Bei ca. 30 % der EpilepsiepatientInnen besteht eine medikamentös therapieresistente Epilepsie, d. h. die Anfälle persistieren trotz optimierter und maximaler Pharmakotherapie. Ein epilepsiechirurgischer Eingriff kommt als Behandlungsoption allerdings nur für einen Teil dieser PatientInnen in Frage. Es besteht deshalb ein dringender Bedarf für andere Behandlungsmodalitäten, wobei die Neurostimulation eine derartige Therapieform darstellen könnte1.
Während die Vagusnervstimulation bereits eine etablierte Methode ist, deren Wirksamkeit in randomisierten Studien nachgewiesen werden konnte2, 3, wurden zuletzt zwei randomisierte Neurostimulationsstudien mit anderen Zielstrukturen publiziert: In der ersten Studie wurde der anteriore Thalamus stimuliert4, in der zweiten Studie erfolgte eine sog. responsive Neurostimulation der zuvor identifizierten Anfallsursprungszonen5. Diese beiden Stimulationsverfahren sollen im Folgenden kurz vorgestellt und dann im Vergleich zur etablierten VNS diskutiert werden.
In diese multizentrische, doppelblinde, randomisierte SANTE-Studie (Stimulation of the anterior nucleus of the thalamus for epilepsy) von Fisher et al.4 wurden 157 PatientInnen mit therapieresistenten fokalen und sekundär generalisierten Anfällen eingeschlossen.
Nach einer 3-monatigen Baseline-Phase, in der die antiepileptische Pharmakotherapie konstant gehalten wurde, erfolgte bei 110 PatientInnen eine stereotaktische Elektrodenimplantation bilateral in den Nucleus anterior thalami. Ein Monat nach der Implantation wurden 54 PatientInnen in die Stimulationsgruppe (Stimulationsintensität 5 V, Stimulationsfrequenz 145 Pulse pro Sekunde, Pulsdauer 90 µs, Stimulation jeweils für eine Minute [On] mit nachfolgender Stimulationspause für 5 Minuten [Off]) und 55 PatientInnen in die Kontrollgruppe randomisiert. Nach der doppelblinden Phase von 3 Monaten erfolgte dann bei allen PatientInnen in einer offenen Phase (Monate 4–13) eine Stimulation, wobei eine limitierte Änderung der Stimulationsparameter möglich war.
Die mediane Anfallsfrequenz in der Baseline-Phase betrug 19,5 Anfälle/Monat.
Ergebnisse: Im letzten Monat der Doppelblindphase zeigte die Stimulationsgruppe gemäß dem Modell der allgemeinen Schätzgleichungen (generalized estimating equations model; GEE) eine um 29 % höhere Anfallsreduktion als die Kontrollgruppe (p = 0,002). Die nichtadjustierte mediane Reduktion der Anfallsfrequenzen am Ende der Doppelblindphase betrug 14,5 % in der Kontrollgruppe und 40,4 % in der Stimulationsgruppe. Zudem zeigten sich in der Doppelblindphase für die folgenden sekundären Zielparameter signifikant positive Effekte in der Stimulationsgruppe: Reduktion von komplex fokalen Anfällen (36,1 % vs. 12,1 %; p = 0,041); schwerster Anfallstyp nach PatientInneneinschätzung (40 % vs. 20 %; p = 0,047); Verletzungen durch Anfälle (7 % vs. 26 %; p = 0,01); Anfallsursprung temporal (44,2 % (n = 33) vs. 21,8 % (n = 29); p = 0,025); Anfallsursprung multifokal oder diffus (35,0 % (n = 8) vs. 14,1 % (n = 9); n. s.).
Im Langzeit-Follow-up war die mediane Reduktion der Anfallsfrequenz 41 % nach 13 Monaten (n = 99) und 56 % nach 25 Monaten (n = 81). Die 50%-Responderraten betrugen 43 % nach 13 Monaten (n = 99), 54 % nach 25 Monaten (n = 81) und 67 % nach 37 Monaten (n = 42). Anfallsfreiheit für mindestens 6 Monate konnte bei 14 PatientInnen (12,7 %) erreicht werden, für mindestens 1 Jahr bei 8 PatientInnen (7,3 %), für mindestens 2 Jahre bei 4 PatientInnen (3,6 %) und für mehr als 4 Jahre bei einem/einer Patienten/-in. Zudem zeigten sich im Langzeitverlauf signifikante Verbesserungen in der Anfallsschwere (Liverpool Seizure Severity Scale) und in der Lebensqualität (Quality of Life in Epilepsy; QoLIE-31).
