Graham sieht ziemlich eigenartig aus – der Kopf zu groß, das Gesicht zu klein und von massiven Fettwülsten umgeben, die Rippen eigenartig verformt und die Beine irgendwie besser zu einer Antilope passend als zu einem Menschen. Nicht wirklich hübsch, aber wenn es darum geht, einen Verkehrsunfall in der Stadt zu überleben, ist Graham unschlagbar. Sein Bauplan folgt nämlich einer fiktiven Evolution, die auf der Auswertung von Tausenden Datensätzen zu Autounfällen beruht. Ziel der Kampagne, in deren Mittelpunkt die Kunstfigur Graham steht, ist es, das Bewusstsein für die Verwundbarkeit des menschlichen Körpers im Straßenverkehr zu erhöhen. Clemenger BBDO und die australische Transport Accident Commission als Auftraggeber haben damit bei den diesjährigen Health Lions in Cannes den Grand Prix der Outdoor-Jury gewonnen und Graham wurde das offizielle WHO-Testimonial für Sicherheit im Straßenverkehr.
„Creative Data“, also der Einsatz von großen Datenmengen als Basis für Kampagnen oder innovative Services, war generell eines der Hauptthemen bei den Health Lions 2017. Ein aufsehenerregendes Beispiel dafür präsentierte IBM. Durch die Verknüpfung eines Notfall-Inhalers für Asthmapatienten mit lokalen Wetterdaten und der IBM-Software „Watson“ ist es gelungen, ein individuelles Vorhersagemodell für Asthmaanfälle in Bezug auf Wetter, Pollenbelastung und andere Umweltfaktoren zu erstellen. Das Projekt lieferte ganz nebenbei eine gute Gelegenheit, vier Hauptdarsteller der digitalen Revolution bei der Arbeit zu beobachten: Spezialinhaler aus dem 3-D-Drucker übertragen IoT-(Internet of Things-)mäßig Daten an die AI-(Artficial Intelligence-)Anwendung Watson, die sie in Relation zu Big Data eines Wetterdienst-Anbieters setzt. Fehlt nur noch die Verknüpfung mit einem Assistenzsystem und die individuelle Anfall- Warnung für Asthmatiker könnte mit der Synchronstimme von Bruce Willis erfolgen.
Eines der am stärksten gehypten Unternehmen im Bereich AI ist das britische Start-up Babylon. „Roboter werden bald schon in der Lage sein, Krankheiten präziser und schneller zu diagnostizieren als die meisten Ärzte“, ist Babylon-Gründer Ali Parsa überzeugt. Der Mediziner verknüpft mit seiner App ein AI-gestütztes Triage-System mit Videotelefonie, um im Bedarfsfall ärztliche Konsultationen über das Smartphone oder „echte“ Arzttermine zu vermitteln. Ein Ansatz, der immerhin das National Health Service (NHS) bewogen hat, im Rahmen eines Pilotprojekts den Betrieb einer Notfallnummer mit einem von Babylons AI-Anwendung unterstützten Chatbot zu testen. Im nächsten Schritt ist Babylon – ausgestattet mit einer 60-Millionen-Pfund-Finanzierung – derzeit dabei, seine künstliche Intelligenz soweit zu verfeinern, dass über den Chatbot auch tatsächlich eine Diagnose gestellt werden kann, ohne dass der Patient einen Arzt aus Fleisch und Blut gesehen hat. Präsentiert wurde das Start-up in Cannes von AstraZenecas globalem Head of Digital, John McCarthy. Das britische Pharmaunternehmen führt derzeit ein gemeinsames Projekt mit Babylon und dem NHS durch, um zu testen, ob COPD-Patienten von einem AI-gestützten Telehealth-Projekt profitieren können. „Die Art, wie die medizinische Versorgung in Zukunft den Patienten erreicht, entwickelt sich dramatisch weg von unserem Geschäftsmodell“, erklärte McCarthy das Motiv hinter der Partnerschaft mit Babylon, die sich „way beyond the pill“ abspielt.
Für Jean-Marie Dru, Chef von TBWA Worldwide, geht die Integration der neuen Technologien in die Prozesse des Gesundheitswesens nach wie vor viel zu langsam vonstatten: „Healthcare ist dreimal so groß wie der Bankensektor und dennoch wehrt sich die Sparte immer noch gegen den tiefen Transformationsprozess, den sie dringend benötigen würde. Viele Innovationen im Gesundheitsbereich werden zunächst in den Entwicklungsländern zur Marktfähigkeit kommen. Der Süden wird den Norden inspirieren“, so der Kommunikationsexperte. Zwar würden zahlreiche disruptive – also raschen und dramatischen Wandel bringende – Technologien wie Gentherapie, 3-DDruck, Nanotechnologien und Connected Care sukzessive an Relevanz gewinnen, aber insgesamt liefe dies nach wie vor viel zu langsam ab.
MedMedia war für Sie vor Ort.
Hier die persönlichen Highlights in einem kurzen Überblick zusammengefasst.
