Unter den Präsentationen zur MS-Therapie waren präliminäre Berichte über eine mögliche Reduktion der Krankheitsprogression bei chronisch-progredienten Krankheitsverläufen bemerkenswert. Sie bedürfen allerdings noch der Bestätigung durch weitere Studien. So konnte in einer Phase-II-Studie nach einer zweijährigen Behandlung mit täglich 80 mg Simvastatin bei PatientInnen mit sekundär chronischer MS im Vergleich zur Placebogruppe eine statistisch signifikante Reduktion der Hirnatrophie gezeigt werden (0,298 % vs. 0,589 %), die sich auch im EDSS, nicht aber im MSF-Score widerspiegelte1. Wer für Simvastatin, dessen Patentschutz abgelaufen ist, eine Phase-III-Studie finanzieren soll, blieb eine unbeantwortete Frage, und es ist zu hoffen, dass dieses Präparat nicht ein ähnliches Schicksal wie Azathioprin erleidet, für das erst 15 Jahre nach Markteinführung der Beta-Interferone erstmals eine Non-Inferiority-Studie durchgeführt wurde, in der keine Überlegenheit von Beta-Interferon zu Azathioprin nachgewiesen werden konnte2.
In einer kleinen, nicht verblindeten Studie an MS-PatientInnen mit primär oder sekundär chronischem Krankheitsverlauf konnte nach einer 60-wöchigen Behandlung mit Natalizumab ebenfalls eine Reduktion der Hirnatrophie im Vergleich zwischen der 12. und 60. Behandlungswoche und dem Ausgangsbefund nachgewiesen werden. Zusätzlich kam es zu einem signifikanten Abfall von Entzündungsmarkern (Osteopontin, CXCL13) und von Markern für eine axonale Degeneration (Neurofilament-Leichtkette) im Liquor sowie zu einer Reduktion des EDSS3. Liquorparameter, wie sie in dieser Studie als Endpunkt verwendet wurden, könnten in zukünftigen Studien an chronischen MS-Verläufen als Surrogat für einen klinischen Endpunkt dienen, damit die Studiendauer abkürzen und die Kosten senken.
In einer randomisierten und placebokontrollierten klinischen Untersuchung der Wirkung von Tetrahydrocannabinol auf die Krankheitsprogression bei PatientInnen mit primär oder sekundär chronischem Krankheitsverlauf konnte nach 3-jähriger Behandlungsdauer zunächst kein Effekt auf die Krankheitsprogression gemessen am EDSS nachgewiesen werden. Allerdings fand sich in einer Subgruppenanalyse eine signifikante Reduktion der Progredienz bei denjenigen PatientInnen, deren EDSS zu Studienbeginn < 6 lag. Dies zeigt die Wichtigkeit einer adäquaten PatientInnenauswahl bei klinischen Studien4.
Zu den neuen Präparaten Alemtuzumab, BG12 und Teriflunomid, die sich bereits in der Zulassungsphase befinden, gab es eine Reihe von Berichten aus Subgruppenanalysen, gepoolten Daten und Anschlussstudien zu Sicherheit, sekundären Endpunkten und Wirksamkeit. Diese Präsentationen erfolgten meist in Form von Postern, und sie bestätigten größtenteils die bereits aus den Phase-III-Studien bekannten Ergebnisse.
Eine Verlängerungsstudie von Daclizumab, einem humanisierten Antikörper (AK) gegen den IL-2-Rezeptor (CD25) auf T-Lymphozyten, zeigte auch im zweiten Behandlungsjahr eine ähnlich hohe Schubreduktion von 62 % wie im ersten Behandlungsjahr (66 %) verglichen mit der Placebogruppe des ersten Behandlungsjahres. In einer „Wash-out-Phase“ über 24 Wochen kam es zu einem Wiederauftreten der Krankheitsaktivität. Sie erreichte allerdings nicht ein Ausmaß wie vor Therapiebeginn5.
Eine doppelblinde placebokontrollierte kleine Studie mit einem neutralisierenden AK (Secukinumab) gegen IL-17A an 73 PatientInnen mit schubförmig verlaufender MS zeigte im Vergleich zu Placebo innerhalb einer Prüfdauer von 6 Monaten eine signifikante Reduktion gadoliniumaufnehmender Herde. Schwere Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet. Dieses Ergebnis ist Anlass für weitere klinische Studien6.
