Sie halten die vierte und letzte Ausgabe von neurologisch in diesem Jahr in Ihren Händen, und wir neigen dazu, gegen Jahresende eine Bilanz zu ziehen sowie einen Rückblick auf das vergangene Jahr zu werfen.
Zweifelsohne waren alle Ereignisse 2022 von dem russischen Überfallskrieg auf die Ukraine am 24. 02. 2022 und dessen Folgen gekennzeichnet und überschattet. Wir haben uns dementsprechend im Vorstand der ÖGN dazu entschlossen, anlässlich der Jahrestagung unserer Gesellschaft in Graz (18.–20. 05. 2022), einen humanitären Beitrag zu leisten und einen Teil der Einnahmen aus den Kongressbeiträgen dem ukrainischen Volk zu spenden. Dies haben die über 900 Teilnehmer*innen am Kongress ermöglicht, und dafür möchte ich mich im Namen des Vorstands herzlich bedanken – ich werte dies als Zeichen der Solidarität der ÖGN für die ukrainischen Bürger*innen, die unter der fortgesetzten Aggression von Russland leiden müssen. Als Ausdruck unserer Bemühungen konnte ich dem ORF am 19.12.2022 einen Scheck in Höhe von 5.000 Euro für die Hilfsaktion „Nachbar in Not“ im Rahmen von „Licht ins Dunkel“ übergeben. Wir als Gesellschaft setzten damit ein sichtbares Zeichen der Anteilnahme und der Unterstützung für das ukrainische Volk.
„Zeitenwende“ wurde als Wort des Jahres 2022 gewählt, und während man über die Adäquatheit dieses Terminus diskutieren kann, haben wir tatsächlich in mehreren Bereichen des täglichen Lebens durch einen bislang nicht bekannten Mangel an Human- bzw. Energieressourcen disruptive Entwicklungen ungeahnten Ausmaßes beobachten müssen, etwa im Gesundheits- oder Wirtschaftssystem. Auch hat die COVID-Pandemie eine Diskussion über Werte und bei manchen eine kritische Reflexion über konventionelle Arbeitsmodelle ausgelöst. Zudem ist Wissenschaftsskepsis in Österreich erstaunlicherweise trotz aller Fortschritte, die wir durch wissenschaftliche Errungenschaften in diesem hoch entwickelten Land genießen dürfen, weit verbreitet – umso mehr sollten wir uns darüber freuen, dass dem österreichischen Quantenphysiker Anton Zeilinger am 10. 12. 2022 gemeinsam mit Alain Aspect und John Clauser für seine bahnbrechenden Forschungsarbeiten zu den Grundlagen der Physik und im Bereich der Quanteninformation der Nobelpreis für Physik verliehen wurde. Sinngemäß betont Prof. Zeilinger in Interviews stets, dass Forschung nicht allein aus dem Nutzen definiert werden kann. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Prinzip auch von Fördermaschinen akzeptiert werden wird. Als Tipp für junge Wissenschafter*innen gibt er folgenden Rat: „Wenn du an etwas dran bist, dass du spannend findest, dann mach das und pfeif darauf, was andere sagen. Das ist das Allerwichtigste.“ In diesem Heft wird jedenfalls eindrucksvoll anhand einer Strecke von Beiträgen aus der Wissenschaft demonstriert, welche Bandbreite und welchen Tiefgang wissenschaftliche Studien aus der österreichischen neurologischen Forschungswerkstatt aufweisen. Dies lässt sich in der Rubrik „Kongresshighlights“ nachlesen, in der neurowissenschaftliche Forscher*innen aus Österreich international beachtete Beiträge präsentieren. Mag.a Magdalena Lerch beleuchtet beispielsweise die unterschiedliche Rolle des Komplementsystems bei Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und MOG-Ak-assoziierten Erkrankungen (MOGAD). Prim. Priv.-Doz. Michael Guger beleuchtet aus einer Analyse des österreichischen MS-Therapieregisters die Bedeutung vom horizontalen vs. vertikalen Switch nach einer Plattformtherapie. Dr. Michael Auer versucht mit seinen Arbeiten, potenzielle Biomarker für Pharmakodynamik und Therapieansprechen unter Natalizumab in der Behandlung von MS-Patient*innen zu identifizieren. Dr. Nik Krajnc untersuchte die Assoziation zwischen der Anzahl an Eisenringläsionen und der Netzhautschichtdicke bei Patient*innen mit MS. Ebenfalls mit der Netzhautschichtdicke in der optischen Kohärenztomografie als Biomarker zukünftiger Behinderungsakkumulation beschäftigt sich Priv.-Doz. Dr. Gabriel Bsteh, PhD in seinen umfassenden Arbeiten. Allen Beiträgen gemeinsam ist die Begeisterung für die Forschung, und gegenläufig zum Zeilingerschen Diktum lässt sich hier teilweise schon sehr konkret erkennen, wie diese Forschungsbemühungen zu Fortschritten in den jeweiligen neurologischen Fachgebieten beitragen werden können.
