Liebe Leserinnen und liebe Leser,
das Jahr 2021 neigt sich seinem Ende zu. Mit Ablauf einer Zeitperiode oder einer Angelegenheit verbinden wir im Allgemeinen gerne einen Abschluss, eine tatsächliche Beendigung, sei es aus Erleichterung, dass etwas endlich (sic) erledigt oder zumindest vorüber ist, sei es aus der befriedigenden Bilanzierung des Erreichten und Geschafften. Die anhaltende Pandemie lehrt uns nicht nur wieder die Deklination des griechischen Alphabets, sondern auch, dass einerseits Hoffen und Wünschen keine effizienten Strategien zur Eindämmung der Pandemie sind – sondern eher dem Fatalismus zuneigen – und andererseits, dass die Aufarbeitungen historischer Pandemien zwar eine zeitliche Begrenzung (über Jahre …) dokumentieren, aber, wie so oft in der Wissenschaft, ein Outcome (= im gegenständlichen Fall: Ende der Pandemie) nur retrospektiv zu erfassen war/ist. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn zu SARS-CoV-2/COVID19, samt Praxisumsetzung, insbesondere im für medizinische Dimensionen ultrakurzen Zeitraum von zwei Jahren, ist zweifellos enorm und historisch einzigartig: Nicht nur die rasche Entwicklung, sondern auch die ebenso rasche Validierung und Verfügbarkeit von diagnostischen Tests und vor allem Impfungen gegen SARS-CoV-2 sind unanfechtbare Erfolge mit ultimativer individueller und gesellschaftlicher Alltagsrelevanz.
Darüber hinaus sind wir tatsächlich, wenn auch noch mit einigen Holprigkeiten, im Zeitalter der Digital Health angekommen: im Gegensatz zu den oben genannten retrospektiven Erkenntnissen ermöglichen Artificial Intelligence und Deep Learning wissenschaftlich fundierte Simulationsmodelle, die nicht nur einen – in Abkehr vom bisher kristallkugeligen bis nostradamischen – tatsächlich realistischen Blick in die Zukunft eröffnen, sondern auch, dass der an sich übliche Gestaltungs- und Handlungseinfluss der Gegenwart auf die Zukunft nunmehr mit größerer Gewissheit hinsichtlich Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungen einhergeht.
Es zahlt sich aber auch immer aus, den Blick auf die Vergangenheit zu richten, weniger um daraus Hoffart und Konservierung abzuleiten, sondern um historische Kontexte zu erkennen, um zu lernen, zu bilanzieren und zu verbessern. Und natürlich auch Ereignisse, die besonders waren, publik zu machen bzw. in Erinnerung zu rufen.
Die vorliegende Ausgabe von neurologisch ist diesmal besonders umfangreich ausgefallen, folgend dem Motiv „Wenn Gutes und Erfolgreiches passiert, dann soll darüber berichtet werden“.
Drei österreichische Neurologen sind ob ihres jahrzehntelangen Engagements für die Neurologie besonders geehrt worden: Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold wurde im Oktober 2021 zum Präsidenten der World Federation of Neurology für 4 Jahre ab 2022 gewählt. Die erfolgreiche Wahl ist natürlich, lieber Wolfgang, Deiner Persönlichkeit und Deinen bisherigen internationalen Erfahrungen und Verdiensten geschuldet, aber wir kommen nicht umhin, uns auch darüber augenzwinkernd zu freuen, dass die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) offenbar eine gute „Kaderschmiede“ für internationales Wirken ist, indem der erste Präsident der Österreichischen Gesellschaft nun auch erster österreichischer Präsident der WFN ist!
Im September 2021 wurde Prim. Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Lampl zum neuen Präsidenten der European Headache Federation gewählt. Seine langjährige internationale Reputation hat dazu geführt, dass er mit dieser ehrenvollen, aber auch herausfordernden Funktion und Aufgabe beehrt wurde. Es wird zweifellos eine seiner Hauptaufgaben sein, die Wahrnehmung und Bedeutsamkeit von Kopfschmerzen als neurologische Erkrankung mit einer der höchsten Krankheitsbelastungen und -folgen in Europa zu steigern. Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie und die Österreichische Kopfschmerzgesellschaft sind hierfür selbstredend zur Mitwirkung und Unterstützung im Sinne der „joint efforts“ bereit!
Univ.-Prof. Dr. Michael Brainin wurde von der Europäischen Schlaganfallorganisation anlässlich ihres Kongresses im September 2021 mit dem „Presidential Award“ für sein Lebenswerk und seine unermüdlichen Bemühungen zur globalen Schlaganfallversorgung ausgezeichnet. Er hat nicht nur eine lange Liste wichtiger wissenschaftlicher Beiträge publiziert, sondern auch erheblich relevante Guidelines und deren Qualitätssicherung initiiert und mitverfasst, darüber hinaus mit der ersten Stroke Unit Österreichs an seiner früheren Abteilung in Tulln eine Entwicklung vorausgesehen und damit einen Maßstab gesetzt, der als Grundlage für das österreichweite Netzwerk zur Schlaganfallversorgung bahnbrechend war, und schließlich hat er auch nachhaltige internationale Akzente gesetzt, sei es im Zusammenhang mit edukativen postgradualen Ausbildungsaktivitäten, sei es in seinem einflussreichen Mitwirken in internationalen Gremien und Organisationen.
Äußerst passend zur Hommage an Prof. Brainin ist der diesmalige Schwerpunkt von neurologisch aktuellen Aspekten zum Schlaganfall gewidmet.
