Wenn die Herausforderung zur Überforderung wird

Das Szenario: Der Übergang vom Basisjahr in die Facharztausbildung war erfreulicherweise ohne Wartezeit, aber der Einstieg in den Arbeitsalltag gestaltet sich schwieriger als gedacht. Sie wachen morgens erschöpft auf, schleppen sich in die Klinik und können die Freude der erfahrenen Kolleg*innen an komplexen Fällen nicht teilen. Sie hoffen eher, dass der Arbeitstag bald vorüber ist, dies ist inzwischen ein Dauerzustand. Sonst keine Erklärung für diese Entwicklung? Es könnte sich hierbei um Warnsignale handeln, für ein „Burnout“ – ein durch Überforderung bedingter Risikozustand für psychische und physische Folgekrankheiten. Nachfolgend werden drei wissenschaftliche Arbeiten vorgestellt, die sich mit dem Thema „Burnout“ unter angehenden Fachärzt*innen und Jungneurolog*innen befassen.

Die Neurologie boomt …

… kaum eine andere medizinische Disziplin wächst in diesem Tempo. Immer mehr Jungmediziner*innen entdecken die Neurologie als attraktives Weiterbildungsfach, fasziniert durch die Entwicklung von neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Tatsächlich ist das einst klinisch-diagnostische Fach inzwischen in der Notfall- und Intensivmedizin fest verankert und profitiert wie kaum ein anderes Fach von der raschen Translation neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die klinische Praxis.1 Allerdings steigen Arbeitsbelastung, Zeit- und Kostendruck sowie Patientenzahlen, oftmalig ohne dass von Seiten der Arbeitgeber*innen personelle und strukturelle Anpassungen vorgenommen werden. In der Folge wird die Resilienz jedes*jeder einzelnen durch die zunehmende Komplexität des Faches, die psychische und physische Arbeitsbelastung und das Tempo im neurologischen Alltag täglich neu auf die Probe gestellt.

Burnout – ein überstrapazierter Begriff?

Die Balance zwischen Fordern, Fördern und Leisten kann vor allem zu Beginn der praktischen ärztlichen Tätigkeit aus dem Gleichgewicht geraten. In der Folge kann sich ein Burnout-Syndrom (dt. Ausgebranntsein) entwickeln. Hierbei handelt es sich um einen Komplex von vielfältigen und letztlich unspezifischen Symptomen, die als körperliche, emotionale, kognitive und verhaltensorientierte Reaktion auf einen chronischen psychischen und/oder physischen Stressor zurückzuführen sind.2 Nach der aktuellen Lehrmeinung wird Burnout (Z73.0) nicht als eigenständige Krankheit, sondern als ein „durch Arbeitsstress bedingter Risikozustand für psychische und körperliche Folgekrankheiten“ definiert.3 Die in Klinik und Forschung am häufigsten verwendete Konzeptualisierung des Risikozustandes „Burnout“ beruht auf der Symptomentrias (i) emotionale Erschöpfung durch die Arbeit, (ii) Zynismus bzw. Depersonalisierung/Entfremdung von der Arbeit und (iii) subjektiv empfundene Leistungsminderung bei der Arbeit.

Der Begriff „Burnout“ wurde in den letzten Jahren allerdings überstrapaziert.4 Während Burnout inadäquat für jede Unpässlichkeit und Überforderung am Arbeitsplatz verwendet wird, hilft dem tatsächlich unter Burnout-Beschwerden Leidenden eine Bagatellisierung der Symptome von ärztlicher Seite ebenfalls nicht weiter.

Der Maslach Burnout Inventory

Der von Christina Maslach und Susan Jackson im Jahr 1980 entwickelte Maslach Burnout Inventory (MBI) ist das weitaus am häufigsten eingesetzte Erhebungsinstrument. Der speziell für die Evaluierung von Beschäftigten in sozialen und medizinischen Berufen entwickelte MBI Humans Services Survey (HSS) untersucht die o. g. drei Dimensionen mit jeweils 9, 5 bzw. 8 Fragen mittels Selbstbeurteilung. Ziel des Inventars ist nicht die Diagnose eines Burnout-Syndroms, sondern die Erfassung des subjektiven Ausmaßes der Beschwerden. Die angegebenen Grenzwerte erfüllen nicht den Anspruch einer diagnostischen Gültigkeit. Somit liegt es weiterhin im ärztlichen Ermessen, ein Burnout festzustellen oder die potenziellen Differenzialdiagnosen in Betracht zu ziehen.

Studienlage

Studie der EAN (2020/2021)

Die European Academy of Neurology (EAN) führte eine Online-Erhebung zur detaillierten Charakterisierung von Beschwerden der drei MBI-Dimensionen unter Kolleg*innen in der neurologischen Facharztweiterbildung und Jungneurolog*innen durch.5 Von den 1.439 kontaktierten Ärzt*innen füllten 332 (23,1 %) den Fragebogen aus. Das mediane Alter der Kohorte betrug 30 Jahre, hiervon waren 61,5 % Frauen. Die Teilnehmer*innen waren zum überwiegenden Anteil in Europa tätig (91,7 %), die Länder mit der höchsten Anzahl an Teilnehmer*innen waren Italien, Portugal und Rumänien. Zusätzlich zum MBI-HSS wurde auch der Job Satisfaction Survey (JSS) eingesetzt.

Die Auswertung ergab, dass 73,9 % der Teilnehmer*innen auffällige Werte in zumindest einer der drei Burnout-Dimensionen (emotionale Erschöpfung, Zynismus/Depersonalisierung, subjektive Leistungsminderung) aufwiesen. Die Kriterien für ein ausgeprägtes Burnout entsprechend besonders hoher Indizes in den Dimensionen emotionale Erschöpfung oder Zynismus/Depersonalisierung waren bei 22,6% erfüllt. Ein Vorläuferstadium hierzu lag bei 51,2 % vor. Die multivariate Analyse identifizierte eine höhere Anzahl von monatlichen Nachtdiensten, arbeitsbezogene Fatigue und eine geringere Arbeitszufriedenheit als unabhängige Risikofaktoren für auffällige Werte in den untersuchten Domänen. Dagegen waren eine abgeschlossene Facharztausbildung, die Tätigkeit in einem akademischen Setting und eine höhere Arbeitszufriedenheit mit einem engagierten Profil assoziiert. Zudem gaben 44 % der Teilnehmer*innen eine Zunahme der Arbeitsbelastung aufgrund der COVID-19-Pandemie an.

Studie der AAN (2016)

Die American Academy of Neurology (AAN) führte eine Umfrage zu möglichen Auslenkungen in den drei MBI-Domänen unter ihren Nachwuchsmitgliedern durch, hierzu wurden 938 Ärzt*innen in Ausbildung ausgewählt und postalisch und per E-Mail kontaktiert.6 Der Fragebogen wurde von 354 Personen (37,7 %) ausgefüllt, die Kohorte bestand zu 2/3 aus Kolleg*innen in der Facharztausbildung und zu 1/3 in der Spezialisierung (Fellowship). Das mediane Alter betrug 32 Jahre, und 51,1 % waren Frauen. Ebenfalls wurde der JSS eingesetzt.

Die Ergebnisse: Insgesamt lagen bei 67,2% erhöhte Werte in den Domänen emotionale Erschöpfung oder Depersonalisierung vor. Unter Assistenzärzt*innen war die Rate von Personen mit erhöhten Werten in zumindest einem dieser beiden MBI-Domänen signifikant höher als unter ärztlichen Kolleg*innen im neurologischen Fellowship (73,5 % vs. 55,0 %). Die höhere Rate bei Assistenzärzt*innen war vor allem durch die Domäne Depersonalisierung bedingt. Zu den Faktoren, die mit einem niedrigeren Risiko für eine Auslenkung in den MBI-Domänen assoziiert waren, zählten eine größere Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance, das Vorliegen einer sinnstiftenden Tätigkeit und Personal zur Unterstützung der ärztlichen Tätigkeit. Zu beachten sind die Resultate einer parallel und mit derselben Methodik durchgeführten Erhebung unter 1.671 US-amerikanischen Neurolog*innen (Altersmedian 51 Jahre, 65,5 % Männer).7 Hierbei hatten 60 % erhöhte Werte in den Domänen emotionale Erschöpfung oder Depersonalisierung.

