Das Interview führte Dr. Isabella Bartmann
erschienen in ARZT & PRAXIS 1/2020
Bild:Oliver Miller-Aichholz
Während akute Schmerzen meist gut im niedergelassenen Bereich behandelt werden können, bedürfen chronische Schmerzen einer interdisziplinären Versorgung, auf welche die Betroffenen oft lange warten müssen. Die Vertreter der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) fordern daher mehr spezialisierte Anlaufstellen, kürzere Wartezeiten und eine Integration der Schmerzausbildung in die ärztliche Ausbildung von Anfang an.
Etwa 1,5 bis 1,8 Millionen Menschen in Österreich leben mit chronischen Schmerzen. Rund 350.000 von ihnen leiden an einer schweren Schmerzerkrankung mit Chronifizierung. Die Herausforderungen der Schmerzversorgung hierzulande sind vielfältig. Ärzte sowie andere Angehörige von Gesundheits- und Pflegeberufen sind besonders gefordert. Das Personal ist knapp bemessen; die Zeit für Weiterbildung, Supervision und für die Patienten ist ebenfalls gering. Die Österreichische Schmerzgesellschaft plädiert daher neben einem Ausbau des Angebots spezialisierter Einrichtungen auch für eine Aufwertung der schmerzmedizinischen Aus- und Weiterbildung sowie für deutlich mehr Ressourcen für die Betreuung von Schmerzpatienten. Im Interview erläutert OÄ Dr. Gabriele Grögl-Aringer (Past President der ÖSG), wie eine adäquate Schmerztherapie aussehen sollte und welche Maßnahmen notwendig sind, damit auch Österreich eine qualitativ hochwertige Schmerzversorgung anbieten kann.
ARZT & PRAXIS: Welche Patienten bedürfen einer besonderen Schmerzbehandlung und was sind die Konsequenzen, wenn sich diese verzögert oder ganz ausbleibt?
Gabriele Grögl-Aringer: Schmerzen sind per definitionem chronisch, wenn sie länger als drei Monate andauern oder in diesem Zeitraum rezidivierend auftreten. Wartet ein Patient nun drei bis vier Monate auf seinen Termin in der Schmerzambulanz, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass seine Schmerzen bis dahin chronifiziert sind. Man unterscheidet zwischen primären und sekundären chronischen Schmerzen. Der primäre chronische Schmerz tritt in einer oder mehreren Körperregionen auf, geht mit signifikanten funktionellen Einschränkungen, psychischemotionalen Störungen und sozialem Rückzug einher und ist nicht auf eine körperliche Ursache zurückzuführen. Der sekundäre chronische Schmerz entwickelt sich auf Basis einer primär vorhandenen Erkrankung oder Gewebeschädigung und kann ebenfalls in eine Schmerzerkrankung übergehen. Diese muss multimodal und interdisziplinär behandelt werden, da die psychosoziale Komponente noch mehr in den Vordergrund rückt und entsprechend in das Therapiekonzept miteinbezogen werden muss. Die betroffenen Patienten sind am besten in einem Schmerzzentrum aufgehoben, wo sie tagesklinisch oder stationär betreut werden. Dieser Zugang ist aufgrund seiner nachweislichen Wirksamkeit international vielerorts schon Standard, in Österreich gibt es leider nach wie vor nur ein solches Zentrum in dieser komplexen Form, nämlich am Klinikum Klagenfurt.
Welche Komponenten beinhaltet die multimodale Schmerztherapie?
In der multimodalen Schmerztherapie werden medikamentöse, nicht-medikamentöse, edukative und psychologischpsychotherapeutische Therapieverfahren miteinander kombiniert. Im niedergelassenen Bereich können vor allem akute Schmerzen gut behandelt werden. Problematisch wird es aber bereits, wenn dafür zusätzlich die Expertise aus anderen Fachbereichen oder weitere Untersuchungen erforderlich sind. Aufgrund fehlender Netzwerke sind die Wartezeiten auf entsprechende Termine oftmals viel zu lang, woraus wieder die Gefahr einer Schmerzchronifizierung resultiert. In den Schmerzambulanzen sollten ein schmerzmedizinisch ausgebildeter Arzt, ein Physiotherapeut oder Facharzt für physikalische Therapie und Rehabilitation sowie ein Psychologe oder Psychotherapeut zusammenarbeiten, um multimodal und interdisziplinär therapieren zu können und damit alle drei Komponenten des
bio-psycho-sozialen Modells der Schmerzbehandlung für chronische Schmerzpatienten abdecken zu können. Fehlende personelle Ressourcen machen vielerorts ein derartiges Therapieangebot leider unmöglich. Extramural wären schmerzmedizinische Gruppenpraxen die dem Qualitätsstandard einer Schmerzambulanz entsprechen, eine angemessene Alternative. Davon sind wir derzeit aber weit entfernt.
Sie sagen, die Schmerzversorgung auf nationaler Ebene ist unbefriedigend und
hält dem internationalen Vergleich nicht stand. Gibt es innerhalb Österreichs Qualitätsunterschiede?