Schwerpunktthema dieses Hefts ist das wichtige Gebiet der Neuropalliation, wo Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Kapeller seitens der ARGE Neuropalliativ der ÖGN eine schöne Artikelserie mit namhaften Autor*innen zu diesem Thema zusammengestellt hat. Die Neuropalliativmedizin umfasst lindernde Behandlungen unheilbar Schwerkranker, und wir sollten uns nicht am ursprünglichen Wortstamm orientieren (lat. palliatio „Bemäntelung“, palliare „mit einem Mantel umhüllen“, „verbergen“) und dieses Thema umhüllen, um uns davor verstecken zu können. Im Gegenteil, es ist aus Verantwortung der uns anvertrauten Patient*innen und letztlich auch aus unserem ethischen Grund- und Selbstverständnis heraus außerordentlich wichtig, sich mit diesem Thema zu beschäftigen und sich mit kritischen Aspekten des neuen Sterbeverfügungsgesetzes und der Bedeutung des assistierten Suizids für verschiedene Krankheitsfelder auseinanderzusetzen. In diesem Sinne sei Prim. Kapeller für das diesbezüglich sehr überlegte Geleitwort und den Autor*innen Prim.a Dr.in Christa Rados, Prim. Dr. Ernst Trampitsch sowie Priv.-Doz. Dr. Markus Hutterer und Dr. Christopher Kirchweger für ihre differenzierten Beiträge gedankt.
Die ÖGN wurde im Jahre 2000 aus der vorausgehenden Österreichischen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie gegründet. Damals wurden die Fächer Neurologie und Psychiatrie entsprechend dem medizinischen Fortschritt wie in vielen anderen Ländern getrennt. In den Jahren seit 2000 hat sich die ÖGN zu einer starken Stimme der Neurologie in Österreich entwickelt. Damit ergibt sich auch eine Möglichkeit zur lehrreichen Rückschau auf einen längeren Zeitrahmen. Folglich beleuchten in Fortsetzung der Reihe „20 Jahre ÖGN“ Univ.-Prof.in Dr.in Barbara Kornek, Priv.-Doz.in Dr.in Julia Ferrari und Univ.-Prof.in Dr.in Siegrid Fuchs den Stellenwert der Frauen in der Neurologie aus Sicht der gleichnamigen ARGE. Wie der Analyse zu entnehmen ist, wurde hier schon viel erreicht, allerdings gibt es auch noch genug Verbesserungspotenziale für die Zukunft. Die ÖGN wird sich dieser Thematik weiterhin intensiviert annehmen. Einen 20-Jahre-Rückblick auf die ARGE Neurologie im Kindes- und Jugendalter werfen Univ.-Prof.in Dr.in Martha Feucht, Univ.-Doz. Dr. Martin Graf und Univ.-Prof.in Dr.in Barbara Kornek mit Betonung auf den wichtigen Aspekt der Transition und der Frage, wie Kinderärzt*innen und Neurolog*innen wechselweise voneinander profitieren können.
Im Zeitrahmen der Jahre 2012 bis 2016 lassen die damalige ÖGN-Präsidentin Prim.a Priv.-Doz.in Dr.in Regina Katzenschlager und der damalige ÖGN-Präsident Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt in diesem Heft Höhepunkte aus ihren jeweils zweijährigen Amtsperioden Revue passieren. Daraus lässt sich klar ablesen, welche Herausforderung unsere Gesellschaft (inklusive Facharztausbildung neu und Spezialisierungen) schon bewältigen musste und wie wichtig ein einheitliches und geschlossenes Vorgehen sowie eine organisierte Standesvertretung für unser Fach sind.
