Bewertungsboard – vielen ein Dorn im Auge

Die Einführung der EU-HTA-Verordnung sieht Dr. Wolfgang Tüchler, Geschäftsführer von Axxess Healthcare Consulting und Market-Access-Experte, relativ gelassen – diese ist schließlich schon lange in Planung. Ein kurzer Rückblick: Im Jahr 2017 hat das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert, ein europäisches HTA-System zu schaffen und zu implementieren. Ziel war und ist eine EU-weit harmonisierte Bewertung der relativen Wirksamkeit und des therapeutischen Mehrwerts von Gesundheitstechnologien. Bis dato wird dies in jedem EU-Mitgliedsstaat mit eigenen Regelungen unterschiedlich gehandhabt. „Mit dieser nun kommenden Harmonisierung sollen die Qualität der Bewertung und die wissenschaftlich fundierte Basis dieser Bewertung verbessert werden. Und es soll damit auch ein gleicher Zugang zu neuen Gesundheitstechnologien in allen EU-Staaten gewährleistet werden. Also durchaus etwas Positives“, so Tüchler.

Implementiert wird die EU-HTA-Verordnung ab Jänner 2025. Ab diesem Zeitpunkt werden die ersten Arzneimittel aus dem onkologischen Bereich sowie Gentherapien und andere neuartige Therapien erstmalig auf EU-Ebene beurteilt. Rückerstattung und Preisbildung werden weiterhin auf nationaler Ebene verhandelt.

EU-HTA: Einheitliche Regelung wird begrüßt

„Durch die EU-HTA-Verordnung müssen Unternehmen die erforderlichen Informationen nur mehr einmalig auf EU-Ebene einbringen, die Nutzenbewertung erfolgt dann nach harmonisierten Regeln“, fasst Tüchler den Vorteil der neuen Regelung zusammen. Dies ist in seinen Augen eine effizientere Vorgehensweise „unter der Voraussetzung, dass der Informationsfluss tatsächlich gut funktioniert und dass es nicht trotzdem weiterhin Doppelgleisigkeiten und parallele Verfahren gibt, was aber nach derzeitigem Stand nicht der Fall sein sollte“. Es werde sich in der Praxis zeigen, wie schnell sich die neue Regelung einspielt und wie strikt diese von den Mitgliedsstaaten eingehalten wird. „Schlecht wäre natürlich, wenn die EU-Staaten trotz dieser Neuregelung auf europäischer Ebene auf nationaler Ebene parallel noch eigene Bewertungen durchführen würden. Das wäre kontraproduktiv“, betont Tüchler. Einen ähnlichen Appell gibt es von Mag. Hanns Kratzer, Geschäftsführer in der PERI Gruppe: „Es dürfen von den Erstattungsbehörden keine Daten mehrmals verlangt werden!“

Mag. pharm. Gerrit Verena Uhl, Market Access Manager & Pharmaeconomist Corporate Affairs bei GlaxoSmithKline Pharma GmbH, findet es ebenfalls prinzipiell begrüßenswert, wenn in Europa Patient:innen einheitlichen und fundierten, auf wissenschaftlichen Daten beruhenden Zugang erhalten. Fraglich ist in ihren Augen jedoch noch die Anwendung dieser Empfehlungen im österreichischen Kontext: „Wie werden diese Entscheidungen in die Evaluationen des Bewertungsboards und der Heilmittelevaluierungskommission einbezogen und welche Teile der Beurteilung werden dann tatsächlich herangezogen?“ Auch die hohe Dynamik in der Evidenz zu innovativen Produkten kann ihrer Meinung nach in diesem Prozess eine Herausforderung sein: „Oftmals werden neue Anwendungen oder die Wirksamkeit in weiteren Subgruppen innerhalb der ersten Jahre nach erstmaliger EMA-Zulassung publiziert bzw. zugelassen – diese sind jedoch im zu diesem Zeitpunkt bereits finalisierten EU-HTA nicht zeitnah abgebildet. Dies kann möglicherweise zu Verzögerungen des Marktzugangs auf lokaler Ebene führen“, warnt Uhl.