Im Moment gibt es in Österreich 48 Schmerzambulanzen. In der Steiermark stehen den Menschen 1,1 Schmerzambulanzen pro 100.000 Einwohner zur Verfügung. In Vorarlberg sind es null – dies ist das einzige Bundesland, in dem es noch immer keine Schmerzambulanz gibt. Im österreichischen Durchschnitt kommen wir auf 0,6 Schmerzambulanzen pro 100.000 Österreicher. Die Kapazitäten der einzelnen Schmerzambulanzen richten sich nach deren personellen Ressourcen und den Öffnungszeiten – manche haben nur einmal pro Woche geöffnet. Die Wartezeiten sind dadurch österreichweit angestiegen. In Wien stehen wir im Moment bei drei bis vier Monaten – das ist ein katastrophaler Zustand! In den anderen Bundesländern wird es nicht viel anders aussehen. In Vorarlberg beispielsweise müssen Schmerzpatienten nach Tirol oder Süddeutschland ausweichen; im Jahr 2016 kam es dadurch zu rund 600 zusätzlichen Konsultationen in diesen Regionen.
Wie gut sind die niedergelassenen Kollegen in der Schmerzmedizin ausgebildet?
Wir haben in Österreich keine universitäre Schmerzausbildung. Wie gut ein Facharzt oder Allgemeinmediziner in puncto Schmerzbehandlung ausgebildet ist, hängt daher von dessen Interesse und Initiative zur Fortbildung ab. Es gibt Kollegen im niedergelassenen Bereich, die hervorragend schmerztherapeutisch arbeiten. Es ist unser Ziel, dass zukünftig alle Mediziner bereits im Rahmen ihres Studiums eine schmerzmedizinische Basisausbildung erhalten. Schmerzmedizin muss als Unterrichtsfach und Prüfungsfach in das Medizinstudium integriert werden, wie das beispielsweise in Deutschland bereits der Fall ist. Eigentlich sollte es ja im Interesse und Bestreben der Rektoren der Medizinischen Universitäten sein, die Qualität der Ausbildung möglichst hoch zu halten. Da hier jedoch keine entsprechenden Initiativen gesetzt werden, müssen wir aktiv das Gespräch suchen. Im Moment ist es so, dass wir nur postgraduelle Fortbildungsmöglichkeiten auf freiwilliger Basis haben, die Geld und Zeit kosten.
Welche postgraduellen Optionen sind das genau?
Das Österreichische Schmerzdiplom I liefert eine komplexe schmerzmedizinische Grundausbildung. Unter anderem werden die verschiedenen Schmerzformen unterrichtet, die unterschieden werden müssen, um die richtigen Medikamente verabreichen zu können. Ebenso wird auf medikamentöse Nebenwirkungen eingegangen, um für jeden Patienten das geeignete Medikament auswählen zu können. Aber nicht nur der medikamentöse Bereich wird abgedeckt, sondern auch die nicht-medikamentösen Therapieoptionen, einschließlich psychologisch-psychotherapeutischer Verfahren sowie adjuvanter Therapiemethoden, wie zum Beispiel Akupunktur und Neuraltherapie, die meiner Meinung nach einen wichtigen Stellenwert in der Schmerzmedizin haben. Das Schmerzdiplom II, das wir bereits vor längerer Zeit beantragt haben, das aber leider noch nicht bewilligt wurde, wäre eine weiterführende Ausbildung nach dem Schmerzdiplom I und hat vor allem die Behandlung chronischer Schmerzpatienten zum Inhalt. Eine weitere Option ist der berufsbegleitende Universitätslehrgang „Schmerzmedizin“ der Medizinischen Universität Wien, der vier Semester dauert und mit einem Master of Science abschließt.
Was wurde aus dem Antrag zur Spezialisierungin Schmerzmedizin?
Die Spezialisierung, die wir beantragt haben, stellt eine hochwertige schmerzmedizinische Zusatzqualifikation für Allgemeinmediziner und Fachärzte dar. Der 2017 gestellte Antrag auf Spezialisierung in Schmerzmedizin wurde umgehend durch die Ärztekammer abgelehnt mit der Begründung, „keine weiteren Behandlungsstrukturen in diesem Bereich aufbauen zu wollen“. Das ist reiner Zynismus und eine Abwertung der Bedürfnisse der Schmerzpatienten in Österreich. Die Spezialisierungen in Palliativmedizin und Schlafmedizin wurden hingegen Ende 2018 bewilligt. Das entspricht für mich einer Schlechterstellung von Schmerzpatienten gegenüber Palliativpatienten und Patienten mit schlafmedizinischen Problemen, die nicht akzeptabel ist. Gleichzeitig spiegelt dieses Vorgehen die Ignoranz von Vertretern der Ärztekammer gegenüber dem steigenden Bedarf an schmerzmedizinischen Versorgungseinrichtungen mit Blick auf die weiterhin steigende Lebenserwartung wider.
Würde sich das Investment in die Schmerzversorgung auch ökonomisch auszahlen?
Wir wissen, dass die Summe der direkten und indirekten Kosten für die Versorgung von Schmerzpatienten in Österreich im Milliardenbereich liegt. Berechnungen von Kostenträgern in Deutschland zeigen, dass die effiziente Behandlung akuter und chronischer Schmerzen zu einer signifikanten Reduktion der direkten und indirekten Kosten führt. Somit würden sich Investitionen in eine Optimierung der schmerzmedizinischen Versorgung auf längere Sicht gesehen amortisieren. Um wirklich etwas verändern und allen Schmerzpatienten in Österreich eine hoch qualifizierte Schmerztherapie anbieten zu können, muss der Auftrag zum Aufbau entsprechender Versorgungsstrukturen von der Gesundheitspolitik kommen und gesetzlich geregelt sein. Viele Länder, wie beispielsweise Belgien und Italien, leben uns das bereits vor.