In den Augen von Mag. Stefan Baumgartner, General Manager von IQVIA Austria, sind datenbasierte Einblicke wichtiger denn je, da „durch pandemiebedingte Veränderungen das Verhalten von Ärzt:innen und Patient:innen je Indikation nicht immer gut einschätzbar ist. Dies führt zu einem höheren Bedarf der Pharmaunternehmen an detaillierteren Einblicken und schnelleren Ergebnissen.“ Zudem sieht er zwei weitere wesentliche Themen, die die Healthcare-Marktforschung aktuell beeinflussen:
„Aufgrund des generellen Bedürfnisses nach mehr Einblick in das Therapieverhalten von Ärzt:innen, Fachgruppen- und Indikationssplit-Information sowie Apothekenversandhandel haben wir bei IQVIA stark investiert. Wir haben unser Primärmarktforschungsteam weiter aufgestockt, um den zahlreichen Anfragen und spannenden, aber auch komplexen Anforderungen der pharmazeutischen Industrie gerecht zu werden. Außerdem haben wir eine Möglichkeit gefunden, den Fachgruppensplit in unserer laufenden Datenerfassung bereitzustellen, und arbeiten an verschiedenen Ansätzen, um mehr Einblicke in den Bereich Apothekenversandhandel/E-Commerce zur Verfügung stellen zu können. Unter anderem stellen wir unseren Partnerapotheken die Online-Preise zur Verfügung“, erläutert Baumgartner.
Baumgartner ist zudem der Meinung, dass Healthcare-Marktforschung vor einigen Jahren vor allem als Controlling-Instrument für die Marketingaktivitäten (z.B. Message Recall, Share of Voice etc.) im Produktzyklus eingesetzt wurde. „Heutzutage will das Marketing die Bedürfnisse und Erwartungen der Zielgruppen (sprich, Health Care Professionals wie Ärzt:innen und Apotheker:innen) zu einem früheren Zeitpunkt verstehen, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Daher kommt auch Marktforschung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zum Einsatz, nämlich dann, wenn Strategien und Konzepte entwickelt werden“, erklärt er.
Dr. Gudrun Auinger, Senior Research Director bei Spectra Marktforschung, bestätigt die Erfahrung, dass Marktforschung heute im gesamten Produktlebenszyklus eingesetzt wird: „Wir empfehlen allen Kund:innen, Marktforschung bereits für das Kennenlernen der Zielgruppe einzusetzen: Was bewegt diese? Wo informieren sich meine potenziellen Kund:innen? etc. Denn wenn man die Zielgruppe besser kennt, kann man Marketingaktivitäten kosteneffizienter einsetzen.“
Mag. Eva Brosch, MBA, Managing Director bei medupha, ergänzt: „Auch die Frage, wo sich neue Touchpoints entwickelt haben, ist von großem Interesse. Es geht zudem für die Pharmaunternehmen auch darum, wie die Betreuung der Ärzt:innen durch den Außendienst in Zukunft organisiert werden soll. Hier müssen sich die Unternehmen teilweise neu aufstellen und auf die geänderten (und sich immer noch weiter verändernden) Bedingungen und die Wünsche der Ärzt:innen reagieren.“
Der Trend, Marktforschung bereits frühzeitiger im Produktzyklus einzusetzen, um Konzepte und Strategien darauf abzustimmen, mache Marktforschung auch für die Zielgruppen vielfältiger und interessanter, meint Baumgartner. Denn es würden nicht mehr nur vergangenheitsbasierte Informationen abgefragt, sondern es werde auch erhoben, wo die Erwartungen der Befragten liegen und was diese für Veränderungen in den nächsten 6–12 Monaten prognostizieren. „Healthcare Professionals schätzen es, wenn sie nach ihren Erwartungen und Zukunftsprognosen gefragt werden – dies erhöht auch ihre Bereitschaft, an Marktforschung teilzunehmen“, sagt Baumgartner.