Michaela Arturo-Heumann, Leitung Digital Development, MedMedia
„Spannend war, dass alle Siegerkampagnen einen nicht unbeträchtlichen Anteil Social Media im Mix hatten. Das zeigt deutlich, dass dieser Kommunikationsweg mittlerweile unerlässlich geworden ist. In unserer Branche ist der Einsatz von Facebook & Co natürlich komplex, aber mit der richtigen Herangehensweise nicht unmöglich.“
Natascha Fial, Projektleitung, MedMedia
„Die verschiedenen Projekte, die in Cannes präsentiert wurden, haben mir gezeigt, dass man bei der Projektkonzeption immer noch einen Schritt weiter gehen kann, als man zu Beginn glaubt. Selbst wenn man das Gefühl hat, alles herausgeholt zu haben, kann es immer noch passieren, dass man plötzlich einen anderen Ansatz sieht, der noch ergiebiger ist als der vorige. Das ist auch das Ziel von MedMedia: Wir wollen nicht nur das Beste aus einem Projekt herausholen, sondern das Allerbeste.“
Dr. Christian Maté, Consultant Digital Mobil, MedMedia
„Die Health Lions sind nicht nur die wichtigste internationale Leistungsschau der Gesundheitskommunikation, sondern auch eine Standortbestimmung der digitalen Innovationen im Health-Care-Bereich.“
Eva Pernek, Geschäftsführung, MEDahead
„Es ist unglaublich beindruckend, wie viele völlig unterschiedliche digitale Projekte bereits erfolgreich im Einsatz sind. Vor allem im Bereich ,Children’s Healthcare‘ haben mich zwei Konzepte besonders begeistert: LUMEN, eine App der Stanford Universität, die Kinder entspannt und beruhigt, die sich schwierigen Operationen unterziehen müssen. Die Bewegung der Pupillen bringt einen virtuellen Wald zum Wachsen und zum Leuchten. Das zweite fantastische Konzept des ,Riderless Bike‘ gab Kindern mit seltenen Erkrankungen die Möglichkeit, über eine App und das Internet Teil einer Radrundfahrt quer durch Australien zu sein.“
Fritz Tomaschek, Geschäftsführung, FRITZWERK GmbH
„Einfache, klare und auf den ersten Blick verständliche Botschaften mit begeisternder Kreativität in bestechende Kampagnen umgesetzt – die bei den Health Lions präsentierten Projekte zeigen eindrucksvoll, was in der Gesundheitskommunikation möglich ist und wo der Weg hingeht. Spannend!“
Mag. Gabriele Jerlich, Verlagsleitung, MedMedia
„Neue, spannende Allianzen aus IT, Pharma und nationalen Gesundheitssystemen machen es möglich: Asthmapatienten werden sich bald keine Gedanken mehr über Einnahmezeitpunkt oder Dosierung ihrer Medikation machen müssen. Denn sensorgesteuerte Smartinhaler mit dazugehöriger App haben alle relevanten Daten wie Umwelteinflüsse, Wetter etc. bereits mit einbezogen. Im Krankenhaus der Zukunft übernehmen selbstlernende Systeme wie ,Watson‘ organisatorische und diagnostische Aufgaben und unterstützen den Patienten nach seiner Entlassung. Mit dieser Vision könnten mangelnde Personalressourcen eventuell ausgeglichen und wieder mehr Raum für Zuwendungsmedizin geschaffen werden.“
Die Wahrheit sagen ist revolutionär!
Noch nie, seit ich die Cannes Health Lions besuche, stand der Mensch so im Mittelpunkt wie diesmal. Nicht die technischen Neuerungen, die es zweifelsohne gab, beeindruckten, sondern die Tatsache, dass es kein „Digital oder Print“, kein „new or old way“ mehr gibt, sondern nur integrierte Konzepte und Kommunikation, bei der der Spruch von J.W. Thompson aus dem Jahr 1912 über gute Werbung zu neuem Leben erwacht: „Truth well told.“
Im Zentrum steht die Verbesserung der Glaubwürdigkeit, denn Patienten und Angehörige wollen die Wahrheit in interessanten und kompetenten Geschichten erfahren. Beispielsweise „wollen 86% der Patienten die Wahrheit über ihren Tod wissen“.
Storytelling ist der Kommunikationstrend schlechthin, und dieser bedarf echter Profis, die ihre Zielgruppen und deren Bedürfnisse genau kennen. Es bedarf echter Redakteure, die der Sache auf den Grund gehen und recherchieren, um – wie es Goethe sagen würde – „des Pudels Kern“ zu finden. Darüber hinaus wurde eindrucksvoll vor Augen geführt, dass das ständige Streben nach Perfektion für immer mehr Menschen eine immer größere Belastung darstellt. So ist als zweiter Trend der „Mut zur Nicht-Perfektion“ zu erkennen. Die Menschen wollen als solche und nicht als perfekte Produkte einer perfekten Industrie wahrgenommen werden.
Und last, but not least konnten wir feststellen, dass auf höchstem internationalen Niveau auch nur mit Wasser gekocht wird und die österreichische Pharmakommunikation keinen Vergleich zu scheuen braucht. – Vielleicht eine Motivation, dass sich unsere Kreativen, Agenturen und Pharmafirmen 2018 an dieser wichtigsten internationalen Leistungsschau beteiligen.
Mag. Wolfgang Maierhofer, Geschäftsführer, Verleger, MedMedia