eigentlich fehlen mir aktuell die passenden Worte …
Aber vielleicht doch passend zu der allgegenwärtigen Situation der fortgesetzten Unsicherheit, schrecklich getoppt durch eine historisch überwunden gedachte archaische, im Museumskeller allzeitig deponiert gehoffte, dafür jetzt umso mehr unglaubliche und zutiefst betroffen machende militärische Gewaltanwendung als Mittel der Konfliktaustragung mit verachtendem Kalkül von Leiden, Zerstörung und Tod im vermeintlich modernen (und ebenso vermeintlich aufgeklärten) Zeitalter der europäischen Menschheit, stolperte ich über Zeilen von Peter Sloterdijk aus seinen Polyloquien 2018: „Es werden auf den Feldern moderner Politik (…) stets mehr Täuschungen, Wahnkonzepte und Angebote an die Deliriumsbereitschaft des Publikums in die Welt entlassen, als je in realistischen Vorhaben reintegriert werden können.“ Es scheint an der Zeit zu sein, dass wir unsere Expertise in der Neurologie (sowie viele von uns auch in der Psychiatrie) ausweiten und auch als Opiniater*innen, d. h. Fachärzt*innen für Erkrankungen des Meinungsapparats (© auch P. Sloterdijk), tätig werden …
Die vorliegende Ausgabe von neurologisch beginnt mit der Fortsetzung der Beitragsserie zum 20-Jahr-Jubiläum der ÖGN: Die Otto Loewi Gesellschaft (Dr. Fabian Leys, DDr. Alessandra Fanciulli, Prim. Prof. Dr. Walter Struhal, Univ.-Prof. DDr. Gregor Wenning) wurde 2017 gegründet und ist gleichzeitig auch die jüngste assoziierte Gesellschaft zur ÖGN. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt, Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Stögmann, PD Dr. Michaela Defrancesco, Prim. Prof. Dr. Walter Struhal und Univ.-Prof. Dr. Peter Dal-Bianco vergegenwärtigen uns namens der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft die eindrücklichen Meilensteine der letzten 20 Jahre, aber auch einen Ausblick im Bereich Alzheimer. Ihre persönlichen Erinnerungen, Highlights und Errungenschaften als ÖGN-Präsident*innen teilen Univ.-Prof. Dr. Werner Poewe (ÖGN-Präsident 2002–2004) und Prim. Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Fertl (ÖGN-Präsidentin 2016–2018) mit uns. In die Präsidentschaft von Werner Poewe fiel der Kongress der vormaligen European Federation of Neurological Societies im Oktober 2002 in Wien und vor allem das bedeutsame und in allen Facetten höchst erfolgreiche Ereignis der ersten Jahrestagung der noch jungen ÖGN von 19. bis 22. März 2003 in Innsbruck. Elisabeth Fertl ist es hingegen nicht nur gelungen, den Kongress der European Academy of Neurology für 2021 nach Wien zu holen, sondern auch das tausendste ÖGN-Mitglied zu begrüßen! Darüber hinaus beschreibt sie sehr eindrucksvoll die erfolgreiche Umsetzung der Schwerpunkte ihrer Präsidentschaft, die nach innen und außen zur weiteren Stärkung und zum Bedeutungszuwachs neurologischer Belange nachhaltig wirken. Diese Nachhaltigkeit als ein Fundament der weiteren Entwicklungen in der Neurologie nehmen Priv.-Doz. Dr. Simon Fandler-Höfler und Dr. Tandis Parvizi zum Anlass, um aus Sicht der jungen Neurologie einen aussichtsreichen Blick auf die kommenden 20 Jahre, auf die Neurologie im Jahre 2040, zu werfen. Um das Schwerpunktthema dieser Ausgabe, den Kopfschmerz, in dieser 20-Jahr-Serie aufzugreifen, widmen sich Univ.-Prof. Dr. Karin Zebenholzer und Univ.-Prof. Dr. Gregor Brössner den wichtigen Entwicklungen zum Kopfschmerz über die letzten 20 Jahre.
Den beiden Editorinnen des Schwerpunktthemas dieser Ausgabe von neurologisch, Univ.-Prof. Dr. Karin Zebenholzer und OÄ Dr. Sonja-Maria Tesar, ist es zu verdanken, dass sie ausgewiesene Expert*innen Österreichs gewinnen konnten, um diesen Schwerpunkt sehr übersichtlich und praxisrelevant zu gestalten. Kopfschmerzen gehören weltweit zu den meisten neurologischen Erkrankungen und Symptomen, dennoch (oder gerade deswegen) bedarf es immer wieder der Aktualisierung unseres Wissens zur Symptomatik, (Differenzial-)Diagnose und zu den zunehmenden Therapieoptionen von primären und sekundären Kopfschmerzen. Zunächst wird unsere Aufmerksamkeit von Univ.-Prof. Dr. Gregor Brössner auf Kopfschmerzen als Leitsymptome neurologischer Notfälle gerichtet. Dr. Marion Vigl setzt sich dann mit den Differenzialdiagnosen der Migräne auseinander, und Univ.-Prof. Dr. Karin Zebenholzer erläutert anschließend die akuten und vorbeugenden Behandlungsmöglichkeiten bei Migräne. OÄ Dr. Sonja-Maria Tesar beschäftigt sich mit den Kopfschmerzen bei Übergebrauch von Medikamenten. Clusterkopfschmerz und andere trigeminoautonome Kopfschmerzen werden von Priv.-Doz. Dr. Franz Riederer ausführlich beschrieben, und der Beitrag von Priv.-Doz. Dr. Stefan Leis behandelt die Diagnostik und Therapie des häufigsten Gesichtsschmerzes, der Trigeminusneuralgie. Dr. Florian Frank beschäftigt sich in seinem Artikel abschließend mit den seltenen Formen des Kopfschmerzes.
Abschließend möchte ich auch noch Ihr Interesse für die interessanten Neuigkeiten aus den einzelnen Arbeitsgruppen zu speziellen neurologischen Erkrankungen wecken: Hervorheben möchte ich hierbei das zunehmend wichtige Thema von Patientenverfügungen in der Neurologie. Darüber hinaus: Rückblick auf den 5. Kongress für Neuropalliativmedizin, Sehvermögen und neurologisch bedingte Beeinträchtigungen bei älteren Menschen, blutbasierte Biomarker bei Alzheimer-Demenz, eine Auswahl publikatorischer Highlights zur Neurorehabilitation, Update zur Therapie der Myasthenia gravis mit den neuen Inhibitoren des Komplementsystems und neonatalen Fc-Rezeptoren, Ergebnisse zur Therapie der Multiplen Sklerose mit mesenchymalen Stammzellen, Vorstellung der haMSter-App zur Erfassung gesundheitsbezogener Lebensqualität bei Menschen mit Multipler Sklerose, „advanced practice nurses“ am Beispiel der Neuroonkologie, COVID-19-Pandemie und ihr Einfluss auf Patient*innen mit Narkolepsie, Phantomschmerz im Kontext kortikaler Reorganisation und schließlich Faktoren, die zur orthostatischen Dysregulation bei Morbus Parkinson beitragen.
Herzliche Grüße
Ihr Thomas Berger