Editorial 1/20

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

beim Verfassen eines Editorials für unsere liebgewonnene Zeitschrift neurologisch in den Zeiten der Covid-19-Pandemie gehen einem so viele Gedanken durch den Kopf, dass es schwerfällt, sich auf die Sachthemen dieser Ausgabe zu beschränken.

Wir alle erleben die schwierigste Krise in unserem Gesundheitssystem – oder besser gesagt: in der Krankenversorgung der Menschen Österreichs. Ohne Zweifel bringt uns die Covid-Pandemie an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit oder sogar darüber hinaus. Viele der leitenden Neurologinnen und Neurologen sind in Krisenstäben der Krankenanstalten oder der Länder eingebunden und tun alles Erdenkliche, um Ressourcen für die Covid-Patientinnen und -Patienten zu schaffen, damit diese entsprechend versorgt werden können, ohne dabei die Grundversorgung akut neurologisch Erkrankter zu gefährden.

Obwohl die Bundesregierung und die Gesundheitsbehörden Österreich alles in ihrer Macht Stehende getan haben, was nötig war und nötig ist, um frühzeitig die Ausbreitung einzudämmen, haben wir gesehen, wie schwierig es auf der anderen Seite ist, diese Maßnahmen auch flächendeckend rasch und ausnahmslos durchzusetzen. Wir haben auch gesehen, dass viele Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen nicht wirklich gut auf solche Ereignisse vorbereitet sind. Schutzmasken, Schutzanzüge und entsprechende Ausstattung sind Mangelware, und die Lagerbestände werden rasch aufgebraucht sein. Entsprechende Isolierräume und Prozesse im Umgang mit infektiösen Patientinnen und Patienten sind nicht gut eintrainiert, und in vielen Krankenhäusern gibt es keine strukturellen Voraussetzungen, um diese zu etablieren. Die Kapazitäten von Intensivbetten, die in Österreich zur Verfügung stehen, sind in Anbetracht der Covid-19-Krise äußerst limitiert und je nach Szenario auch nicht ausreichend. Fieberhaft werden in den Krisenstäben die Anzahl der Beatmungsgeräte gezählt, Notstationen mit Beatmungsmöglichkeit errichtet und das Personal dafür in kürzester Zeit trainiert und zur Verfügung gestellt. Ganze Krankenhäuser, wie z. B. in Wien, oder große Bereiche von Krankenanstalten werden zu Covid-Zentren umgebaut. In kürzester Zeit werden Stationen verlagert, um für Covid-Patienten und Patientinnen Raum zu schaffen und diese auch in entsprechend abgeschlossenen Einrichtungen fachgerecht zu versorgen. In vielen Abteilungen werden über Nacht sogenannte Split-Teams eingeführt, um durch einen Covid-Ausfall einer Dienstmannschaft ein weiteres Team zur Aufrechterhaltung des Betriebes zur Verfügung zu haben. Jedes Krankenhaus und jedes Bundesland bereitet sich mit maximaler Anstrengung auf den Gipfel der Krise vor, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen eintreffen wird. In diesen Zeiten gibt es plötzlich keine Argumentation mehr, etwas nicht zu machen – kein „zu teuer“ – kein „geht nicht“ – kein „das brauchen wir nicht“. Die medizinische Notwendigkeit geht vor, Pflege und medizintechnische Berufe sind an vorderster Front, alle anderen wie Bau und Technik, Informationstechnologie, Einkauf, Personal, Recht, Datenschutz und sogar die Finanzen folgen den medizinischen Vorgaben und Notwendigkeit.
Es wird klar, was der eigentliche Zweck eines Krankenhauses ist und es ist nicht mehr daran zu rütteln, dass alle Bereiche sich im Krankenhaus und im Gesundheitswesen überhaupt dieser Medical Leadership unterwerfen und den Vorgaben folgen. Die Notwendigkeit der Medical Leadership zeigt sich in den Zeiten der Krise.
Krise kommt aus dem Griechischen und bedeutet Entscheidung. Die Entscheidung, was im Gesundheitswesen zu tun ist, kann nur aus der Notwendigkeit der besten Patientenversorgung heraus, also der medizinischen und pflegerischen Entscheidung kommen. Die Entscheidungen, die wir in Zukunft treffen, können nur derart sein, dass wir nicht alles und jede Maßnahme unter dem Blickwinkel der direkten Kosten, der kurzfristigen „Gewinne“ durch Einsparungen und der Vermeidung von sogenannten Folgekosten im System zu beurteilen haben.
Jede Maßnahme, jede medizinische Entwicklung muss vor allem aus der Sicht der Nachhaltigkeit und des Wertes beurteilt werden, des Wertes der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger Österreichs, um der Nachhaltigkeit in unserer Gesundheit und in unserer Gesellschaft Achtung zu verschaffen. Beides ist nicht einfach zu bewerten, aber eines ist klar: Wenn wir nicht in dieser Dimension denken und weiterhin versuchen, Krankenhausbetten, vor allem Intensivbetten, abzubauen, anstatt ausreichende Ressourcenplanung für die zukünftige demografische Entwicklung zu betreiben, werden wir die nächste Krise nicht ohne Schaden überstehen. Das muss nicht notwendigerweise ein weiteres Coronavirus sein. Eine Grippeepidemie, wie wir sie auch schon öfter erlebt haben, zusätzlich zu der demografischen Entwicklung mit einem massiven Anstieg der Bevölkerung über dem 65. Lebensjahr, wird uns die Grenzen aufzeigen, wenn wir nicht vorausplanen. Wir haben aber auch viel über uns selbst und über unsere Gesellschaft gelernt. In der Krise zeigt sich der Charakter. Die Menschen aller Berufsgruppen halten zusammen, jeder ist kompromissbereit und fokussiert auf das Ziel, auf das große Ganze, die Herausforderung gemeinsam zu bewältigen. Nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in der Zivilgesellschaft sieht man viele, die anderen Hilfsbedürftigen zur Seite stehen. Gastronomiebetriebe, die Essen anbieten und dies zur Abholung bereitstellen. Apotheken, die bereitwillig Medikamente an Hilfsbedürftige ausliefern. Auch die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen tun alles, damit die Bevölkerung weiterhin versorgt wird. Ja, in der Krise zeigt sich eben wirklich der Charakter. An dieser Stelle möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen der neurologischen Gemeinschaft danken, dass sie mit allen anderen zusammenarbeiten und alles tun, damit wir unser gemeinsames Ziel, die Covid-Krise bestmöglich zu überstehen, gut bewältigen werden.

