DNA-Targeting im Marketing

Die Informationen unserer DNA sind die persönlichsten Daten, die wir kennen. Kaum eine andere Datenkategorie erlaubt ähnlich tiefe Einblicke in die Kundenbedürfnisse. Die individuelle Zuschneidung von Angeboten kann demnach heute auch auf Basis unseres Erbgutes erfolgen, und zwar im Rahmen eines „DNA-Targetings“. Auf der Grundlage einer detaillierten Analyse des Erbgutes – vermarktet als eigenständiges Produkt, mit dem sich etwa ethnische Herkunft oder Krankheitsrisiken bestimmen ­lassen – eröffnen sich zahlreiche Einsatzmöglichkeiten, von der, „streuverlustfreien“ Kommunikation über ein DNA-basiertes Kunden-Clustering bis hin zu personalisierten Ernährungsprodukten und Medikamenten. Im internationalen Kontext spielen diese Anwendungsfälle eine noch ungleich größere Rolle als in Europa, ungeachtet der auch andernorts durchaus erkannten besonderen Datenschutzproblematik. Eine Auseinandersetzung mit der Thematik ist daher auch dringend im akademischen Marketing hierzulande dringend geboten.

Von der Rasterfahndung zur Personalisierung auf Basis von DNA-Daten

Während wir hierzulande noch über die DSGVO, die ePrivacy-Verordnung und den Umgang mit Browser-Cookies diskutieren, erlangt die Datenökonomie andernorts, etwa in den USA oder China, eine völlig neue Qualität: die digitale Verwertung von Informationen und genetischen Spuren aus unserer DNS, der Desoxyribonukleinsäure, die als Träger der Erbinformation die stoffliche Substanz unserer Gene verkörpert – im Englischen und umgangssprachlich gemeinhin als „DNA“ bezeichnet.
Bekannt war die Verwendung von DNA-Informationen bisher vor allem aus der Analyse hinterlassener „DNA-Spuren“. Ein derart gewonnener „genetischer Fingerabdruck“ kann Zusammenhänge zwischen verschiedenen Taten herstellen und gilt als anerkannter Nachweis des Aufenthalts eines Verdächtigen am jeweiligen Tatort. Digitale Transformation und Datenökonomie führen nun jedoch zu einer Ausweitung der Wirkungsmacht dieses Instrumentariums. Einschlägige Websites wie 23andMe, MyHeritage und Ancestry, die auf Grundlage einer selbst eingereichten DNA-Probe die „genetische Herkunft“ oder auch das Bestehen von Verwandtschaften mit anderen, unbekannten Nutzern ermitteln, erfreuen sich insbesondere in den USA einer stetig wachsenden Anwenderzahl.
Zudem führt die systematische Erhebung von DNA-Daten unweigerlich auch zu ihrer ökonomischen Nutzbarmachung. Es existieren bereits erste Anwendungen, die, gefüttert mit den Informationen aus dem persönlichen DNA-Test, „passende“ und „unpassende“ Lebensmittel identifizieren und so ein „erbgutgerechtes“ Kaufverhalten ermöglichen sollen. Die Smartphone-App „DNA-Nudge“ etwa verspricht ihren Kunden, allein durch einen Scan des Barcodes eines Lebensmittelprodukts im Supermarkt, am „Point of Sale“, umgehend eine valide Auskunft darüber zu geben, ob dieses zum jeweiligen DNA-Profil passt. Ist die DNA im Do-it-yourself-Verfahren per Abstrich zu Hause einmal erfasst, soll die App damit zum ständigen Shoppingbegleiter werden und in Ampelform – grün oder rot – Auskunft darüber erteilen, welche Angebote am ehesten dem individuellen Ernährungsprofil entsprechen.
Weltweit führend auf dem Gebiet des DNA-Targetings dürfte derzeit die chinesische Firma iCarbonX sein. Diese versteht sich als ganzheitlicher Anbieter digitaler Gesundheitsprodukte. Basis ist die Plattform „Meum“, auf der sämtliche gesundheitsbezogene Kundendaten eingesammelt werden, unter anderem eben auch Informationen zur eigenen DNA. Mithilfe von KI, z.B. zur Ableitung von Proteinstrukturen, lassen sich da­raus individuelle Angebote ableiten. Daraus können beispielsweise personalisierte Anwendungen und Therapien, wie z.B. ein entsprechendes Sportprogramm bei ermittelter Diabetesveranlagung, entwickelt werden. Nestlé betreibt in Japan einen ähnlichen Service, bei dem die teilnehmenden Kunden Ernährungstipps auf Grundlage ihrer Blut- und DNA-Testergebnisse erhalten. Ebenso lassen sich daraus individuelle Nahrungsmittel erstellen, die dann im „personalisierten“ Abonnement vermarktet werden.
Und auch in Deutschland bemüht sich My-Muesli darum, seinen erfolgreichen „Customizing“-Ansatz auf Grundlage eines „DNA-Tests“ noch persönlicher zu gestalten. Was ursprünglich als Aprilscherz begann, wurde binnen weniger Monate Realität. Nun können sich Kunden auf Basis einer DNA-Analyse maßgeschneiderte Empfehlungen zu Müslimischungen erstellen lassen.
Doch zielen aktuelle Bestrebungen in der Verwendung von DNA weit über derartige Ansätze hinaus. Eine „Sociogenomics“ genannte Forschungsrichtung hat sich zum Ziel gesetzt, Soziologie und Genforschung zu verbinden. So werden vor diesem Hintergrund etwa die Zusammenhänge von Genetik und sozialer Mobilität untersucht. Angeblich lässt sich auch aus der Analyse der DNA und der Berechnung eines „Polygenic Scores“, wie dies auch zur Ermittlung von Veranlagungen zu Krankheiten erfolgt, eine – wenngleich schwache – Korrelation spezifischer DNA-Informationen mit dem Einkommen belegen. Mit einem solchen „Income Score“ wäre es möglich, gezielt soziale Fördermaßnahmen einzuleiten – oder aber auch denkbar, die Langzeitkaufkraft eines Kunden zu ermitteln, sofern, wie hier geschehen, tatsächlich eine kausale Korrelation mit genetischen Mustern vorliegt.

