Gesundheitskompetenz („Health Literacy“) ist ein wichtiger Eckpunkt der Gesundheit und der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit. Studien zeigen, dass signifikante Fortschritte in der Patientensicherheit sowie bei Gesundheitsergebnissen erzielt werden, wenn Patient:innen als Partner:innen in ihre Versorgung eingebunden werden, also Patientenbeteiligung („Patient Engagement“) in die Prozesse implementiert würde (Quelle: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/patient-safety).
Von mehr Eigenverantwortung der Patient:innen wird in diesem Zusammenhang oft gesprochen, ein in den letzten Jahren beinahe schon überstrapaziertes Schlagwort ist „der mündige Patient“ / „die mündige Patientin“. Natürlich wären Eigenverantwortung und Eigenengagement jedes und jeder Einzelnen im Hinblick auf Gesundheitsvorsorge und bei bestehenden Erkrankungen – z.B. in Bezug auf Lifestyle-Änderungen, Therapietreue etc. – wünschenswert. Doch Studien zeigen auch, dass die Gesundheitskompetenz in Österreich (und anderen europäischen Ländern) niedrig ist (siehe Kasten). Wer über eine geringe Gesundheitskompetenz verfügt, kann aber Eigenverantwortung in Gesundheitsfragen schwerer übernehmen.
Für Dr.in Brigitte Ettl, Präsidentin der Österreichischen Plattform Patientensicherheit, bedeutet das Schlagwort „mündige Patient:innen“, dass diese in der Lage sind, selbst Entscheidungen zu treffen – „und das muss man lernen, am besten bereits ab dem Schulalter. Denn Patient:innen brauchen Informationen, um die Fähigkeiten zu entwickeln, die erforderlich sind, um mitentscheiden zu können“, betont sie. Daher plädiert sie für mehr Gesundheitsbildung in den Schulen – durchaus auch mit dem Ziel, dass die Kinder das erworbene Wissen dann an die anderen Familienmitglieder weitergeben, denn „der Weg zu mündigen Patient:innen kann nur über Gesundheitskompetenz stattfinden und würde das Gesundheitssystem entlasten, auch in finanzieller Hinsicht“, ist Ettl überzeugt. „Aus Studien zur Patientensicherheit wissen wir beispielsweise, dass 15% der Krankenhauskosten eingespart werden könnten, wenn die Patient:innen mehr Eigenverantwortung übernehmen würden. Dazu müssen sie aber befähigt werden“, erklärt die Expertin weiter. Derzeit seien viele eben nicht dazu in der Lage, da sie nicht wissen, wo sie Informationen finden können etc. „Auch die Beurteilung der Qualität und Relevanz der Informationen fällt vielen schwer – das ist oftmals bereits für Mediziner:innen schwierig. Wie sollen das dann Laien leisten können?“, fragt sie.
Ettl wünscht sich eine verstärkte Wissensvermittlung, eine Motivation der Menschen, Eigenverantwortung zu übernehmen, und schlussendlich Unterstützung bei der Ausübung der Eigenverantwortung, also ein Befähigen zum eigenen Handeln. Ihre Empfehlungen, um dies zu erreichen: „Wie gesagt, müsste man bei den Kindern ansetzen. Bei den Erwachsenen sehe ich es als wichtige Aufgabe der Ärzt:innen, Patient:innen als Partner:innen zu sehen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass man sie versteht. Patient:innen müssen sich ernst genommen fühlen. Wenn wir sie in der Rolle der mündigen Patient:innen sehen wollen, müssen wir sie auch in dieser Rolle bestärken! Das heißt, dass in den Ausbildungen der Gesundheitsberufe vermehrt Wert darauf gelegt werden sollte, Ärzt:innen aufzuzeigen, wie sie die Gesundheitskompetenz der Patient:innen fördern können, und dass das in der Folge auch in der Praxis geübt werden muss“, so Ettl.
Ap. Prof. Priv.-Doz. DDr. Igor Grabovac, Facharzt für Public Health, Zentrum für Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Medizinische Universität Wien, beschäftigt sich ebenfalls intensiv mit dem Thema Stärkung der Gesundheitskompetenz.
Er erläutert, dass es sowohl verschiedene Arten als auch Niveaus von Gesundheitskompetenz gibt: „Es beginnt bereits bei der Lese- und Schreibkompetenz. Kann ein:e Patient:in die Informationen erfassen und mit den erhaltenen Daten Entscheidungen treffen? Diese Kompetenz ist eine wichtige Grundlage, damit Patient:innen mit Gesundheitsprofis kommunizieren und zusammenarbeiten können.“ Dies könne man nicht einfach von Menschen erwarten, sondern man müsse sie dazu befähigen, betont Grabovac.
