Klinische Forschung ist die Voraussetzung dafür, dass Patient:innen mit neuen Medikamenten behandelt werden können. Allerdings werden klinische Studien immer häufiger außerhalb Europas durchgeführt. „Wir müssen daher die Rahmenbedingungen verbessern, damit in Zukunft Länder wie Österreich für klinische Studien attraktiv sind“, betont Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Tanja Stamm, Leiterin des Research Innovation Circle (RIC) der GPMed (www.gpmed.at). Dieser wurde 2022 gegründet und fungiert als Forum, das sich mit Neuerungen in der klinischen Gesundheitsforschung auseinandersetzt. Inhaltliche Schwerpunkte sind u.a. die Forschung mit Real World Data, adaptive Studiendesigns, Plattform-Studien sowie Studien mit Medizinprodukten inkl. Software als Medical Devices.
Im RIC arbeiten aktuell acht Vertreter:innen aus der akademischen Forschung, Clinical-Research-Organisationen und Forschungsabteilungen der pharmazeutischen Industrie mit. Die Mitglieder werden vom GPMed-Vorstand persönlich nominiert. „Die Teilnehmer:innen des RIC treffen einander sechsmal im Jahr, um sich über zukunftsweisende Neuerungen im Forschungsbereich auszutauschen“, erklärt Mag.a (FH) Veronika Mikl, stellvertretende Leiterin des RIC. Stamm ergänzt: „Aus den Treffen resultieren unter anderem Themen für GPMed-Fortbildungsveranstaltungen, wissenschaftliche Publikationen wie z.B. JMIR Quality for RWD (https://doi.org/10.2196/34204) sowie GPMed-Statements zu relevanten Fragestellungen. Unser Ziel ist es, durch Diskussionen mit den Stakeholdern aus Wissenschaft, Politik und Behörden die Rahmenbedingungen für die angewandte klinische Forschung in Österreich nachhaltig zu verbessern.“
Mag.a (FH) Veronika Mikl: Es wurden bereits einige Fortbildungen in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien organisiert, z.B. im vergangenen Juni die Veranstaltung ,Nicht AMG – Nicht MPG – Welche Studie bin ich?‘. Anlass für dieses Thema war, dass die Rahmenbedingungen für Studien mit Real-World-Daten (RWD) weniger klar definiert sind als jene für Arzneimittel- oder Medizinprodukte-Studien. Dabei finden RWD immer häufiger Eingang in klinische Forschungsprojekte. In dieser Fortbildungsveranstaltung gingen die vortragenden Expert:innen der Frage nach, unter welchen Bedingungen mit RWD klinische Forschung betrieben und Evidenz geschaffen werden kann und welche Kriterien für ein positives Votum bei der Ethikkommission relevant sind.
Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Tanja Stamm: Weiters arbeiten Vertreter:innen des RIC aktuell an einer weiteren wissenschaftlichen Publikation, die auf Basis einer ersten Arbeit (JMIR Quality for RWD; https://doi.org/10.2196/34204) weiter analysiert, welche RWD-Quellen es in Österreich gibt und wie diese bereits für Forschungszwecke genutzt werden bzw. welche Empfehlungen man für die Nutzung von RWD daraus ableiten kann. Es wird eine tolle Übersichtsarbeit, die auch RWD-Quellen umfasst, die im akademischen und öffentlichen Bereich aufgebaut und geführt werden. Die Veröffentlichung wird vermutlich Ende 2023/Anfang 2024 erfolgen.
Mikl: Ganz wesentlich ist es, über Neuerungen in der Forschung im Zusammenhang mit Gesundheitsdaten sowie digitalen Medizinprodukten – wie z.B. digitalen Gesundheitsanwendungen – fundiert aufzuklären und Wissen zu vermitteln. Wenn man aktuell Forschungsprojekte mit Gesundheitsdaten oder auch mit digitalen Gesundheitsanwendungen in Österreich durchführen möchte, ist noch vieles nicht so konkret und ausführlich definiert; hier wollen wir für mehr Klarheit sorgen. Deswegen möchten wir im GPMed RIC als Serviceleistung für unsere Mitglieder diese Neuerungen sehr praxisnah aufbereiten. Wir planen zum Beispiel einen Leitfaden, wie RWD-Studien in Österreich – z.B. als retrospektive Datenanalysen – auf- und umgesetzt werden können.