DNA – das „neue Daten-Gold“?

Die Nutzbarmachung von DNA-Daten ermöglicht im Marketing zunächst vor allem eine zielgerichtete Angebotsgestaltung: So könnten, ausgehend von genetischen Risiken, die sich aus dem Datenmaterial ableiten lassen, effizient Kundensegmente gebildet werden, um passgenau Produkte, beispielsweise gegen erblich bedingten Haarausfall, zu bewerben. In der operativen Kommunikation ließe sich dazu die bereits bestehende Infrastruktur für die Vermarktung der User-Daten im Internetmarketing nutzen: Sogenannte DMPs („Data-Management-Plattformen“) dienen im digitalen Ökosystem bereits bisher dem Austausch von zielgerichteten Nutzerinformationen zwischen Nachfragern – den Werbetreibenden – und den Anbietern von Kommunikation und Kontaktanbahnung – den Websitebetreibern bzw. „Publishern“. Auch heute schon werden Interessens- und Verhaltensdaten für die Entscheidungsfindung, ob sich ein Nutzer für eine Werbeausspielung eignet (und wenn ja, zu welchem Preis), herangezogen und durch verfügbare weitere Profilinformationen angereichert.
Die Verknüpfung mit den jeweiligen DNA-Informationen würde die „ultimative“ Personalisierung in der Marketingkommunikation bedeuten. Tatsächlich dienen die DNA-Tests der einschlägigen Anbieter nicht nur der individuellen Nutzerprofilierung, sondern erlauben es den jeweiligen Unternehmen auch, wertvolle Erkenntnisse grundsätzlicher Art zu gewinnen: Die Firma 23andMe, an der unter anderem Google als Wagniskapitalgeber beteiligt ist, verwendet die von den Nutzern freiwillig überlassenen Daten, um sie für die pharmazeutische und medizinische Forschung auszuwerten. Daraus ergeben sich werthaltige Ansatzpunkte für die Produktpolitik, etwa für neue vermarktbare Medikamente und Therapien, oder aber auch im Rahmen von Risikoabschätzungen für Versicherungen, die auf diese Weise Erkrankungswahrscheinlichkeiten und Lebenserwartungen besser kalkulieren können.
Die Daten, die „nebenbei“ bei den individuellen DNA-Tests erhoben werden, stellen für viele dieser Geschäftsmodelle den eigentlichen Wert dar. Die Kunden der Analyse-Websites räumen den – meist unbeschränkten – Zugang dazu nicht nur freiwillig ein, sondern bezahlen sogar noch dafür, was letztlich bedeutet, dass der Forschungsprozess durch diese subventioniert wird. Während die Endkunden mit der entrichteten Servicegebühr zwischen 60 und 100 Euro die Kosten für eine einfache Sequenzierung tragen, werden die so erhaltenen DNA-Daten ein zweites Mal, insbesondere an forschende Unternehmen aus dem Biotech- und Pharmaumfeld, verkauft, die diese Datensätze entweder sammeln und im Rahmen eines „DNA-Minings“ nach Mustern und Anomalien fahnden oder eine gezielte Untersuchung spezifischer DNA-Cluster zur Identifizierung möglicher Therapieansätze durchführen. Je nach Gegenstand der Analyse – etwa genetische Vorbelastungen oder Erbkrankheiten eines Teilnehmers – werden dafür bis zu 20.000 US-Dollar pro Datensatz aufgerufen. Vereinzelt haben sich hier inzwischen auch Modelle entwickelt, die den jeweiligen Endkunden – wenn auch in sehr geringem Maße – an den erzielten Umsätzen beteiligen.