Dass mit einer doppelten Einzeldosis (40 mg) Glatiramerazetat, die 3-mal wöchentlich s. c. verabreicht wurde, eine Reduktion der Schubrate um 34,4 % im Vergleich zu Placebo erreicht werden konnte, wurde zwar unter „Late Breaking News“ berichtet, war aber nicht überraschend. Es stellt sich nur die Frage, warum diese Studie nicht auch mit 20 mg 3-mal wöchentlich erfolgt ist7.
In mehreren Posterpräsentationen wurden Strategien zur Verhinderung des Wiederauftretens von Krankheitsaktivität oder von einem Rebound nach Absetzen von Natalizumab diskutiert. Während ein Wiederauftreten einer Krankheitsaktivität durch eine frühe wiederholte Gabe von gepulstem hochdosiertem Methylprednisolon nicht verhindert werden konnte8 und Ähnliches auch für Beta-Interferon in einer kleinen Pilotstudie beobachtet wurde9, war dies bei Fingolimod nicht der Fall, wenn die Behandlung früh und innerhalb von 12 Wochen nach Absetzen von Natalizumab begonnen wurde10, 11.
Mehrere Präsentationen berichteten über Studien zur chronisch zerebrospinalen venösen Insuffizienz (CCSVI) und MS. In einer großen epidemiologischen Prävalenzstudie wurde bei 3,26 % der PatientInnen mit unterschiedlichen MS-Verlaufsformen, bei 3,1 % der PatientInnen mit anderen neurologischen Erkrankungen und bei 2,13 % der gesunden Kontrollpersonen sonographisch eine CCSVI festgestellt. Die lokalen UntersucherInnen waren verblindet, und die Ergebnisse wurden an einem zentralen Kompetenzzentrum durch ebenfalls verblindete UntersucherInnen ausgewertet12. Ähnliche Resultate wurden auch in einer amerikanischen Studie an 206 PatientInnen mit unterschiedlichen MS-Verlaufsformen und 70 Kontrollen ohne MS erhoben13. Unter Berücksichtigung beider Untersuchungsergebnisse spielt die CCSVI in der MS keine Rolle, und die daraus abgeleiteten Therapiemaßnahmen sind wohl endgültig als obsolet anzusehen.
Entgegen der bisherigen Annahme, dass mit zunehmendem Lebensalter bei PatientInnen mit MS das Risiko zur Entwicklung eines sekundär chronisch-progredienten Verlaufes zunimmt, konnte durch die Analyse von Daten aus den USA, der Türkei und aus dem Libanon gezeigt werden, dass dies für PatientInnen jenseits des 45. Lebensjahres nicht zutrifft. Das Risiko für PatientInnen mit schubförmigem Verlauf, an einer sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform zu erkranken, beträgt in dieser Studie mit 45 Jahren 50 %. Bei über 45-Jährigen fällt dieses Risiko auf 35 %, bei über 50-Jährigen auf 20 % und bei über 60-Jährigen auf 7 %. Die AutorInnen leiten aus ihren Daten mit Hilfe eines mathematischen Modells ab, dass 38 % (Range 5 % bis 43 %) der PatientInnen mit einer schubförmigen MS während einer Lebensspanne von 75 Jahren nicht an einer sekundär chronischen Verlaufsform erkranken werden14.
In eine ähnliche Richtung weisen Untersuchungsdaten aus einer populationsbezogenen Inzidenzkohorte von 306 MS-PatientInnen aus Göteborg hin, deren Erkrankung zwischen 1950 und 1964 begann. Bei 264 von diesen lag zu Krankheitsbeginn ein CIS vor. Bei 17,8 % dieser PatientInnen mit CIS trat zeit ihres Lebens kein weiterer Krankheitsschub auf. Das Alter der zum Zeitpunkt der Datenanalyse noch lebenden 8 CIS-Patienten lag bei 78 (67–90) Jahren. Das längste Intervall bis zur Konversion eines CIS zu einer definitiven MS betrug 24 Jahre15.
