European Charcot Foundation 2011 – Personalisierte Behandlung bei multipler Sklerose

Im Eröffnungsvortrag befasste sich Prof. Montalban aus Barcelona mit den Schwierigkeiten, aufgrund der sehr heterogenen Krankheitsverläufe und der z. T. auch noch unklaren Pathogenese ein individualisiertes Therapieregime zu entwickeln. Die anschließenden Vorträge behandelten vor allem die Frage nach den individuellen Krankheitsverläufen. Dabei stellte Prof. Edan aus Rennes, Frankreich, den natürlichen Verlauf der Erkrankung dar und ging auf die verschiedenen Differenzialdiagnosen ein. Insbesondere scheint es so zu sein, dass es – nach einer individuell sehr variablen Phase zu Beginn der Erkrankung – ab einem EDSS von 3 bis 4 zu einer sehr homogenen und wenig beeinflussbaren Verschlechterung kommt.
Prof. Lassmann aus Wien präsentierte neuropathologische Ergebnisse, wonach es zu Beginn der Erkrankung zu einer ausgeprägteren, mehr systemischen Reaktion mit Störung der Blut-Hirn-Schranke kommt, wohingegen in den fortgeschritteneren Stadien die Entzündungsreaktion mehr kompartimentalisiert hinter einer intakten Blut-Hirn-Schranke stattfindet.
Epidemiologische Daten wurden von Prof. Ebers aus Oxford vorgestellt, der insbesondere die Rolle von Vitamin D und dessen Mangel bei MS beleuchtete, bevor Prof. Spreeuwenberg aus Maastricht Entscheidungsprozesse in der personalisierten Medizin erörterte. Mögliche Residuen nach dem ersten Schub können als prädiktiver Faktor gewertet werden. Inwieweit man anhand der Anzahl der Schübe zu Beginn der Erkrankung die chronische Progression vorhersehen kann, ist nicht abschließend geklärt. Einer zu Beginn fokalen inflammatorischen Phase folgt eine diffuse Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems.

Immunmodulatorische Behandlung: Ziel der Therapie ist es, den Eintritt in die chronische Progression zu verhindern. Der Beginn einer immunmodulatorischen Basistherapie schließt eine gemeinsame Entscheidung (des Arztes/der Ärztin und des/der Patienten/-in) ein. Wie mit dem Risiko einer PML unter Natalizumab umzugehen ist, ist eine besondere Herausforderung für das Arzt/Ärztin-PatientInnen-Verhältnis. Die vorhandenen Daten lassen Risikogruppen erkennen (Therapie mehr als zwei Jahre, positiver JC-Virus-Antikörpertest, Immunsuppression), die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Es zeigt sich, dass PatientInnen mit mehr als zwei Jahren Therapie, positivem JC-Virus-Antikörper-Nachweis und vorhergehender Immunsuppression vermehrt ihre Einstellung zu Natalizumab ändern. Für diese PatientInnen ist es wichtig, eine Therapiealternative zu finden.
Prof. Uitdehaag aus Amsterdam zeigte anhand verschiedener Studien den Nutzen der Interferon-ß-Therapie auf. Von besonderer Bedeutung für das Outcome ist die Therapieadhärenz des/der Patienten/-in. Eine gemeinsam getroffene Entscheidung wird daher die Einstellung zur Therapie und die Zustimmung des/der Patienten/-in verbessern.
Prof. Freedman aus Ottawa, Kanada, wies auf die zu Beginn der Erkrankung verstärkte Entzündungsaktivität hin und den darauf folgenden degenerativen Verlauf. Die T2-Läsionslast im zerebralen MRT ist vor allem für die Entwicklung der chronischen Progression von Bedeutung. Freedman warf die Frage nach dem Therapiebeginn des ersten demyelinisierenden Ereignisses auf, was anschließend sehr umfassend diskutiert wurde.