Mikl: Es wird im Gesundheitsbereich immer wichtiger, Forschungsfragen als Entscheidungsgrundlagen unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten rasch zu beantworten. Das gelingt, wenn wir durch eine gesetzeskonforme Nutzung von hochqualitativen Gesundheitsdaten Real-World-Evidenz (RWE) generieren. RWE leitet sich aus der Analyse von Real-World-Daten ab und kann verwendet werden, um einen wissenschaftlichen Beweis für den potenziellen Nutzen oder das Risiko einer medizinischen Intervention (Arzneimittel, Medizinprodukt, …) zu erbringen. Vor allem im Bereich der Rare Diseases und der Precision Medicine, wenn es nur kleine Subgruppen gibt und randomisierte Studien unethisch wären, aber auch bei Beobachtungsstudien, die keinen Einfluss auf die Steuerung der Therapie haben oder als historische Kontrolle, kann diese Methode ein nützliches Tool sein.
Stamm: Wir koordinieren beispielsweise an der MedUni Wien ein Public-Private-Partnership-Projekt, um die oft nicht ausreichend standardisierten Outcome-Daten in vier europäischen Ländern zu vereinheitlichen. Zunächst hat man sich darauf geeinigt, was gemessen werden soll. Die klinischen Daten wurden dabei um von Patient:innen berichtete Outcome-Daten ergänzt, damit auch die Sichtweisen der Patient:innen erhoben und analysiert werden können. Beispiele für solche Outcomes sind Lebensqualität, Funktionsfähigkeit im Alltag sowie Symptome wie Schmerzen oder Müdigkeit. Außerdem sollen Forscher:innen die Möglichkeit haben, Analysezugang zu den Daten zu bekommen. Ein entsprechendes Governance-Modell sieht vor, dass alle Stakeholder und auch die Patient:innen selbst mitbestimmen können, wer Zugang zu ihren Daten erhält und welche Fragenstellungen mit den kollektiv gesammelten Daten beantwortet werden sollen. Das Projekt heißt „Health Outcomes Observatory“ und wird in Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Österreich durchgeführt.
Stamm: Daten sollten standardisiert erhoben werden, das heißt, die Gesundheitsdienstanbieter:innen und die Patient:innen sollten die gleichen Messgrößen zu einheitlichen Zeitpunkten messen. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für einen Zugang der Forscher:innen zu Gesundheitsdaten. Das betrifft vor allem die Real World Data, also Daten, die für einen anderen Zweck erhoben werden, aber von der Forschung nachgenutzt werden können. Damit können z.B. neue Behandlungsstrategien für Patient:innen entwickelt werden. Aktuell gibt es dazu bereits einige Initiativen. Wir brauchen aber dringend ein Pilotprojekt, das den Nutzen für die Patient:innen und die anderen Stakeholder zeigt. Damit schaffen wir ein interessantes und effektives Umfeld für die klinische Forschung und neue gesundheitswissenschaftliche Studien in Österreich in der Zukunft.
Mikl: Das Forschungsorganisationsgesetz zur Sekundärdatennutzung, der Digital Austria Act sowie die jüngste Diskussion im Ministerrat gehen grundsätzlich in die richtige Richtung. Aber die Umsetzung schreitet zu langsam voran. Wenn Rahmenbedingungen für die Forschung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie Anforderungen zur Datennutzung in diesem Zusammenhang rasch klar zugänglich sind – das beinhaltet, wer was wann wo und wie zu erfüllen hat –, dann werden klinische Forschungsprojekte auch eher in einem Land umgesetzt. Nachdem es aber in der jüngsten Vergangenheit mehrere gesetzliche Neuerungen gegeben hat (z.B. für Medizinprodukte die EU2017/745 Medical Device Regulation und die EU2017/746 In-Vitro Drug Regulation), braucht es in manchen Bereichen noch einheitliche Guidelines oder Begriffsdefinitionen, insbesondere bei der Forschung mit Gesundheitsdaten sowie mit digitalen Gesundheitsanwendungen. In Österreich fallen zum Beispiel retrospektive Datensammlungen weder unter AMG noch unter MPG – eine einheitliche Regelung zur Bewertung
wäre daher wünschenswert.
Vielen Dank für das Gespräch!
„Für die klinische Praxis ist es wesentlich, Klarheit hinsichtlich der jeweiligen Begrifflichkeiten zu haben. Man muss beispielsweise genau unterscheiden, ob es sich um eine Registerstudie oder eine Registerverwertungsstudie handelt, ob man Daten anonymisiert oder pseudonymisiert. Werden diese Begriffe in Studienprotokollen nicht gut beschrieben, kann dies zu Verzögerungen in der Beurteilung einer Studie durch Ethikkommissionen führen. Aktuell gibt es eine nationale Leitethikkommission nur bei AMG- und MPG-Studien. Für Studien mit RWD müssen Anträge bei den jeweiligen Ethikkommissionen gestellt werden. Hier wäre es auch hilfreich, einen Ansprechpartner zu haben“, betonen Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Tanja Stamm und Mag.a (FH) Veronika Mikl.