Auch Brosch ist davon überzeugt, dass „die Zeiten, in denen man Marktforschung über die Köpfe der Kund:innen hinweg ausrollen konnte, vorbei sind. Man kann von den Teilnehmenden nicht einfach nur Wissen abziehen, das kommt nicht gut an. Marktforschungsprojekte müssen so gestaltet sein, dass sie auch für die Teilnehmenden einen gewissen Mehrwert bieten. Die Teilnehmer:innen müssen neugierig darauf sein, z.B. weil sie spannende Dinge diskutieren dürfen oder weil sie sich einen gewissen Nutzen davon versprechen, weil sie neue Produkte kennenlernen oder einen Wissensvorsprung erhalten. Der Tausch Wissen gegen Geld funktioniert nicht mehr.“
Immer detailliertere Information über die Zielgruppen ist aber auch deswegen erforderlich geworden, weil die Zielgruppen im Pharmamarketing immer spezifischer geworden sind. Dr. Roman Fleischhackl, Medical Director bei Takeda Pharma Österreich, erläutert die Gründe dafür: „Es gibt einige Megatrends in der Industrie, und dazu zählt unter anderem die Entwicklung immer stärker spezialisierter Medikamente. Das Credo der forschenden und innovativen Firmen ist es, sehr konkrete Lücken in der medizinischen Versorgung – für uns speziell bei den seltenen Erkrankungen – zu schließen. Damit werden die Zielgruppen kleiner, spezifischer und sie haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse.“
Um genaue Einblicke zu erhalten, sind Fokusgruppen und Workshops stärker in den Mittelpunkt der pharmazeutischen Industrie gerückt. „Online ist noch immer Trumpf, dort werden mittlerweile ganze Workshops virtuell abgewickelt. Die Methoden sind hier vielleicht gar nicht so neu, die befragten Gruppen aber sehr wohl. Wurden früher Erhebungen meistens auf Verschreiber:innen konzentriert, so zählen heute Informationen von Patient:innen direkt, aber auch von Versicherungs- und Krankenanstaltenträgern sowie anderen Stakeholdern des Gesundheitswesens. Weil hier auch alle Augen auf das Thema ,Compliance‘ gerichtet sind, laufen derartige Projekte innerhalb sehr eng gesteckter und transparenter Grenzen ab“, so Fleischhackl.
Dass die Zielgruppe der Patient:innen vermehrt in den Fokus der Pharmaunternehmen und damit der Healthcare-Marktforschung gerückt ist, bestätigen auch Auinger und Brosch. „Pharmaunternehmen wollen heute auch Rückmeldungen von den Patient:innen haben, um sich an deren Wünschen orientieren und entsprechende Services entwickeln zu können. Und um zu wissen, was die Patient:innen wirklich wollen und brauchen, werden häufiger Patientenbefragungen durchgeführt“, so Auinger. In diesem Sinne beinhaltet die Customer & User Experience heute sowohl die Erfahrungen der Ärzt:innen als auch die der Patient:innen. „Daher untersuchen wir nun auch verstärkt, welche Erfahrungen die Patient:innen mit einem Produkt, einer Marke oder einem Unternehmen machen“, berichtet Auinger.
Warum solche Patient-Journey-Analysen stark an Bedeutung gewonnen haben, erklärt Brosch: „Es wird für die Unternehmen immer wichtiger, die Patient:innen und auch ihre Angehörigen zu verstehen, da diese ausschlaggebende Personen im Gesundheitssystem sind. Betroffene geben ihre Anwendungserfahrungen auch an die behandelnden Ärzt:innen weiter – und beeinflussen dadurch deren Einstellungen. Es wurde also durchaus Zeit, sich näher mit der Zielgruppe der Betroffenen zu beschäftigen.“
Brosch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die jeweiligen Patientengruppen oftmals sehr schwer greifbare Zielgruppen für Marktforschung wären: „Bei Indikationen mit niedriger Prävalenz bekommt man über Bevölkerungsumfragen nicht die richtige Stichprobe. Um diese Nische zu füllen, hat medupha die Tochterfirma ,Patientenstimme‘ gegründet, ein deutschsprachiges Onlinepanel, das sich ausschließlich auf Gesundheitsthemen fokussiert.“ Selbstverständlich würden Patientenorganisationen wertvolle Informationen liefern und wären wesentliche Anlaufstellen, aber „die Betroffenen, die Teil einer Selbsthilfeorganisation sind, haben einen massiven Informationsvorteil. Daher brauchen wir unbedingt auch Rückmeldungen von Patient:innen, die nicht in das Informationsnetzwerk einer Patientenorganisation eingebunden sind, sonst entstehen verzerrte Ergebnisse“, so Brosch.