Prognostische Faktoren: Prof. Fazekas aus Graz stellte Studien vor, wonach die Läsionslast im initialen MRT (auch in unterschiedlichen Regionen), die kortikale Beteiligung im MRT und die Entwicklung einer Atrophie entscheidende Faktoren für die weitere Entwicklung sind. Die Auswahl, aber auch die Evaluierung der Wirksamkeit von Therapien sind unter anderem an diesen Faktoren zu überprüfen.
Dr. Leocani aus Mailand hob die Möglichkeiten der Neurophysiologie hervor und ging vor allem auf den Nutzen der evozierten Potenziale ein, um prädiktive Aussagen treffen zu können. Prof. Giovannoni aus London berichtete über neueste Erkenntnisse aus der Liquorforschung, wonach die Bestimmung von Neurofilamenten ein vielversprechender Parameter für die Neurodegeneration sein könnte. Interessanterweise kommt es unter einer Behandlung mit Natalizumab zu einer raschen Normalisierung der Neurofilamente im Liquor.
Prof. Fernandez aus Malaga gab schließlich einen umfassenden Überblick über mögliche praxisrelevante Prognosefaktoren. Er hob dabei insbesondere die Bedeutung des Geschlechts (Frauen haben eine günstigere Prognose als Männer), der initialen Symptomatik (sensibel mit besserer Prognose als motorisch), dem Alter der PatientInnen (jüngere PatientInnen mit besserer Prognose) und der Läsionslast im MRT hervor.

Histopathologische Subtypen: In einem Satellitensymposium der Firma Teva ging Prof. Chan aus Bochum darauf ein, dass die klinische Symptomatik oft nur die Spitze des Eisbergs in Bezug auf wirkliche Krankheitsaktivität bei einzelnen PatientInnen darstellt. Weiters präsentierte er einen Fall, bei dem sich das histopathologische Muster im Krankheitsverlauf von Typ I (vorwiegend T-Zell-mediiert) auf Typ II (antikörpermediiert) verändert hatte. Dieser Fallbericht widerspricht der weitgehend etablierten Meinung, dass sich bei individuellen PatientInnen der histopathologische Subtyp im Krankheitsverlauf nicht ändert.
Trotz des von Prof. Chan vorgestellten Fallberichts betonte Prof. Brück aus Göttingen, dass die von Prof. Lassmann, Prof. Lucchinetti und ihm publizierte Hypothese von 4 histopathologischen MS-Subtypen weiterhin Bestand hat. Weiters ging er darauf ein, dass die Erkrankung auch aus neuropathologischer Sicht sehr heterogen verläuft, wobei aus seiner Sicht insbesondere 3 verschiedene Lokalisationsarten von MS-Herden eine klinische und pathophysiologische Relevanz besitzen:

  • fokale Läsionen der weißen Substanz
  • Läsionen in der grauen Substanz
  • diffuse Veränderungen in der weißen Substanz

Abschließend stellte Prof. Comi aus Mailand fest, dass für die individuelle Therapieentscheidung im Rahmen einer Nutzen-Risiko-Abschätzung weitere Faktoren wie das Krankheitsstadium, die Prognose, aber auch die Erwartungen des/der Patienten/-in einfließen.

Therapieheterogenität: Prof. Hohlfeld aus München leitete die Session mit der Feststellung ein, dass die wichtigste Voraussetzung für eine personalisierte Therapie die Evaluierung von Biomarkern wäre. Beispielhaft stellte er hierbei die Anti-Aquaporin-4-Antikörper bei der Neuromyelitis optica vor.
Prof. Comi aus Mailand hob hervor, dass eine Kombinationstherapie mit den bisher etablierten Substanzen auf Grund verschiedenster Aspekte, insbesondere in Bezug auf die unterschiedliche Wirksamkeit und das Sicherheitsprofil in der Therapie sehr sinnvoll erscheint, es allerdings nur sehr wenig diesbezügliche praktische Erfahrung gibt.
Prof. Montalban ging in seinem Vortrag auf unterschiedliche Erkenntnisse des Stratify-Programms bezüglich der Entwicklung einer PML unter Natalizumab ein. Als essenziell betrachtete er bei PML-Verdacht eine schnellstmögliche Abklärung bzw. Diagnosestellung. Das Outcome nach PML hängt von der frühzeitigen Diagnosesicherung ab, vor allem auch deshalb, weil Natalizumab mittels Plasmapherese praktisch vollständig aus dem Kreislauf eliminiert werden kann. Prof. Du Pasquier aus Lausanne wies darauf hin, dass abhängig vom Krankheitsstadium MS-Betroffene bereit sind, ein sehr unterschiedliches Risiko in Bezug auf die Behandlung einzugehen. Hinsichtlich einer Therapieeskalation ist es wichtig, das Therapierisiko zu kennen und mit dem/der Patienten/-in zu erörtern. Vorausgesetzt die Indikation für die jeweilige Medikation ist gegeben, sieht er den PatientInnenwunsch als entscheidenden Faktor für die Therapieentscheidung an.