Massive Kritik am Bewertungsboard

So wenig die EU-HTA-Bewertung die Market-Access-Expert:innen beunruhigt, so sehr tut dies das Bewertungsboard. Kratzer kann die Gründe, warum es in Österreich eine Einrichtung wie das Bewertungsboard braucht, überhaupt nicht nachvollziehen: „Das Bewertungsboard ist in meinen Augen eine teure Antwort auf ein Problem, das ­Österreich gar nicht hat, denn der Zugang zu innovativen Therapien ist im Spitals­bereich sehr gut.“ Bei ihm ruft bereits der Prozess bezüglich des Bewertungsboards Erstaunen hervor: „Warum wurde dieses geradezu überfallsartig in Form eines parlamentarischen Initiativantrags als Begleitgesetz zum Finanzausgleich und nicht als offizielles Gesetz eingebracht? Warum gab es für diesen so gravierenden Eingriff kein Begutachtungsverfahren, in dessen Rahmen viele der jetzt ungeklärt gebliebenen Fragen mit der notwendigen Expertise behandelt und im Gesetz beantwortet hätten werden können?“ Kratzer kann die Notwendigkeit des Bewertungsboards somit nicht nachvollziehen.

Etwas anders sieht dies Tüchler, der das Ziel des Bewertungsboards durchaus nachvollziehbar findet: „Das entspricht eigentlich einer langjährigen Forderung von ­unterschiedlichen Stakeholdern im Gesundheitswesen, u.a. des Rechnungshofes.“ Die Umsetzung jedoch sieht auch er sehr kritisch: „Es gibt in Österreich zwei Welten: die Welt des intramuralen Bereichs mit den Interessen der Krankenhausträger und die Welt des extramuralen Bereichs, also die Welt der Sozialversicherung. Zudem gibt es natürlich noch die Anbieter, die pharmazeutischen Unternehmen, die die Produkte auf den Markt bringen wollen – und sie alle verfolgen ihre Interessen.“ Tüchler sieht es als große Herausforderung – und Aufgabe – der Politik, bei der Umsetzung des Bewertungsboards diese Interessen zum Wohle der Patient:innen zusammenzubringen, ohne eine Verzögerung für den Marktzugang zu verursachen. „Aus meiner Sicht ist aber genau solch eine Verzögerung das größte Manko des – derzeitigen – Bewertungsboards.“

Ein Kriterium für die Überprüfung eines Arzneimittels durch das Bewertungsboard ist beispielsweise, dass ein Arzneimittel oder eine Gesundheitstechnologie das bereits erwähnte, ab 2025 implementierte Verfahren der europäischen gemeinsamen Nutzenbewertung durchlaufen hat. Tüchler dazu: „Warum wird dann noch einmal auf nationaler Ebene eine medizinische Bewertung durchgeführt? Oder handelt es sich vorwiegend um eine ökonomische Bewertung, worauf die Besetzung des Boards schließen lassen könnte? Und warum dauert der Prozess dann überhaupt mindestens fünf Monate? Gleicher Zugang für alle Patient:innen ist begrüßenswert, kommt es jedoch durch ein neu eingeführtes Bewertungsinstrument zu Verzögerungen der Verfügbarkeit neuer Therapien, sind die Leidtragenden im Endeffekt immer die Patient:innen.“

Auch Kratzer sieht negative Auswirkungen des Bewertungsboards auf die Patient:innen zukommen: „Die Pharmaindustrie wird Produkte in Österreich nicht mehr anbieten, wenn der Prozess mit dem Bewertungsboard nicht funktioniert. Das heißt, die Krankenhausträger und Spitalsbetreiber können dann die Leistungsrechte der Patient:innen nicht mehr erfüllen.“ In diesem Sinne richtet Kratzer einen Appell an die Politik, die Auswirkungen des Bewertungsboards nochmals zu überdenken und bei einer neuen Beurteilung die Patientenrechte mit im Blick zu behalten.