Mehrere Vorträge und Poster ergänzten mit neuen Details die bereits bekannte Rolle von Vitamin D als MS-Risikofaktor. Erwähnenswert sind Daten aus der BENEFIT-Studie, die zeigten, dass das Risiko von PatientInnen mit CIS, in eine klinisch definitive MS zu konvertieren, von der Höhe des Vitamin-D-Serumwertes abhängt. Es war bei PatientInnen in der höchsten Quintile (25[OH]D-Serumwerte > 58 nmol/l) um 42 % geringer als bei PatientInnen mit der niedrigsten Quintile (25[OH]D-Serumwerte < 33 nmol/l). Dieser positive Effekt von Vitamin D war sowohl in den mit Beta-Interferon behandelten PatientInnen als auch in der Placebogruppe zu beobachten. Daraus ergibt sich nicht nur die Notwendigkeit, bei Planung und Interpretation von Therapiestudien Vitamin-D-Serumwerte zu berücksichtigen, sondern auch rasch mit prospektiven klinischen Studien zur Vitamin-D-Substitution bei PatientInnen mit CIS oder MS zu beginnen16.
Ein neues Konzept zur Pathogenese der MS basiert auf der Hypothese, dass ins menschliche Genom integrierte, nicht mehr infektiöse endogene Retroviren eine entscheidende Rolle spielen. So konnte in MS-Läsionen wiederholt ein virales Hüllprotein („Multiple-Sklerose-assoziiertes Retrovirus-Element“ – MSRV-Env) nachgewiesen werden. Dieses führt über Interaktion mit dem Toll-like-Rezeptor-4 an antigenpräsentierenden Zellen zu einer ausgeprägten inflammatorischen Reaktion, die wiederum durch ihren schädigenden Einfluss auf Oligodendrozyten-Vorläuferzellen die Remyelinisierung blockiert17.
Basierend auf diesem Konzept wurde nun ein humanisierter monoklonaler AK (GNbAC1) gegen MSRV-Env entwickelt, dessen Sicherheit und Verträglichkeit in einer Phase-I-Studie bestätigt werden konnte. Dieser AK eröffnet neue Möglichkeiten der MS-Behandlung, da er spezifisch den Effekt des immunpathogenen Proteins MSRV-Env blockiert, ohne die physiologischen Funktionen des Immunsystems negativ zu beeinflussen. Mit einer multizentrischen Phase-IIb-Studie soll im kommenden Jahr begonnen werden18, 19.
In einem Screening von Seren von MS-PatientInnen auf AK, die gegen Strukturen des ZNS gerichtet sind, konnte bei 50 % dieser PatientInnen ein mit Gliazellen reagierender IgG-AK nachgewiesen werden. In weiteren Analysen wurde festgestellt, dass es sich bei dem Antigen um den Kaliumkanal KIR4.1 handelt. KIR4.1 wird an Oligodendrozyten und Astrozyten exprimiert und ist im ZNS für den Großteil des ins Zellinnere gerichteten Kaliumtransportes verantwortlich. Aus dem Nachweis dieses Antikörpers können sich wichtige Konsequenzen in Diagnose und Therapie der MS ergeben. Neben Aqp4-AK bei den NMO-Spektrum-Erkrankungen und MOG-AK bei Kindern mit ADEM ist dies nun der 3. Antikörper, dem eine pathogenetische Bedeutung bei demyelinisierenden Erkrankungen des ZNS zukommen könnte20.
Aus Seren von 348 PatientInnen, die wegen des Verdachtes auf eine NMO-Spektrum-Erkrankung untersucht worden waren, wurden mit einem Radioimmunopräzipitations-Assay bei 12 % Aqp4-AK und bei 17 % Aqp1-AK nachgewiesen. Bei 4 % waren beide AK nachzuweisen. Abgesehen von 3 PatientInnen mit dem klinischen Bild einer spinalen MS wurden bei keiner der übrigen 242 Kontrollpersonen Aqp1- oder Aqp4-AK nachgewiesen. Dieses Untersuchungsergebnis hätte eine Verdoppelung der Zahl der PatientInnen mit Aqp-Ak positiven NMO-Spektrum-Erkrankungen zur Folge, muss aber noch von weiteren Arbeitsgruppen nachvollzogen werden21.
Abschließend ist zu erwähnen, dass die Auswahl der in diesem Kongressbericht erwähnten Präsentationen subjektiv geprägt und vom Interessensgebiet des Verfassers beeinflusst ist. Sie muss auch bei 77 Vorträgen, die überwiegend in Parallelsitzungen stattfanden und bei 931 Posterpräsentationen, die nur unter einem großen Gedränge zu besichtigen waren, unvollständig bleiben. Jedoch können nahezu alle Abstracts, zahlreiche Poster und (mit einem Passwort) auch einige Vortragsvideos aus dem Internet abgerufen werden.