Dass die Neurologie sowohl in physischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht eine Gemeinschaft in Bewegung ist, zeigen auch der Bericht von Prim. Univ.-Prof. Dr. Wilfried Lang über den „Fit-for-Brain“-Lauf am 08. 10. 2022 in Wien sowie die Ausführungen anlässlich des Welt-Alzheimertages am 21. 09. 2022 durch Univ.-Prof. Peter Dal-Bianco mit Skizzierung der Entwicklung einer möglichen kausalen Alzheimertherapie mit monoklonalen Antikörpern gegen b-Amyloid.
Besonders hervorzuheben sind auch die Aktivitäten der jungen Neurologie der ÖGN, wobei 2022 erfreulicherweise erstmals seit Beginn der COVID-19-Pandemie wieder ein Treffen in Präsenz im Rahmen einer Autumn School stattfinden konnte, die durch rege Interaktion, einen exzellenten Referentenmix sowie thematische Vielfalt gekennzeichnet war. Ein guter Beleg dafür, dass echte Vernetzung nur realisiert werden kann, wenn Menschen mit Menschen real interagieren können! An dieser Stelle sei stellvertretend für die Junge Neurologie den Proponentinnen Dr.in Tandis Parvizi, Dr.in Lena Domig und Dr.in Victoria Sidoroff für die exzellente Organisation sowie allen Vortragenden und Kolleg*innen für ihre Teilnahme und Beiträge herzlich gedankt. Der Vorstand der ÖGN hat sich in seiner Vorstandssitzung am 07. 12. 2022 bereits zu einer weiteren Unterstützung derartiger Aktivitäten bekannt.
Mit dieser schönen Perspektive, die Gestaltung unserer Gesellschaft auch in Zukunft durch talentierte, engagierte und kreative Neurolog*innen gesichert zu sehen, verbleibt mir abschließend, uns allen für 2023 viel Gesundheit, Lebensfreude und Gestaltungskraft zu wünschen und die Bereitschaft, die Entwicklung unseres Faches gemeinsam voranzutreiben. Der intersektorale globale Aktionsplan für Epilepsie und andere neurologische Erkrankungen, den die WHO im Mai 2022 einstimmig beschlossen hat und der in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen soll, wird uns dabei helfen, dies mit Struktur über die Jahre hin gemeinsam zu verfolgen. Wenn Sie bereits jetzt konkrete „neurologische“ Pläne für 2023 schmieden wollen, so nehmen Sie sich doch vor, von 22. bis 24. 03. 2023 die ÖGN-Jahrestagung in Bregenz zu besuchen! Diese steht für ein Jubiläum und eine Premiere: Der größte Neurolog*innenkongress Österreichs jährt sich einerseits zum 20. Mal, andererseits schließt dieser Kongress einen „weißen Fleck“ auf der Landkarte der ÖGN innerhalb Österreichs, indem die Tagung zum ersten Mal in der Geschichte der ÖGN in Vorarlberg ausgetragen wird. Das Programm, das Prim. Dr. Philipp Werner mit seinem engagierten Team zusammengestellt hat, verspricht Abwechslungsreichtum und Praxisorientiertheit. Zudem hat die neu formierte ÖGN-Fortbildungskommission zahlreiche Kompaktkurse und Praxisseminare rund um die neurologischen „Big 7“ (Schlaganfall, Bewegungsstörungen, Epilepsie, MS, Demenz, Kopfschmerz und neuromuskuläre Erkrankungen) neu organisiert. Natürlich wird auch die Junge Neurologie in der Programmgestaltung eine wesentliche Rolle spielen, und namhafte Expert*innen wurden zu Plenarsitzungen eingeladen. In diesem Sinne: „Let’s go west!“
Nun wünsche ich allerdings mit der Lektüre dieses Heftes viel Vergnügen sowie einige ruhige, erkenntnisreichen Stunden damit und bedanke mich bei allen Autor*innen dieser Ausgabe für ihre Beiträge sowie bei der Editorin Priv.-Doz.in Dr.in Julia Ferrari und dem Editor Prim. Univ.-Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka, FRCP und dem Redaktionsteam für ihre wertvolle Arbeit.