Daher ist seiner Ansicht nach die Stärkung der Gesundheitskompetenz sowohl eine individuelle als auch eine systemische Frage: „Es beginnt bereits in der Schule. Hier sollten den Kindern Themen wie Hygiene etc. vermittelt werden, aber auch, wie sie mit Gesundheitsinformationen umgehen, wie sie seriöse Quellen erkennen, wie sie Informationen bewerten können. Das wäre in meinen Augen ein Auftrag an das System.“
Auf der individuellen Seite sieht er die Eigenverantwortung im Fokus – zumindest bei denen, die diese bereits selbst übernehmen können. „Dabei gilt es zu bedenken, dass es individuell unterschiedliche Grade von Gesundheitskompetenz gibt“, erklärt Grabovac. In seinen Augen sind z.B. gesundheit.at sowie generell die Informationen von Ministerien und von Patientenorganisationen wie der Österreichischen Krebshilfe u.a. gute Quellen für Gesundheitsinformation: „Bei Zweifeln an der Qualität von Informationen sollte man sich immer an Profis, sprich, an Gesundheitsdienstleister wenden. Dazu wäre es aber auch notwendig, dass Ärzt:innen entsprechend Zeit für ihre Patient:innen haben, damit diese beispielsweise Unklarheiten ansprechen können. Derzeit fühlen sich viele Patient:innen oftmals nicht willkommen, Fragen zu stellen. Dabei sind gemeinsame Entscheidungsprozesse von Profi und Patient:in äußerst wichtig, und dazu wäre es eigentlich notwendig, dass die Patient:innen ihre Anliegen vorbringen können – wenn dafür die Zeit wäre …“, unterstreicht der Experte.
Gerade das Zeitproblem der Ärzt:innen sieht Grabovac als großes systemisches Problem: „Ärzt:innen haben auch eine gesellschaftliche Funktion, nämlich als Lehrende der Patient:innen. Das braucht Zeit, gerade weil dabei neben der Informationsvermittlung auch die menschliche Qualität des Gesprächs sehr wichtig ist.“ Denn es sei ein wesentlicher Teil der modernen Medizin, die Patientenautonomie zu respektieren. „Damit Patientenautonomie aber überhaupt möglich ist, brauchen die Patient:innen gute und umfassende Informationen, damit sie auch die Folgen ihrer Entscheidungen abwägen können“, so Grabovac. Er ist zudem überzeugt, dass durch Stärkung der Patientenautonomie die Sozialversicherungen Geld einsparen würden: „Eine Therapie funktioniert nur, wenn Medikamente richtig eingenommen werden – das sorgt für eine bessere Wirkung, weniger Nebenwirkungen und einen besseren Verlauf. Das wiederum spart der Sozialversicherung Geld. Therapietreue funktioniert aber nur, wenn der bzw. die Patient:in gut informiert wurde, und das erfordert eine ausführliche Arzt-Patienten-Kommunikation.“
Grabovacs Fazit: „Die Gesundheitskompetenz in Österreich stagniert seit rund 15 Jahren. Die Menschen finden ihren Weg im Gesundheitssystem nicht. Daher braucht es eine stärkere Primärversorgung und eine Stärkung der Allgemeinmediziner:innen!“
Für Dr.in Iris Herscovici, Geschäftsführerin von selpers, einer Plattform zur Förderung der Gesundheitskompetenz von Patient:innen und Angehörigen, ist die entscheidende Frage, was Betroffene brauchen. „Den typischen oder die typische Patient:in gibt es nicht. Sie stehen in unterschiedlichen Phasen ihrer ,Patient Journey‘, erleben unterschiedliche Herausforderungen und haben unterschiedliche Bereitschaft, Eigenverantwortung zu übernehmen. Manche wollen sich nicht mit ihrer Krankheit auseinandersetzen, andere lesen klinische Studien zu ihrer Erkrankung.“ Dies müsse im Arzt-Patienten-Gespräch, aber auch bei jeder anderen Art von Gesundheitsinformation berücksichtigt werden. „Wir müssen den Menschen vermitteln, wie sie selbst etwas zu ihrer Gesundheit beitragen können. Dafür brauchen sie verständliche und alltagstaugliche Erklärungen rund um ihre Therapie – und gerade dafür ist im Arzt-Patienten-Gespräch oft wenig Zeit“, kritisiert auch sie. Dabei wären gerade Details wichtig und könnten auch zur Verbesserung des Therapieerfolges beitragen. „Wenn beispielsweise die Medikamenteneinnahme mit dem Essen erfolgen soll, fördert es die Therapietreue, wenn erklärt wird, warum das wichtig ist. Je besser Patient:innen verstehen, warum sie etwas tun sollen, desto eher halten sie sich daran“, betont Herscovici.
Auch die Rolle der Angehörigen bei der Therapieadhärenz dürfe – gerade bei chronischen Erkrankungen – nicht unterschätzt werden, erklärt sie weiter. Daher sollten Angehörige informiert werden, wie sie die Betroffenen unterstützen können. „Man muss aber auch die Angehörigen befähigen, auf sich selbst zu schauen, damit ihre eigene Lebensqualität nicht leidet und ihre Belastbarkeit nicht überschritten wird“, so Herscovici abschließend.
In Österreich wurde bereits Ende 2014 die Österreichische Plattform Gesundheitskompetenz (ÖPGK; www.oepgk.at) durch die Bundesgesundheitskommission ins Leben gerufen, um die Stärkung der Gesundheitskompetenz durch geeignete Maßnahmen umzusetzen. Dabei wurden folgende Ziele definiert:
Mögliche Lösungsansätze
Doch auch die zweite europäische Gesundheitskompetenz‐Erhebung (Health Literacy Population Survey 2019–2021, kurz HLS19) zeigte, dass in Österreich immer noch eine niedrige Gesundheitskompetenz vorliegt. Die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), nationales Forschungs- und Planungsinstitut im Gesundheitswesen sowie Kompetenzstelle für Gesundheitsförderung, hat in der Auswertung dieser Studie die aktuellen Herausforderungen im Bereich Gesundheitskompetenz in Österreich sowie Empfehlungen für mögliche Lösungsansätze herausgearbeitet (https://goeg.at/analyse_gk). Dazu gehören u.a.: