Univ.-Prof. Dr. Ernst Agneter, MBA, Agneter Pharma Consulting GmbH: „Grundsätzlich haben wir in Österreich im internationalen Vergleich eine sehr gute Situation, allerdings steht der Begriff ,Balanceakt‘ für mich in diesem Zusammenhang synonym für ,Kompromiss‘. Wenn es um Patienten geht, kommt man aber mit Kompromissen nicht weit. Im rascheren Einsatz und in der schnelleren Akzeptanz neuer Behandlungsmöglichkeiten läge ein wesentliches Verbesserungspotenzial.“
Dr. med. Barbara Möller, MPH, Krammer, Wrbka & Partner GmbH: „Durch die Vielzahl an immer komplexer, individualisierter, aber auch kostspieliger werdenden Innovationen insbesondere am Arzneimittel-, Medizinprodukte- und Dienstleistungssektor müssen sich zentrale Fragen mit der Nutzenbewertung von Technologien befassen, die sowohl medizinische als auch ökonomische und ethische Kategorien umfassen sollten. Eine Harmonisierung des intra- und extramuralen Versorgungsbereiches wäre eine Grundvoraussetzung dafür. Verbesserungspotenzial sehe ich auf der einen Seite beim Zugang zu niederschwelligen und multiprofessionellen Strukturen, die eine qualitätskontrollierte, bedarfsgerechte und menschliche medizinische Versorgung sicherstellen, und auf der anderen Seite bei einer effizienten und zweckmäßigen Planung, Steuerung und Finanzierung von Leistungsangeboten in gemeinsamer Verantwortung mit allen Stakeholdern des Gesundheitssystems.“
Dr. Maria-Luise Plank, Gillhofer Plank Rechtsanwälte: „Bisher konnten chronische Krankheiten nur durch lebenslange Therapien verlangsamt oder gelindert werden, dabei summieren sich die Therapiekosten über einen langen Zeitraum. Innovative Gentherapien dagegen verhindern im Optimalfall einen lebenslangen Leidensweg – der hohe Preis stellt daher neben der Abdeckung der Forschungskosten auch eine Investition in die (gesunde) Zukunft des einzelnen Menschen dar. Ich bewerte es als sehr positives Signal, dass die österreichische Gesundheitspolitik beide ,Enden‘ des Spektrums adressiert, also im Sinne einer Unabhängigkeit Europas Anreize für eine Produktion der Arzneimittel in Europa setzen möchte und sich gleichzeitig der Herausforderung der Finanzierung der Innovationen stellt.“
Agneter: „Die neue Zusammensetzung der HEK* hat deutliche Verbesserungen im Entscheidungsfindungsprozess gebracht, allerdings wird diese Kommission erst am Ende des Entscheidungs- und Diskussionsprozesses befasst. Aus meiner Sicht sollten die Antragsteller die Möglichkeit zur Präsentation ihrer Produkte vor der HEK haben. Im Dialog aller Mitglieder würde vieles einfacher und schneller gehen und zudem auch das Verständnis für den jeweils anderen gefördert werden.“
Möller: „Der Stellenwert von Patientenanliegen wird von allen dafür Verantwortlichen als zentral erachtet, doch erst seit Beginn des Jahres 2020 gibt es eine offizielle Patientenvertretung in der HEK*, die sich direkt mit der Erstattung von Arzneispezialitäten auseinandersetzt. Dies ist begrüßenswert. Im Vergleich zu anderen Ländern, in denen Entscheidungen partizipativ gefällt werden, hat Österreich, wenn es um Patientenrechte und -interessen geht, meiner Meinung nach jedoch noch Aufholbedarf.“
Plank: „Unterschiedliche Therapien gehen oft mit einer sehr unterschiedlichen Lebensqualität für Patienten einher – dieser Umstand ist nach der österreichischen Judikatur des VwGH von der Sozialversicherung zu berücksichtigen. Leider wird die Lebensqualität der Patienten in Studienprogrammen nur selten berücksichtigt und spielt später auch in der klinischen Praxis nur eine geringe Rolle; mangels konkreter Forschungsergebnisse erfahren in weiterer Folge die Patienteninteressen im Erstattungsprozess durch die soziale Krankenversicherung kaum Beachtung und bleiben als ,nicht belegte‘ Faktoren unberücksichtigt. Ein erster wesentlicher Schritt, um Patienteninteressen sichtbar zu machen, wurde mit der Aufnahme eines Vertreters der Patientenanwaltschaft in das Expertengremium der HEK* gesetzt.“
Agneter: „Dem Patienten hilft die Medizin und nicht die Ökonomie. Der Patient sucht sich seine Erkrankung nicht aus. Es kann nicht mit unseren Werten vereinbar sein, jene zu bevorzugen, die an ‚billigen‘ Krankheiten leiden.“
Möller: „Ja, insbesondere eine gesamtwirtschaftliche/volkswirtschaftliche Betrachtung von Kosten und Nutzen (direkter, indirekter, tangibler und intangibler) sowie ethischer Aspekte sollte fixer Bestandteil bei der Evaluation medizinischer Leistungen sein. Nur so kann auch transparent dargestellt werden, was Krankheit, Behandlungsalternativen und verbesserte Lebensqualität kosten und welcher Nutzen für den einzelnen Patienten und für eine ganze Gesellschaft dem gegenübersteht. Sehr positiv ist, dass rezent im Auftrag der Bundes-Zielsteuerungskommission zielorientierte und umsetzbare Handlungsempfehlungen entwickelt wurden, um HTA** im österreichischen Gesundheitswesen systematisch zu etablieren.“
Plank: „Das Ökonomiegebot ist in der Kostenerstattung in Österreich neben der medizinischen Eignung und der Qualität der Therapie als wesentliches Prinzip im Gesetz verankert; gleichrangig dazu ist aber auch die Berücksichtigung der individuellen Eigenschaften des Patienten festgelegt, sodass nach österreichischem Leistungsrecht jeder Patient die für ihn optimale Therapie erhalten kann und soll. Diese gesetzliche Vorgabe wurde administrativ im Bereich Arzneimittel sehr gut umgesetzt, indem durch den Erstattungskodex für den Regelfall vorgesorgt wurde, aber dennoch über die chef- und kontrollärztliche Bewilligung eine einzelfallbezogene Beurteilung bei Bedarf möglich bleibt. Der Ruf nach moderneren Kostenkontrollmaßnahmen ist berechtigt und verständlich, jedoch sollte keinesfalls die ,Individualität‘, nämlich die Pflicht, auf den einzelnen Patienten Rücksicht zu nehmen, verloren gehen – dies wäre als Rückschritt zu werten.“