Behandlung bei CIS: Die Session wurde von Prof. Vass aus Wien mit einem anschließend ausführlich diskutierten Vortrag über die Ergebnisse der ACISS-Studie eröffnet, wobei er insbesondere darauf einging, dass die initiale Therapieentscheidung bei österreichischen PatientInnen mit CIS (clinically isolated syndrom) vor allem von der Läsionslast im MRI abhängig war. Dr. Sastre-Garriga aus Barcelona wies darauf hin, dass zu Therapiebeginn ein Surrogatmarker für das Ansprechen des/der individuellen Patienten/-in auf eine Therapie sehr hilfreich wäre. Seiner Ansicht nach kann das Auftreten von 2 oder mehr T2-Läsionen im MRI in den ersten 6 bis 12 Monaten einer Basistherapie als zuverlässiger Parameter für Therapie-Non-Responder verwendet werden.
Prof. Derfuss aus Basel sprach sich für einen frühzeitigen Beginn einer Therapie mit Interferon-ß-Präparaten aus, weil es sich hierbei um in aller Regel sehr gut verträgliche Medikamente handelt. In Bezug auf die längerfristige Wirksamkeit stellte er die 21-Jahres-Follow-up-Daten der Zulassungsstudie von Interferon-ß-1b vor. Hier ergab sich bei den von Beginn an mit Interferon-ß-1b behandelten PatientInnen eine Reduktion der Mortalität um 39 % im Vergleich zu den ursprünglich mit Placebo behandelten StudienteilnehmerInnen.
Prof. Miller aus Haifa gab einen Ausblick auf zukünftige Möglichkeiten der Verwendung von genomischen bzw. pharmakogenomischen Methoden, die möglicherweise zukünftig bei Therapiestudien Anwendung finden werden. Allerdings betonte er, dass es unabhängig davon essenziell ist, dass ein großes Augenmerk auf Therapieadhärenz gelegt wird.

Arzt-/Ärztin-PatientInnen-Verhältnis: Dr. Palace aus Oxford und Prof. Heesen aus Hamburg berichteten darüber, dass sich die frühere paternalistische Einstellung der behandelnden ÄrztInnen heutzutage zumeist in Richtung einer partnerschaftlichen Entscheidung entwickelt hat.
Parallelen zu Management-Strategien lassen sich erkennen. Anstelle der autoritären/paternalistischen Führung ist nun eine kooperative/partnerschaftliche Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidungsfindung generiert Vertrauen. In einem Vertrauensverhältnis wird der/die PatientIn Fragen und Sorgen artikulieren. Dies wiederum fördert die Adhärenz der PatientInnen zu getroffenen Therapieentscheidungen und wirkt sich positiv auf das Outcome aus. Dieses Miteinander setzt mündige PatientInnen voraus (das Internet fördert diese Entwicklung, kann aber die Arzt-/Ärztin-PatientInnen-Beziehung nicht ersetzen) sowie Ärzte und Ärztinnen, die einen Teil der „Gott in Weiß“-Mentalität abgeben können.
Der emotionale Höhepunkt war der Vortrag von Gräfin von Prückler aus Frankfurt, die als MS-Betroffene ihre Erfahrungen in der Arzt-/Ärztin-PatientInnen-Interaktion schilderte. Sie warb darum, dass die ärztlichen KollegInnen trotz Stress und Termindrucks die Menschlichkeit nicht vergessen sollten. Als Tipp gab sie den anwesenden Ärzten und Ärztinnen mit, immer wieder zu versuchen, sich in die Position ihrer PatientInnen zu versetzen und auch aus diesem Blickwinkel die zu treffenden Entscheidungen zu sehen.

Informationen zu Selbsthilfegruppen

Weiterführende Links finden Sie bei der Österreichische Multiple Sklerose Gesellschaft, Dachverband, unterwww.msgoe.co.at