5 PatientInnen verstarben während der Studie (3 SUDEP, 1 Suizid, 1 Ertrinken), wobei kein Todesfall perioperativ, in der 3-monatigen Doppelblindphase oder implantatbezogen auftrat. Bei keinem Patienten/keiner Patientin kam es zu einer symptomatischen Blutung oder Infektion. Ein Status epilepticus trat bei 5 PatientInnen (4,5 %) auf, bei 2 PatientInnen stimulationsbezogen am Beginn der Stimulation. In der Stimulationsgruppe wurden in der Doppelblindphase häufiger depressive Symptome und Gedächtnisprobleme berichtet als in der Kontrollgruppe, wobei diese Unterschiede allerdings nicht signifikant waren.
In diese multizentrische, doppelblinde, randomisierte Studie von Morell et al.5 wurden 240 PatientInnen mit therapieresistenten fokalen Anfällen eingeschlossen, bei denen im Rahmen der diagnostischen Abklärung ein oder zwei epileptogene Regionen diagnostiziert werden konnten. Nach einer 3-monatigen Baseline-Phase, in der die antiepileptische Pharmakotherapie konstant gehalten wurde, erfolgte bei 191 PatientInnen die Implantation eines RNS®-Systems (NeuroPace, Mountain View, CA) zur so genannten responsiven Hirnstimulation.
Die programmierbare Neurostimulatoreinheit wurde in den Schädelknochen implantiert und mit ein bis zwei Ableite- bzw. Stimulationselektroden verbunden, die über Tiefen- oder subdurale Streifenelektroden in den Anfallsfokus platziert wurden. Der Neurostimulator registrierte kontinuierlich die elektrografische Aktivität und wurde letztlich so programmiert, dass abnorme elektrografische Aktivität erkannt wurde und dann eine Stimulation erfolgte. Die mittlere Anfallsfrequenz in der Baseline-Phase betrug im Mittel 1,2 ± 2,2 Anfälle pro Tag (Bereich: 0,1–12,1 Anfälle pro Tag).
Im ersten Monat nach der Implantation war bei allen PatientInnen ohne Stimulation eine Reduktion der Anfallsfrequenz zu beobachten. Ein Monat nach der Implantation erfolgte die Randomisierung in eine Stimulationsgruppe (n = 97) und eine Kontrollgruppe (n = 94). In der Stimulationsgruppe wurden im nachfolgenden Monat die Stimulationsparameter optimiert. Dann erfolgte in einer 3-monatigen Doppelblindphase die Stimulation nur in der Stimulationsgruppe. In der anschließenden offenen Phase von 84 Wochen kam schließlich bei allen PatientInnen die responsive Hirnstimulation zur Anwendung.
Ergebnisse: In der Doppelblindphase zeigte sich in der Stimulationsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe eine signifikant größere Reduktion der Anfallsfrequenz (37,9 % vs. 17,3 %; p = 0,012). Im letzten Monat der Doppelblindphase betrug die mittlere Reduktion der Anfallsfrequenz in der Stimulationsgruppe 41,5 % und in der Kontrollgruppe 9,4 %. Zudem war die Zahl der anfallsfreien Tage in der Stimulationsgruppe mit 27 % signifikant höher als in der Kontrollgruppe mit 16 % (p = 0,048). 2 PatientInnen in der Stimulationsgruppe und kein/keine PatientIn in der Kontrollgruppe waren in der Doppelblindphase anfallsfrei. Bei den Responderraten (> 50%ige Anfallsreduktion) ergaben sich allerdings keine signifikanten Unterschiede zwischen Stimulationsgruppe (29 %) und Kontrollgruppe (27 %).