Der Editorin und dem Editor des Themenschwerpunkts, Priv.-Doz. Dr. Julia Ferrari und Univ.-Prof. Dr. Stefan Kiechl, ist sehr für die Hervorhebung der systematisch entwickelten und mittlerweile nicht mehr wegzudenkenden alltagsrelevanten Vorzeigestruktur hochqualitativer neurologischer Versorgung in Österreich zu danken. Ich möchte an dieser Stelle dem Vorwort der beiden Editor*innen inhaltlich nicht vorgreifen, sondern lieber hierzu referieren, aber besonders betonen, dass alle Autor*innen der unterschiedlichen Beiträge zum Thema Schlaganfall nicht nur über klinische und wissenschaftliche Expertise hierfür verfügen, sondern vor allem seit Jahren wesentliche Proponent*innen bei der (Weiter-)Entwicklung und Umsetzung des österreichischen Schlaganfallversorgungsnetzes waren und sind.
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Ausgabe ist dem digitalen Kongress European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) gewidmet, der von 13.–15. 10. 2021 stattgefunden hat. Wenn auch bedauerlicherweise nur virtuell und nicht wie geplant tatsächlich in personam in Wien, so war ECTRIMS 2021 nach dem virtuellen EAN-Kongress im Juni 2021 ein weiterer sehr erfolgreich ausgerichteter internationaler Kongress, wie eine Vielzahl der 6.800 ECTRIMS Teilnehmer*innen aus 104 Ländern in ihrer Evaluation ausgedrückt haben. Der Erfolg aus österreichischer Sicht fußt einerseits auf den dankenswerten intensiven Vorarbeiten des lokalen österreichischen Organisationskomitees in der Zusammenstellung des wissenschaftlichen Programms und den exzellenten Beiträgen etablierter und junger österreichischer Wissenschafter*innen, sei es mit Vorträgen und/oder Postern, sei es als Vorsitzende wissenschaftlicher Sitzungen, aber andererseits auch auf dem großen Interesse und der Teilnahme vieler österreichischer Neurolog*innen! Sie finden einige der herausragenden wissenschaftlichen Beiträge österreichischer Arbeitsgruppen zum Thema Multiple Sklerose hier in neurologisch abgedruckt.
Die vorliegende Ausgabe von neurologisch setzt auch die Beitragsreihe zum 20-Jahre- Jubiläum der ÖGN fort: Dr. Michael Ackerl reminisziert seine Funktionsperiode als ÖGN-Präsident von 2008 bis 2010. Es war eine historische Präsidentschaft, weil Dr. Ackerl der erste niedergelassene Neurologe als ÖGN-Präsident war, ein klares Zeichen, aber auch Plädoyer für eine intensive Zusammenarbeit zwischen intra- und extramuralem neurologischen Versorgungssektor. Seine Präsidentschaft hat nicht nur größeres gegenseitiges Verständnis für die unterschiedlichen Alltagsarbeiten/-probleme kreiert, sondern vor allem zu einem stärkeren Zusammenrücken aller Neurolog*innen und assoziierten neurologischen Gesellschaften in Österreich geführt – heute würde man das unter dem Schlagwort „joint efforts and one voice in neurology“ ausdrücken. Die Bedeutung neurologischer Netzwerke kommt somit auch in dem Beitrag zu „20 Jahre ÖGN und niedergelassene Neurologie“ von Dr. Claudia Thaler-Wolf sehr deutlich zum Ausdruck. In weiteren kurzen, aber eindrucksvollen Beiträgen beschreiben die Arbeitsgruppen Neuroonkologie (Prim. Assoc. Prof. PD Dr. Stefan Oberndorfer und Priv.-Doz. Dr. Markus Hutterer), Neurologische Intensivmedizin (Priv.-Doz. Dr. Bettina Pfausler und Prim. Univ.-Prof. Dr. Jörg Weber), Schmerz (Priv.-Doz. Dr. Stefan Leis und Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic), Neurologische Schlafmedizin (Univ.-Prof. Dr. Stefan Seidel, Univ.-Prof. Dr. Birgit Högl und Dr. Ambra Stefani), die Österreichische Gesellschaft für Neurorehabilitation (Prim. Univ.-Prof. DDr. Susanne Asenbaum-Nan) und die Österreichische Wachkoma Gesellschaft (Prim. Dr. Gerald Pichler und Mag. Hartmann Jörg Hohensinner) die Meilensteine ihrer jeweiligen Fach- und Wirkbereiche über die letzten 20 Jahre.
Eine Entwicklung für die hoffentlich zumindest nächsten 20 Jahre hat im Oktober 2021 ihren Anfang genommen: die Arbeitsgemeinschaft Junge Neurologie der ÖGN hat die erste „Autumn School der Jungen Neurologie“ veranstaltet. Lesen Sie den Bericht von Dr. Lena Domig, Dr. Tandis Parvizi und Priv.-Doz. Dr. Simon Fandler-Höfler dazu und freuen Sie sich mit mir nicht nur über die erfolgreiche Premiere dieser Veranstaltung, sondern vor allem über die vividen Aktivitäten und die Begeisterung junger Neurolog*innen, die derart die nachkommende Generation von Neurolog*innen in Österreich beruhigend sicherstellen!
Ich wünsche Ihnen erholsame Feiertage und für das neue Jahr 2022, dass alle Ihre Wünsche in Erfüllung gehen mögen!
Herzliche Grüße,
Ihr Thomas Berger