Das Interview führte Dr. Isabella Bartmann
erschienen in ARZT & PRAXIS 8/2019
Alle medizinischen Spezialisten tauschen neue Erkenntnisse der Wissenschaft sowie Best Practice auf internationalen Kongressen aus – auch für die Allgemeinmedizin besteht diese Option. Dr. Maria Wendler, Hausärztin und Schriftführerin der ÖGAM, besucht zumindest zweimal jährlich internationale Veranstaltungen ihres Faches und nimmt von dort sowohl Nützliches für ihre Arbeit am Patienten als auch Know-how zur Optimierung der Primärversorgung mit – „… und zu verbessern gibt es viel“, sagt sie im Interview mit ARZT & PRAXIS.
ARZT & PRAXIS: Frau Dr. Wendler, Sie haben auch heuer wieder am Europakongress der WONCA, der Weltorganisation für Allgemein- und Familienmedizin, teilgenommen. Was gefällt Ihnen an dieser Veranstaltung?
Dr. Maria Wendler: Ich nehme seit 2012 am WONCA-Kongress teil, früher für
die JAMÖ – die junge Allgemeinmedizin Österreich – und jetzt, da ich bereits
mehr als fünf Jahre Ärztin bin, für die ÖGAM – die Österreichische Gesellschaft
für Allgemeinmedizin. Der WONCA- Kongress ist für mich immer sehr spannend, weil er ein breites Spektrum an Themen bietet – vor allem solche, die bei klassischen Fortbildungen in Österreich kaum vertreten sind, die hausärztliche Medizin aber ausmachen. Zum Beispiel die Beschäftigung mit der Arzt-Patienten-Beziehung und warum diese wichtig für den Patienten-Outcome ist – beispielsweise zur Senkung der Mortalität. Oder welcher wissenschaftliche
Hintergrund hinter unserem „Bauchgefühl“ steckt, das entsteht, wenn der Patient bei der Tür hereinkommt, und warum es eine wichtige Komponente bei der Einschätzung des Patienten ist, aber auch, warum dieses „Bauchgefühl“ mit zunehmender Erfahrung und Betreuungskontinuität besser wird und wie wir es in unsere Therapieentscheidung integrieren können. Bei solchen Kongressen hören wir über den wissenschaftlichen Hintergrund unserer Fachdisziplin und sehen, dass Forschung auch zu diesen Themen wichtig und möglich ist. Mit solchen Bereichen der Allgemeinmedizin beschäftigen wir uns in Österreich vergleichsweise wenig, gerade deshalb ist auch die internationale Perspektive so interessant. Darüber hinaus wird beim Kongress der WONCA auch viel über Gesundheitssysteme, über Lehrqualität und Ausbildungspraktiken gesprochen. Man kann sich dabei viele Ideen für eine Umsetzung in Österreich holen.
Was kann ein Hausarzt ohne berufstheoretisches Interesse für seine Praxis mitnehmen?
Der WONCA-Kongress vermittelt Wissen zu Themen, die ich in der eigenen Ausbildung in Österreich nicht gelehrt bekomme habe oder die nur als Randthemen vorkommen. Heuer habe ich zum Beispiel an einem Workshop zum Thema „Gewalt in der Familie“ teilgenommen. Wann screent man Frauen bei Verdacht auf familiäre oder eheliche Gewalt? Was sind die Alarmsignale? Außerdem habe ich einen Workshop über Gesprächsführung und die Mitteilung schwieriger Diagnosen besucht. Ich suche mir bewusst diese Themen aus, denn rein fachlich-medizinische Fortbildungen gibt es im Inland ausreichend. Ich stelle mir aus den Angeboten ein Programm zusammen, mit dem ich sowohl systemische Einblicke erhalte, aber auch für mich persönlich und für meine Patientenbetreuung etwas mitnehme. Schade war lediglich, dass am WONCAKongress, obwohl er in Bratislava stattgefunden hat, weniger als 30 österreichische Allgemeinmediziner vertreten waren. Vergangenes Jahr in Krakau waren es sogar nur sieben, die teilgenommen haben. Ich denke, dass der Kongress und dessen Benefits vielen noch kein Begriff sind. Eine Anerkennung der dort erworbenen CME-Fortbildungspunkt im österreichischen DFP-System war bisher aber nie ein Problem.