Vieles noch unklar

Auch Uhl steht dem Bewertungsboard skeptisch gegenüber, wobei sie betont, dass die genauen Auswirkungen für den Market Access in Österreich noch nicht klar seien. „Da es sich lediglich um Empfehlungen und nicht um Weisungen handeln soll, müsste im medizinisch begründeten Einzelfall weiterhin eine frühe Behandlung schwer erkrankter Patient:innen möglich sein. Wie das in der Realität sein wird, ist jedoch noch unklar, und es wird in den ersten Monaten, vielleicht sogar Jahren, nach der Implementierung gewiss zu Verzögerungen oder Barrieren durch Unsicherheiten/Unklarheiten/Abwarten in den neuen, dahinterliegenden Prozessen kommen“, befürchtet sie. Auch sei ihrer Meinung nach zu hinterfragen, ob die Auswahl der Entscheidungsträger in diesem Board passend ist, da es sich um eine medizinische und keine ökonomische Bewertung handeln soll und die medizinische Evaluation innovativer Produkte spezialisierten Fachwissens bedürfe.

Stimmen der Pharma-Interessenvertretungen

PHARMAustria: Wie werden sich Ihrer Meinung nach die derzeitigen Entwicklungen wie EU-HTA und Bewertungsboard auf den Market Access in Österreich auswirken?

© Zsolt Marton

Julia Guizani, Präsidentin des FOPI: „Das Bewertungsboard stellt einen großen Unsicherheitsfaktor dar. An sich begrüßen wir die Intention, für einen österreichweit einheitlichen Einsatz von innovativen Arzneimitteln zu sorgen – unabhängig vom Herkunftsbundesland der Patient:innen und vom Ort der Therapie. Das Bewertungsboard ist aber derzeit nicht so ausgestaltet, dass dieses Ziel damit erreicht wird. Aus unserer Sicht gibt es einige Schrauben, an denen noch zu drehen wäre:

  1. Die fachmedizinische Expertise ist in der geplanten Zusammensetzung des Boards unterrepräsentiert.
  2. Die Stimme der Patient:innen in Form von Selbsthilfegruppen findet keine Berücksichtigung, obwohl diese von den Entscheidungen des Gremiums unmittelbar betroffen sind und mit ihren Erfahrungen sehr hilfreich sein könnten. Ohne Stimmrecht am Bewertungsboard teilnehmen darf lediglich die Patientenanwaltschaft.
  3. Wir fragen uns weiters, wonach bewertet wird – nach ökonomischen oder medizinisch-pharmazeutischen Kriterien?
  4. Die lange Verfahrensdauer der Bewertung (5 Monate plus Verlängerungsmöglichkeit) wird voraussichtlich den Zugang zu innovativen Therapien für Patient:innen verzögern. Dadurch käme es zur Beeinträchtigung des Rechts der Patient:innen auf eine Therapie nach jeweils aktuellem Stand der Wissenschaft.
  5. Durch die Verzögerung kann es zu einer Einschränkung des ärztlichen Handlungsspielraums in Bezug auf die Behandlungsoptionen kommen.
  6. Wer haftet, wenn das Medikament einem Patienten oder einer Patientin mit Berufung auf das Bewertungsboard von einer Krankenanstalt verwehrt wird?

Auch bei der EU-HTA-Verordnung sehen wir die Intention dahinter als positiv, würden uns aber einen realistischeren Umsetzungsrahmen mit mehr Vorlaufzeit wünschen – 90 Tage für die Dossiererstellung ist sehr knapp bemessen. Zudem wären uns bei der Umsetzung eine Einbeziehung der Unternehmen sowie ein einheitlicher und nachvollziehbarer Prozess wichtig, damit es zu keiner Überbürokratisierung kommt.“

© Stefan Csaky

Alexander Herzog, Generalsekretär der ­PHARMIG: „EU-weite Bewertungsprozesse wie das EU-HTA sind prinzipiell positiv zu sehen. Ihr Ziel ist es, Doppelgleisigkeiten zu vermeiden und die neuen Medikamente den Patientinnen und Patienten durch effizientere Prozesse schneller zugänglich zu machen, und zwar in der gesamten EU. Dies steht aber auf dem Spiel, wenn dann nachgelagerte nationale Bewertungsverfahren zu einer noch höheren Komplexität führen und Betroffene dadurch länger auf ihre Therapien warten müssen. Umso wichtiger ist es, dass in der Planung und Umsetzung des EU-Prozesses auf nationaler Ebene Politik, Behörden, Krankenanstaltenträger, Patientenorganisationen und die pharmazeutische Industrie gut zusammenwirken.“