Wenn Sie sich in dieser herausfordernden Zeit auch ein bisschen niveauvolle Ablenkung verschaffen wollen, so ist die Ausgabe von neurologisch genau das Richtige. Das Schwerpunktthema dieses Heftes ist die Neuroimmunologie. In den letzten Jahren hat die Neuroimmunologie nicht nur Mechanismen bei klassischen Autoimmunerkrankungen entschlüsseln können, sondern hat eine Vielfalt an therapeutischen Fortschritten mit sich gebracht. Wir haben erkannt, dass bei fast allen Erkrankungen neuroimmunologische Aspekte eine Rolle spielen, sehr oft sogar eine ganz wesentliche. An dieser Stelle möchte ich Assoc. Prof. Dr. Romana Höftberger sowie Dr. Franziska Di Pauli danken, dass sie sich um die Zusammenstellung dieses Schwerpunktthemas bemüht haben, das für uns alle so wichtig ist!

In den Kongresshighlights sind vor allem die durchaus beachtlichen Erfolge in der Kopfschmerztherapie gut beleuchtet, und sie zeigen, wie dynamisch das Fach der Neurologie ist. Auch wenn man über viele Jahre etwas enttäuscht auf dieses Feld geblickt hat, ist mit den modernen CGRP-Antikörpertherapien für chronische und episodische Migräne tatsächlich viel Bewegung in unsere Landschaft gekommen. Ein Bereich wie „Neurologie aktuell“ ohne Schlaganfallthema ist kaum vorstellbar.

Hier stehen das Thema Prävention sowie die neue Veranstaltungsreihe „Top of Science“ der Österreichischen Schlaganfallgesellschaft im Vordergrund. Weiters finden Sie in dieser Rubrik ausgezeichnete Artikel zur Neurorehabilitation und zu neuromuskulären Erkrankungen, die gerade in letzter Zeit viel Aufsehen erregt haben und vor allem eine Kostendebatte entfacht, die bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Auch hier gilt der Wert der Therapie als Maß der Dinge und nicht die direkten Kosten.

Weitere Beträge aus den Gebieten Epilepsie, Schmerz, autonome Störungen, Neuroimaging, Multiple Sklerose, Demenz und Psychosomatik stellen ein abwechslungsreiches Portfolio zusammen, das Ihnen sicher wieder Freude beim Lesen dieser Ausgabe bereiten wird.

Lassen Sie mich zum Abschluss dieser ersten Ausgabe im Jahr 2020 nochmals ausdrücklich der Chefredaktion von neurologisch, Dr. Michael Ackerl und Univ.-Doz. Dr. Julia Ferrari, danken, dass sie in dieser turbulenten Zeit ein Heft zusammengestellt haben, dass wir sicherlich sehr gerne lesen werden!

Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen.

 

Ihr Eugen Trinka