Auch wenn sich Marktforschung über den Controlling-Bereich hinaus entwickelt hat, kommt Controlling nach wie vor nicht ganz ohne MAFO aus. Wichtig bleibt laut Baumgartner im Sinne des Controllings die Bedarfserhebung zum Zeitpunkt 0 plus Kontrolle nach 6–12 Monaten, die überprüft, ob Maßnahmen auch tatsächlich beim Entscheider angekommen sind und verstanden wurden. Typische Fragen sind hier: Welche Message über das Produkt ist beim Arzt bzw. bei der Ärztin angekommen? Wurde verstanden, was der USP des Produktes gegenüber dem Konkurrenzprodukt ist und für welche Patient:innen in welchem Stadium das Produkt besonders geeignet ist?
Personas: „Es war schon immer das Ziel und die Herausforderung des Pharmamarketings zugleich, die Bedürfnisse der diversen Zielgruppen zu verstehen und bestmöglich personalisiert zu adressieren. Die klassischen, traditionellen Marktforschungsdaten waren hier oft eindimensional und schwer greifbar. Der Mensch in seinem spezifischen Umfeld, mit den täglichen Herausforderungen und seinen Emotionen wurde nicht in der Tiefe beleuchtet. Hier bieten die Personas einen echten Mehrwert: Eine Persona ist der idealtypische Vertreter einer Zielgruppe und damit ein Herzstück, noch granularer deren Bedürfnisse, Fähigkeiten, Emotionen und Ziele zu verstehen. So ergibt sich auch eine klare Anforderung an die Marktforschung, denn nur eine breite Basis aus qualitativen und quantitativen Daten garantiert fundierte und verlässliche Ergebnisse für die Entwicklung unterschiedlicher Personas“, erklärt Dominik Gabauer, Business Unit Head Gastroenterology, Takeda Pharma Österreich.
In CRM-Systeme* integrierbare Marktforschungen: „Nicht nur die entwickelten Therapien gehen Richtung Individualisierung/Spezialisierung. Auch die Kommerzialisierung soll die Kund:innen möglichst individuell maßgeschneidert ansprechen und eine möglichst relevante Customer Journey darstellen. Die CRM-Systeme und die Daten, die wir erfassen, werden komplexer, die tatsächliche objektive Erfassung gestaltet sich mitunter schwierig. Wirklich in die CRM-Systeme integrierbare Marktforschungen würden einen enormen Mehrwert stiften“, sagt Katharina Graninger, Business Unit Head Oncology/Haematology, ebenfalls Takeda Pharma Österreich.
Patient:innen und ihre Bedürfnisse: DI Doris Steinberger, Commercial Head bei Biogen Österreich, betont, dass die Betroffenen und ihre Bedürfnisse für die Therapieentscheidung bei vielen Krankheitsbildern immer mehr an Bedeutung gewinnen: „Daher rücken die Patient:innen auch verstärkt in den Fokus der Marktforschung. Hier eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Marktforschungsinstitute – einige Anbieter haben diesen Trend schon erkannt.“
* CRM-Systeme sind zentrale Sammelstellen, an denen Unternehmen Informationen über Kund:innen speichern. Diese Daten können gemeinsam genutzt werden.