Würden Sie sich ein ähnliches Allgemeinmediziner-fokussiertes Fortbildungsprogramm in Österreich wünschen?
Themen, die sich mit sozialmedizinischen Fragestellungen oder sogenannten „Soft Skills“ beschäftigen, werden auch immer wieder auf ÖGAM-Kongressen adressiert, aber in der universitären Lehre finden sie derzeit noch viel zu wenig Platz. Ein toller Kongress über wichtige „Randthemen“ der Allgemeinmedizin ist jener der ÖGPAM, der österreichischen Gesellschaft für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin in der Allgemeinmedizin. Diese Tagung im Frühjahr vermittelt Wissen aus Psychosomatik, Gesprächsmedizin und ähnlichen Themen. Aber auch am JAM, dem Kongress der jungen Allgemeinmedizin – heuer vom 18. bis 20. Oktober in Salzburg –, werden diese Themen in ein buntes Programm mit allgemeinmedizinischem Fokus integriert. In diesem Jahr wird zum Beispiel auch das Thema Sexualmedizin abgedeckt. Auch die Länderkongresse der ÖGAM sind sehr bemüht, ein vielfältiges Programm anzubieten. Das erreicht zwar meist die ÖGAMMitglieder, aber für die breite Masse der Allgemeinmediziner ist es zu wenig. Wir bräuchten mehr fachspezifische Fortbildung in Österreich.
Sie sind seit Kurzem auch Österreich- Delegierte des EURACT Councils, für das Sie zweimal jährlich ins Ausland reisen. Was bringen Sie von dort mit?
Bei der EURACT handelt es sich um eine internationale Arbeitsgruppe der WONCA, die sich der Lehre und Forschung im Bereich der Allgemeinmedizin widmet. Der Austausch in diesem Netzwerk ist praktisch, wenn wir uns eine wissenschaftliche Frage stellen, für die wir in Österreich keine Daten haben, die Kollegen in den anderen Ländern aber vielleicht schon. In Österreich gibt es bei Weitem nicht so viele Lehrprojekte wie in anderen Ländern, was diese Meetings natürlich besonders spannend für mich macht. Bei der EURACT und ihrem Kongress wird über eine Art der Lehre und den Erwerb der Fachkompetenz diskutiert, die uns Jahre voraus ist. Dass Allgemeinmedizin ein eigenständiges Fach ist, ist dort selbstverständlich. Wir kämpfen hierzulande immer noch um die Fachanerkennung.
Wie lässt sich dieses internationale Know-how in Österreich anwenden?
Die EURACT arbeitet gerade an den europäischen Standards der allgemeinmedizinischen Ausbildung, hinterlegt mit entsprechender Literatur und Evidenz. Diese können wir auch in Österreich als Argumentationshilfe beim Einsatz um eine bessere Ausbildung heranziehen. Der zweite Aspekt ist, dass man über diese internationalen Netzwerke von den Kollegen über neue Entwicklungen, aber auch Fehlentwicklungen hört und lernt – und sich diese idealerweise ersparen kann. Man muss nicht jedes Rad neu erfinden und kann die Erfahrungswerte der anderen nutzen und sich dadurch Zeit und Arbeit ersparen.
Wo sehen Sie aktuell den größten Verbesserungsbedarf in der allgemeinmedizinischen Versorgung in Österreich?
Das ist unglaublich schwierig zu beantworten, denn dreht man an nur einer Stellschraube, ohne die anderen mitzudrehen, erreicht man nicht viel. Das ist auch das, was die ÖGAM versucht hat, mit dem Masterplan darzustellen: Es gibt so viele Ebenen, auf denen kleine Veränderungen notwendig sind, um das gesamte System an sich zu verbessern. Was wir in jedem Fall brauchen, ist eine rasche Attraktivierung der Allgemeinmedizin – und zwar eine so deutliche Wertschätzung des Faches, dass junge Kollegen diese wieder als Karriereoption empfinden. Wenn wir es nicht schaffen, Nachwuchs zu generieren, dann wird sich die Versorgung der Bevölkerung deutlich verschlechtern. Denn nur, weil es jetzt noch recht gut läuft, heißt das nicht, dass das so bleibt. Es geht auch darum, die solidarische Gesundheitsversorgung für alle Menschen in Österreich aufrechtzuerhalten – und da brennt dann der Hut. Ein junger Patient mit einem konkreten gesundheitlichen Problem mag sich ja ohne weiteres selbst aussuchen können, bei welchem Spezialisten er gut aufgehoben ist, auch wenn er dabei irrt. Eine multimorbide 80-Jährige mit Gehschwierigkeiten kommt aber zum nahe gelegenen Hausarzt – oder wir kommen zu ihr, denn immerhin machen wir – noch – Visiten …
Wie lässt sich das Attraktivitätsproblem der Allgemeinmedizin beheben?
