So tickt der Healthcare-Bereich

Wie hat sich die Marktforschung im ­Healthcare-Bereich verändert? Grundsätzlich gelten hier dieselben Trends und Entwicklungen wie im Konsumgüterbereich, sind sich die befragten Expert:innen einig. Dazu kommen noch einige Besonderheiten, die mit den speziellen Zielgruppen und den komplexen Themen des Gesundheitsbereichs zusammenhängen.

Die Fragestellungen der Pharmaunternehmen

Wofür brauchen Pharmaunternehmen heutzutage Marktforschung (mehr dazu in „Gesucht: Agile und flexible Ansätze“)? Dazu Michaela Burghart, MA, Senior Consultant, Primary Market Research, IQVIA Österreich: „Einerseits sehen wir, dass die Fragestellungen der Unternehmen immer spezifischer werden und sich auf alle Phasen des Produktlebenszyklus beziehen – von der professionellen und detaillierten Launch-Vorbereitung bis hin zum Patentablauf. Andererseits ist eben auch seit der post-pandemischen ‚Remote Meeting‘- Kultur immer häufiger die Frage nach dem ide­alen Kommunikationskanal eine relevante: ‚Wie erreiche ich die Healthcare Professionals und wo wollen diese von meinen Informationen erreicht werden?‘. Das ist eine sehr typische Fragestellung unserer Zeit.“ Immer dann, wenn zu der Frage nach dem „WAS passiert gerade am Markt“ auch noch nach dem „WARUM passiert es“ gesucht werden soll, ist laut Burghart eine Kombination aus den klassischen Marktdaten mit Ergebnissen aus der Primärmarktforschung das Mittel der Wahl.

Spezifischere Patientengruppen

Eine Veränderung, die bereits vor rund 25 Jahren begonnen hat, ist die zunehmende Zahl an Marktforschungsaufträgen aus dem Life-Science-Bereich (Pharma und Biotech) zu medizinischen Top-Innovationen, die in Summe für sehr viele Patient:innen enorme Fortschritte gebracht haben, im Einzelfall aber oft nur bei kleineren Patientensubgruppen durch eine noch kleinere Zahl an Ärzt:innen in einigen wenigen Kompetenzzentren zur Anwendung kommen. Damit reduziert sich die Zielgruppe der Marktforschung auf eine drei- oder manchmal sogar nur zweistellige Zahl an Patient:innen und einen noch wesentlich kleineren Kreis an medizinischen Top-Spezialist:innen. „Mit klassischen Umfragemethoden wie standardisierten Fragebögen kommt man hier genauso wenig zum Ziel wie mit KI-Tools. Da bedarf es maßgeschneiderter Zugänge zu den Zielgruppen und spezialisierter, intensiv recherchierender Forschungsteams, um qualitativ zuverlässige Marktforschungsergebnisse zu erhalten“, erklärt Dr. Walter Wintersberger, Projektleiter bei Spectra Marktforschung. Die immer komplexer und differenzierter werdenden Themenstellungen stellen auch eine große Herausforderung an die Kompetenz und Lernbereitschaft der Marktforscher:innen bei der Entwicklung der Fragebögen und Moderationskonzepte dar, so Wintersberger weiter.

Dr.in Gudrun Auinger, Sales Professional bei Insight Health GmbH, sieht dies ähnlich: „Die personalisierte Medizin bringt immer spezifischere Therapien, die individuell auf Patient:innen zugeschnitten sind, auf den Markt. Dies führt dazu, dass sich auch die Ärzt:innen spezialisieren. Wir Marktforscher:innen müssen unsere Zielgruppen somit ebenfalls ständig noch genauer auswählen.“ Daher geht laut Auinger der Trend in Richtung spezifischere Panels, die man sich aufbaut: „Dies gilt für Ärzt:innen, Apotheker:innen und auch Patient:innen. Denn generell gibt es im Healthcare-Bereich die Entwicklung, die Patient:innen zunehmend in den Mittelpunkt von Marktforschungsuntersuchungen zu stellen.“

Das beobachtet auch Mag.a Eva Brosch, MBA, Managing Director bei medupha: „Egal, ob es um Therapien, Gesundheitsapps oder Wearables geht: Die Unternehmen interessieren sich immer mehr für die Erfahrungen und Bedürfnisse der Patient:innen.“ Daher werden diese nach Broschs Erfahrungen vermehrt zu Zielgruppen von Marktforschungsbefragungen. Sie berichtet weiters, dass medupha zunehmend mehr 360°-Analysen durchführt, bei denen ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird – aus Sicht der Ärzt:innen sowie anderer Health-Care-Professionals und aus Sicht der Patient:innen. „Solche Art von Marktforschung sollte meiner Ansicht nach noch viel häufiger stattfinden. Nicht nur vonseiten der Pharmaindustrie, sondern auch von öffentlichen Stellen. Denn mithilfe von Marktforschungsergebnissen aus Patientenbefragungen könnte das Gesundheitswesen verbessert werden“, ist Brosch überzeugt.

