die key lecture wurde von R. Bedlack, USA gehalten, der seinen Vortrag Autonomie, Paternalismus oder „in between“ („etwas dazwischen“) betitelte. Er beschrieb die paternalistische Medizin, die relativ wenig Patientenautonomie zulässt, aber lange Zeit als dominierende Richtung unter anderem auch durch Definitionen der American Medical Association untermauert wurde. Dieser Mainstream, der bis ca. 1960 dauerte, wurde von einer Richtung abgelöst, die die Autonomie des Patienten in den Vordergrund stellt und davon ausgeht, dass die Empfehlung des Arztes/der Ärztin angenommen werden kann oder nicht, zunehmend auch mit Einholung von Zweit- oder Drittmeinungen.
Die Problematik bei der Autonomie ist die oft fehlende oder aus unklaren Quellen stammende Information der PatientInnen, wie beispielsweise dem Internet, in dem ja viele ungefilterte Antworten aufscheinen. Auch das Zeitalter der Autonomie unterliegt im Sinne des „Zeitgeistes“ Veränderungen und derzeit sind zwei wesentliche Entwicklungen zu beobachten: einerseits der Konsumerismus, der ärztliche und pflegerische Behandlung eher als „Konsumartikel“ und weniger als ein Vertrauensverhältnis betrachtet; und andererseits das Zeitalter der „Bürokratie“, das zumindest die USA vollständig erfasst hat. Den Zugang zwischen Konsumerismus, Autonomie und Bürokratie bezeichnete Bedlack als „in between“.
Ein US-Netzwerk für ALS-PatientInnen mit dem Namen „ALS untangled“ kommt dem Informationsbedürfnis der PatientInnen nach und beantwortet auf Expertenebene auch ungewöhnliche Fragen nach alternativen Therapien. Das „Shared decision making“-Modell ist eine Technik der Meinungsfindung, die Fragen der Ethik, des „informed consent“, Planung von und Durchführung von Studien bearbeitet.
Auch in den USA ist der Zugang von PatientInnen zu ALS-Studien gering (< 10 %), was allgemein bedauert wird. Gründe sind auch in den USA die Ungewissheit der Behandlung – nicht die beste Therapie oder ein Placebo zu erhalten –, die Angst, „ein Versuchskaninchen“ zu sein, die Angst vor Kosten und letztlich der Entschluss, eine alternative Therapie zu machen.

End of life: Ein weiterer Vortag beschäftigte sich mit dem „end of life“, dem Hospiz und dem Krisenmanagement in den letzten Phasen der Krankheit. Eindrucksvoll wurde belegt, dass PatientInnen oft bezüglich ihrer letzten Wünsche oder Verfügungen („advanced directives“) unentschlossen sind bzw. die Entscheidungen hinausschieben. Auch der Zeitpunkt, wann man mit PatientInnen die letzte Phase des Leidens und den Tod besprechen soll, wird unterschiedlich eingeschätzt. Ein möglicher Zusammenhang mit der FTD, als Ursache dieser fehlenden Entschlusskraft, wird postuliert.
Die Wichtigkeit des Umgangs mit den BetreuerInnen (Carer) und die Bewältigung von Trauerreaktionen wird zunehmend wissenschaftlich untersucht. Zumindest ein Meeting nach dem Tod des Patienten/der Patientin (post bereavement) kann die Trauerreaktion günstig beeinflussen. Man ist sich der wichtigen, oft positiven Rolle der „Care­giver“ für die PatientInnen bewusst und versucht diese positiven Einflüsse wissenschaftlich zu objektivieren. Für die letzte Phase, „ending well“, wird die Spiritualität, gute Bindungen und Beziehungen sowie die Möglichkeit des würdigen Abschiedes betont.

Neue Therapien: In der Sitzung über neue Therapien war im Hörsaal kein Platz frei. Vorweg, alle präsentierten Studien sind negativ und es gibt keine neuen medikamentösen Möglichkeiten.
Präsentiert wurden mehrere Studien mit neuen Substanzen wie z. B. ISIS 333611, einer intrathekal anzuwendenden Substanz bei SOD1-PatientInnen, neurale Progenitor-Zellen, die intraspinal (lumbal oder zervikal) appliziert werden sowie weitere Untersuchungen mit dem Skelett-Muskel-Aktivator CK-2017357 (Tirasemtiv), eine europäischen Phase-II-Studie mit der Substanz Olesoxime, eine Studie mit einem Immunregulator NP001 (beeinflusst die Mastzellenaktivität) und schließlich die leider negativen Resultate einer langen und aufwändigen Studie mit Ceftriaxone. In dieser Sitzung wurde auch die Entwicklung der ALSFRS-Skala und mögliche Verbesserung dieses etablierten Systems (MiToS ALS staging system) besprochen.
Beeindruckend war die Beteiligung von PatientInnenorganisationen und Stiftungen, die im Internet gut repräsentiert sind (z. B. www.alsworldwide.org, www.mndassociation.org, www.fundela.info und viele andere mehr). Die Kenntnis dieser Organisationen und Websites ist für die PatientInnenbetreuung wichtig, da viele PatientInnen ihre Informationen von dort beziehen und auch über die Möglichkeiten erfahren, an Studien teilzunehmen.

Fazit: Der sehr fokussierte Kongress zu ALS/ MND konnte aufzeigen, wie facettenreich dieses Krankheitsbild ist und wie viele Anstrengungen auf wissenschaftlichem Gebiet unternommen werden. Der wichtige klinische Bereich, die Interaktionen von PatientInnen mit BehandlerInnen, insbesondere auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rolle der BetreuerInnen sind wichtige und richtungsweisende Themen für die zukünftige Behandlung von ALS-PatientInnen.
Leider wird in Österreich ALS-PatientInnen noch zu wenig das multidisziplinäre Konzept der PatientInnenversorgung bis zum Lebensende angeboten und nicht nur die PatientInnen, sondern auch die Betreuer mit dieser Krankheit allein gelassen.

Quelle: Amyotrophic lateral sclerosis. Abstracts from the 23 rd international symposium on ALS/MND. Vol 13 (Supp 1), 2012; S 1-58.
1 Chio A, Calvo A, Mazzini L et al., Extensive genetics of ALS: A population-based study in Italy. Neurology 2012; 79:1983–1989.