Wenn es einfach wäre, wäre das Problem wohl schon gelöst. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass eine frühe und möglichst positive Begegnung mit der Allgemeinmedizin in der Ausbildung die Wahrnehmung des Faches als interessante Karriereoption verstärkt. Etwa über Praktika oder Mentoring-Programme, in denen man Einblick in die Allgemeinmedizin mit all ihrer Vielfalt und Buntheit gewinnt, mit der gleichzeitigen Anerkennung, dass es sich um ein Fach handelt, das genauso seine Spezialitäten hat wie andere medizinische Spezialisierungen. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist neben der Ausbildung sicherlich auch die Wertschätzung der Allgemeinmedizin. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Gleichstellung – wer viel Geld verdienen will, wählt ohnehin einen anderen Pfad. Aber es geht um einen fairen Ausgleich für den bestehenden Arbeitsaufwand. Und um die Fachanerkennung: Es fühlt sich nicht richtig an, dass beispielsweise ein Facharzt für Chirurgie, der nie in unserem Fach gearbeitet hat und nie mehr in unserem Fach arbeiten wird, als Berufsbezeichnung zusätzlich „Arzt für Allgemeinmedizin“ anführt, nur weil er den Turnus absolviert hat. Umgekehrt sind und bleiben wir – trotz unserer ständigen Weiterbildung, unserer beruflichen Erfahrung und des fachspezifischen Knowhows – „nur“ Arzt für Allgemeinmedizin.
Ich höre von vielen, dass die Ausbildung für Allgemeinmediziner im Krankenhaus problematisch ist …
„Problematisch“ ist mild ausgedrückt! Ich kenne genügend Fälle, wo Kollegen, nur weil sie Allgemeinmediziner werden wollen, ausschließlich für den „Systemerhalt“ im Krankenhaus genutzt werden – beispielsweise zum Schreiben von Arztbriefen am Wochenende –, damit sie schlussendlich ihr Zeugnis bekommen. Selbst schlechte Evaluierungen von Ausbildungsstellen haben kaum eine Konsequenz. Da stellt sich für mich schon die Frage, ob das Fach politisch wirklich als wichtig empfunden wird. Anstatt von vornherein zu sagen, „Ihr seid wichtige Ärzte im System, ihr müsst uns Krankenhäuser nach (!) der Ausbildung entlasten, darum geben wir euch die bestmögliche Ausbildung mit, die wir euch bieten können“, wird diese immer wieder als Holschuld dargestellt. Viel zu oft heißt es, dass wir unsere Ausbildung „halt einfordern müssen“ – es werden jedoch weder die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt, noch fühlt sich irgendjemand im Krankenhaus ausbildungsverantwortlich. Die Ansprechperson für diese sogenannte „Holschuld“ existiert nämlich oft nur am Papier.
Ein weiteres Problem ist, dass es noch immer Fälle gibt, in denen junge Kollegen
ein paar Jahre allgemeinmedizinische Ausbildung machen sollen, um dann später die Chance auf eine andere Fachausbildung zu bekommen. Wie hoch diese Dunkelziffer der „Pseudo Allgemeinmediziner“ ist, wissen wir leider nicht.
Wie bekommen Sie alle Ihre Funktionen unter einen Hut?
(lacht) Da steckt ganz viel Idealismus dahinter! Momentan habe ich ein bisschen mehr Zeit für diese Dinge, da ich bis vor Kurzem in Karenz war. Wenn ich dann endlich Vollzeit in meiner Ordination arbeite, werden diese außertourlichen Aktivitäten wahrscheinlich etwas weniger. Dann bin ich in erster Linie für meine Patienten da – auch wenn das bedeutet, hin und wieder wegzufahren, um mit Wissen bereichert zurückzukommen.