In der offenen Phase zeigte sich in der ursprünglichen Stimulationsgruppe eine anhaltende Anfallsreduktion, in der ursprünglichen Kontrollgruppe war unter der Stimulation eine signifikante Anfallsreduktion zu beobachten. Die 50%ige Responderraten waren 43 % nach einem Jahr (n = 177) und 46 % nach 2 Jahren (n = 102). Anfallsfreiheit für mindestens 3 Monate am Ende des Beobachtungszeitraums bestand bei 13 PatientInnen (7,1 %). In der offenen Phase zeigte sich auch für die folgenden Parameter ein signifikant positiver Effekt unter responsiver Hirnstimulation: Lebensqualität (QOLIE-89), Sprache, Gedächtnis, Aufmerksamkeit/Konzentration, Arbeit/Autofahren/Sozialleben sowie Sorge wegen der Anfälle.
Die Rate von ernsten Nebenwirkungen (SAE-Rate) lag in den ersten 28 Tagen bei 12 % und war somit vergleichbar mit den in der Literatur berichteten 15 % für die Implantation von intrakraniellen Elektroden in der prächirurgischen Epilepsiediagnostik. Die SAE-Rate in den ersten 84 Tagen war mit 18,3 % niedriger a
ls die in der Literatur berichteten 36 % für DBS-Implantation bei Behandlung von Parkinson-PatientInnen. In der Blinded Observation Period (BEP) zeigte sich für milde oder ernste Nebenwirkungen kein Unterschied zwischen Stimulations- und Kontrollgruppe.
Bei 2 PatientInnen zeigte sich eine implantatbezogene Zunahme der Anfallsfrequenz (je 1 PatientIn in der Stimulations- und Kontrollgruppe). Intrakranielle Blutungen wurden bei 4,7 % (9/191 PatientInnen) beobachtet, 6 der 9 Blutungen traten postoperativ auf, 7 Blutungen waren signifikant, 4 Blutungen (2,1%) signifikant und implantatbezogen. Aus keiner Blutung resultierten Dauerschäden. Zu implantat- oder inzisionsbezogenen Infektionen kam es bei 5,2 % (10/191 PatientInnen), bei 4/10 PatientInnen war eine Explantation erforderlich. 6 PatientInnen verstarben während der Studie (SUDEP: 4 PatientInnen, Lymphom: 1 PatientIn, Suizid: 1 PatientIn).
Vor der Implantation waren bei 52,7 % der PatientInnen verbale Gedächtnisstörung und bei 56,2 % visuospatiale Gedächtnisstörungen zu erheben. In der Blinded Observation Period zeigte sich kein Unterschied bezüglich der kognitiven Nebenwirkungen (inklusive Gedächtnis) zwischen Stimulations- und Kontrollgruppe, insbesondere war keine Verschlechterung von neuropsychologischen Parametern zu beobachten. 1 und 2 Jahre nach Implantation waren ebenfalls keine Verschlechterungen von neuropsychologischen Parametern, hingegen Verbesserungen von Sprachfunktionen, Gedächtnis und visuospatialen Fähigkeiten zu verzeichnen. Vor der Implantation bestand bei 49,7 % der PatientInnen eine positive Anamnese für Depression, bei 42,0 % eine aktuelle Depression (BDI-II oder CES-D) und bei 10,2 % eine passive Suizidalität (BDI-II). In der Blinded Observation Period ergab sich kein Unterschied bezüglich Depression und Suizidalität zwischen Stimulations- und Kontrollgruppe. Auch 1 und 2 Jahre nach Implantation waren keine Veränderungen im BDI-II oder CES-D zu beobachten.
In einem rezenten Review-Artikel6 wurden die Vagusnervstimulation (VNS), die anteriore Thalamusstimulation (ANT) und die responsive Neurostimulation (RNS) hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit anhand der Ergebnisse der kontrollierten randomisierten Studien verglichen. Zur Beurteilung der VNS wurden die beiden Zulassungsstudien E033 und E052 herangezogen.
Allgemeine Bemerkungen: Beim Vergleich der verschiedenen Methoden müssen die folgenden Aspekte beachtet werden:
Wirksamkeit: Hinsichtlich Wirksamkeit ist ein direkter Vergleich zwischen VNS, ANT und RNS auf Grund des limitierten Zugriffs auf die Originaldaten und auf Grund der unterschiedlichen eingeschlossenen PatientInnenpopulationen nur bedingt möglich.