Philippinische Studie (2020)/erstes Jahr der COVID-19-Pandemie

Unter den 120 kontaktieren Ärzt*innen in neurologischer Facharztausbildung füllten 86 (71,7 %) den schriftlichen Fragebogen aus.8 Das mittlere Alter betrug 30,1 Jahre, und 54,7 % waren Frauen. Zum einen wurde in der Studie der MBI-HSS eingesetzt, zum anderen erfolgte eine Abfrage zu potenziellen Lösungsstrategien zur Senkung des Burnout-Risikos.

Die Ergebnisse: Die Rate der Personen, die das Kriterium „Burnout“ erfüllten (erhöhte Indizes für emotionale Erschöpfung oder Depersonalisation oder niedrige Scores für persönliche Leistungsfähigkeit) betrug 94 %. Als Lösungsstrategien wurden folgende Punkte genannt: Erhöhung der Personalressourcen, Selbstsorge, Reduktion von Dokumentationstätigkeiten, produktives Arbeitsumfeld und adäquate Entlohnung.

Diskussion

In den letzten Jahren häufen sich Berichte über nicht abgeschlossene Facharztausbildungen, lange Ausbildungszeiten aufgrund von Stundenreduktionen oder gar Fächerwechsel. Die Neurologie ist trotz der fachlichen Attraktivität keine Ausnahme. Auch die Absolvierung einer weiteren Fachausbildung ist nicht unüblich, sodass gut ausgebildete Jungfachärzt*innen gar nicht im ursprünglichen Ausbildungsfach klinisch tätig werden. Die möglichen Hintergründe dieser Entwicklungen sollten kritisch analysiert werden, um ein Verständnis für die individuellen Beweggründe zu erlangen. Die Ausbildungsjahre sind eine intensive Zeit, in der die tägliche Präsenz, die Beschäftigung mit dem Fach außerhalb der Arbeitszeit und besonderes Engagement dazugehören. Ärzt*innen in Ausbildung und Jungneurolog*innen sind einer kontinuierlichen Belastung ausgesetzt. Sie sollen nicht nur in der Klinik vollen Einsatz bringen, Verantwortung tragen und Empathie für die Situation der Patient*innen aufbringen, sondern sich auch ein breit gefächertes Wissen aneignen. Das für eine zeitgemäße Patientenversorgung erforderliche Wissen und die praktischen Kompetenzen nehmen exponentiell zu. Komplexe Fälle können inzwischen nicht mehr über die gängigen Lehrbücher und Nachfrage bei erfahrenen Kolleg*innen, sondern müssen über aufwendige Literaturrecherchen im Internet, Diskussion mit internationalen Fachkolleg*innen und Einsendung von Patientenproben an überregionale Zentren gelöst werden. Dies bei gleichzeitig kaum noch zu bewältigenden Patientenfrequenzen, Dokumentationsaufwand und Übernahme von nichtärztlicher Tätigkeit in Ermangelung von Ressourcen. Hierdurch besteht die Gefahr, dass die Herausforderung zur Überforderung wird. Angesichts der in diesen drei Arbeiten aufgezeigten Hinweise für Beschwerden im Bereich der drei Burnout-Domänen unter Ärzt*innen in Ausbildung sollten nicht nur potenziell Betroffene, sondern auch Ausbildner*innen und Arbeitgeber*innen für dieses Thema sensibilisiert sein. Die Umfragen zeigten ein breites Spektrum an Symptomen und auch eine Zunahme der Arbeitsbelastung im Zuge der COVID-19-Pandemie. Die Präventionsmaßnahmen sind daher individuell anzusetzen und müssen sich an den jeweiligen Symptomen und den lokalen Gegebenheiten orientieren. Grundsätzlich müssen belastende Arbeitsbedingungen identifiziert und Optimierungsmaßnahmen umgesetzt werden – sowohl auf personeller als auch auf struktureller und organisatorischer Ebene. Zum anderen kann die Stärkung der Ressourcen des Einzelnen, mit dem Ziel von effizienteren Bewältigungsmöglichkeiten, förderlich sein. Auch hier gibt es ein weites Spektrum an Konzepten.