DNA-Targeting und Datenschutz

Natürlich stoßen diese Entwicklungen auch auf Skepsis und Widerstand. In den USA wird inzwischen der Ruf nach einem umfangreicheren Schutz von DNA-Daten vor dem Zugriff des Staates und privater Unternehmen zunehmend lauter.
Dabei muss uns immer bewusst sein, dass DNA-Daten eine völlig andere Qualität besitzen als die Daten, mit denen wir es sonst im Internet und im Rahmen der Digitalisierung bislang zu tun hatten: Der freie Zugang zu ihnen und ihre freie Verfügbarkeit bedeutet den ultimativen Verlust der Privatheit. Die Treiber dieser Entwicklungen sitzen allerdings nicht in Europa, sondern in den hinsichtlich Datenschutzbedenken deutlich weniger sensibleren Volkswirtschaften der USA und vor allem Chinas. Ungeachtet der tatsächlichen Aussagekraft individueller DNA-Analysen – denn die Wirksamkeit etwa von DNA-basierten Diäten in der medizinischen Forschung ist durchaus umstritten – wird der Rückgriff auf die Daten unseres Genoms vermutlich auch für das Marketing und den Aufbau neuer Geschäftsmodelle weiter an Relevanz gewinnen. Selbst die Idee genetischer Dating-Apps, die auf Grundlage eines zuvor durchgeführten DNA-Tests „Matchings“ von heterosexuellen Nutzern, die gemeinsam ein höheres Risiko rezessiver Erbkrankheiten aufweisen, ausschließen, wird in diesem Kontext bereits diskutiert.
Das alles deutet darauf hin, dass die rational absolut berechtigten Vorbehalte hinsichtlich des Datenschutzes hierzulande womöglich durch eine rasante konträre globale Entwicklung überholt werden könnten. Während wir also im Marketing aktuell noch den todgeweihten Cookies zur Internetnutzerprofilierung hinterhertrauern, ergeben sich durch die Möglichkeiten des DNA-Targetings komplett neue Handlungsfelder, und das angesichts der freiwilligen und ausdrücklichen Einwilligung der Nutzer zur Datenverwendung vermutlich sogar DSGVO-konform. Ob derartige Optionen wünschenswert sind, ist jedoch eine ganz andere Frage.

Fazit

Es ist heute kaum mehr möglich, sich dem – inzwischen allerdings bereits etwas schal gewordenen – Diktum von den Daten als dem „neuen Gold“ oder dem „Öl des 21. Jahrhunderts“ zu entziehen. Ohne Zweifel sind Daten und deren Nutzbarmachung jedoch der Treiber der digitalen Transformation wie auch der Kern innovativer digitaler Geschäftsmodelle. Entsprechend muss sich das (Marketing-)Management auf die Verwendung von Informationen aus der DNA einstellen, erlauben sie doch wie keine andere Datenkategorie eine umfassende Personalisierung von Angeboten und der Angebotskommunikation.
Wir leben in einer „tribalisierten“, zunehmend fragmentierten Gesellschaft, die eine Individualisierung in der Kundenansprache immer wichtiger erscheinen lässt. Um diesen sich ändernden Bedingungen gerecht zu werden, bedarf es entsprechender Justierungen auch der Instrumente des Marketings. KI und maschinelles Lernen, aber auch jüngste Fortschritte in der DNA-Forschung selbst, etwa beim Genom-Editing („CRISPR“ bzw. „Cas9“) oder bei der Entwicklung von ­mRNA-Impfstoffen, beflügeln zudem die Entwicklung. Die unternehmerische Nutzbarmachung im Rahmen der Produktpolitik, aber eben auch bei der Angebotsunterbreitung sowie in der Kommunikation ist zumindest im internationalen Kontext bereits Realität. Unabhängig davon, welche betriebswirtschaftlichen oder auch ethischen Konsequenzen man daraus zieht: Auch hierzulande sollten wir uns also – und sei es nur, um den Umgang mit einem extern induzierten Wettbewerbsnachteil zu eruieren – dringend mit den Möglichkeiten und Konsequenzen des DNA-Targetings befassen.


Literatur beim Verfasser