Anfallsreduktion: In der Doppelblindphase zeigte sich für die ANT und die DBS ein Trend zu einer höheren Anfallsreduktion im Vergleich zur VNS (ANT 40,4 %, RNS 37,9 %, VNS-E03 24,5 %, VNS-E05 27,9 %). Dieser Unterschied war allerdings in der offenen Anschlussphase nicht mehr nachweisbar (ANT 41 %, RNS keine Daten ausgewiesen, VNS-E03 43 %, VNS- E05 45 %).
Responderraten (mehr als 50%ige Anfallsreduktion): Hier ergaben sich widersprüchliche Ergebnisse. Bei der VNS waren in beiden Studien in der Stimulationsgruppe signifikant mehr Responder zu beobachten als in der Kontrollgruppe (Stimulation mit niedriger Intensität, E03: 31 % vs. 13 %; E05: 23,4 % vs. 15,7 %). Für die RNS war die Responderrate in der Stimulationsgruppe 29 % und somit ähnlich wie in der Kontrollgruppe mit 27 %, auch bei der ANT ergab sich kein Unterschied in den Responderraten zwischen Stimulations- vs. Kontrollgruppe (keine Zahlen ausgewiesen). Die Responderraten im Langzeitverlauf können wie folgt zusammengefasst werden: VNS: 36,8 % nach einem Jahr, 43,2 % nach 2 Jahren und 42,7 % nach 3 Jahren. ANT: 43 % nach 13 Monaten, 54 % nach 25 Monaten und 67 % nach 37 Monaten. RNS: 43 % nach einem Jahr, 46 % nach 2 Jahren.
Sicherheit und Störwirkungen: Die VNS ist die am wenigsten invasive Methode. Bei der ANT waren in 8,2 % der Fälle die Elektroden nicht im Zielbereich, was eine Repositionierung erforderlich machte. Bei der RNS kam es bei 2,1 % zu signifikanten und implantatbezogenen Blutungen, bei der ANT traten keine symptomatischen oder klinisch relevanten Blutungen auf. Bei der RNS war bei 2,1 % auf Grund implantat- oder inzisionsbezogener Infektionen eine Explantation der Elektroden erforderlich. Bei der ANT kam es bei 2 PatientInnen stimulationsbezogen am Beginn der Stimulation zu einer Zunahme der Anfallsfrequenz, bei der RNS zeigte sich in 2 Fällen eine implantatbezogene Zunahme der Anfallsfrequenz (je 1 PatientIn in der Stimulations- und Kontrollgruppe).
Schließlich sind noch die Gedächtnisprobleme und depressiven Symptome unter ANT zu erwähnen, die bei RNS nicht auftraten. Bei VNS waren hingegen positive Effekte auf die Stimmung und eine vorbestehende depressive Symptomatik zu verzeichnen. Die typischen Störwirkungen der VNS wie Heiserkeit, Hustenreiz, stimulusassoziierte Stimmänderungen, Parästhesien, Atemnot, Muskelschmerzen und Kopfschmerzen sind naturgemäß bei ANT und RNS nicht zu beobachten.
Neurostimulationsmethoden stellen eine mögliche Behandlungsoption für PatientInnen mit therapieresistenten Epilepsien dar, für die ein epilepsiechirurgischer Eingriff nicht in Frage kommt bzw. nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat. Alle genannten Verfahren sind als palliative Methoden anzusehen und führen nur in Ausnahmefällen zur Anfallsfreiheit. Die Indikationsstellung und praktische Durchführung sollte epilepsiechirurgischen Zentren mit allen Möglichkeiten der präoperativen Diagnostik und operativen Therapie vorbehalten bleiben. Jedenfalls müssen bei jedem/jeder Patienten/-in vor der Implantation ein prolongiertes Video-EEG-Monitoring, eine hochauflösende MRT, eine neuropsychologische Testung und eine psychiatrische Evaluation durchgeführt werden. Die ANT und RNS können auch bei PatientInnen eingesetzt werden, bei denen bereits ein VNS implantiert wurde und nicht zu einer befriedigenden Anfallskontrolle geführt hat.