Motivation der Ärzt:innen

Der große Zeitdruck der Ärzt:innen und Pflegefachkräfte hat dazu geführt, dass sie zunehmend schwerer für Befragungen gewonnen werden können. Hier gilt laut Wintersberger für die Fragesteller:innen, „dass wir die Healthcare-Professionals bei Aspekten abholen müssen, die sie interessieren, die für sie Relevanz haben, also indem man ihnen beispielsweise neue Informationen und Blickwinkel mitliefert etc.“.

Brosch sieht den allgemeinen MAFO-Trend, Befragungen vor allem online und hier eher an mobilen Geräten durchzuführen, auch im Healthcare-Bereich. „Fragebögen so zu entwickeln, dass sie auch am Handy übersichtlich dargestellt werden, ist übrigens aufgrund der sehr komplexen Abfragen bzw. Fragenformulierungen manchmal gar nicht so einfach“, erklärt sie. Brosch stellt zudem fest, dass der Zugang zu den Zielgruppen schwieriger wird, auch bei Online-Befra­gungen: „Zeitmangel und Informationsflut schränken uns Marktforscher:innen bei unserem Zugang zu den Healthcare-Professionals extrem ein. Vertrauen ist ein wichtiges Thema, um Personen zur Teilnahme zu motivieren – bekannte Institute haben hier einen Vorteil, da man ihnen eher vertraut.“

Daten verknüpfen

„Wir bei IQVIA erheben unsere Informationen sowohl über Primärmarktforschung – den klassischen Fragebogen bzw. das Interview – als auch über Sekundärmarkt­forschung, also mittels einer Vielzahl an Datenpunkten entlang der Lieferkette. Das heißt, um ein allumfassendes Bild zu erhalten, führen wir Interviews mit Fachärzt:innen, Apotheker:innen, Patient:innen und der Industrie selbst und kombinieren die Ergebnisse ge­gebenenfalls mit den Informationen aus unseren Datenbanken“, erläutert Burghart. Wintersberger berichtet Ähnliches: „Natürlich sind Online-Befragungen heute das Flaggschiff. Wir erheben Daten zudem mittels Einzelinterviews und Fokusgruppen – rational diskursive ebenso wie spielerisch-kreative, mehr auf Emotionalität abzielende oder ein Mix aus beidem. Zusätzlich spielt die Desk Research, also die Sekundärforschung, eine wichtige Rolle, indem wir auf wissenschaftliche Publikationen, publizierte Gesundheitsstatistiken und Daten zurückgreifen.“

Die Nutzung der Sekundärdaten im Healthcare-Bereich hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, betont Burghart, denn die COVID-19-Pandemie hat bei vielen Menschen ein allgemeines Bewusstsein da­rüber geschaffen, dass die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten in Forschung und Entwicklung sehr viel Gutes bringen könnte. „Erst durch die zahlreichen öffentlichen Diskussionen wurde klar, wie groß die Lücken in diesem Bereich sind. Deshalb werden völlig neue Fragestellungen an unser Primärmarktforschungsteam herangetragen, die sehr viel mehr medizinisches und pharmazeutisches Wissen erfordern, als das früher der Fall war“, so Burghart.

Künstliche Intelligenz und Machine Learning

„Bei der Datenverarbeitung und Hochrechnung arbeiten wir bei IQVIA seit vielen Jahren mit ‚Artificial Intelligence & Machine Learning‘-Ansätzen“, berichtet Burghart. Aber auch im Bereich der „Freitextanalyse“, also immer dann, wenn ein Fragebogen auch individuelle Antworten zulässt, ist der Einsatz von Large Language Models, abgekürzt LLM, ihrer Erfahrung nach sehr hilfreich beim Zusammenfassen und Clustern der Antworten in verschiedene Gruppen. „Die Maschine übernimmt hier die Vorarbeit, um dem Menschen das Leben leichter zu machen“, erklärt Burghart.

Wintersberger bestätigt dies: „KI kommt bereits als Analysetool zum Einsatz, z.B. um offene Fragen auszuwerten, Muster bei großen Befragungen zu erkennen etc. Dies verbessert beispielsweise auch die Qualität von großen Stichproben, da KI Befragte mit inkonsistenten und ‚verdächtigen‘ Antwortmustern erkennt.“ Auch KI-geführte Interviews sind laut Wintersberger in der Theorie bereits möglich, „bis zum tatsächlichen Einsatz wird das aber noch ein paar Jahre dauern.“

Auinger sieht die KI ebenfalls bereits eta­bliert bei der Datenüberprüfung: „KI-Tools können Bots identifizieren und ersparen den Marktforscher:innen dadurch viel Arbeit. Auch bei der Transkription qualitativer Antworten ist KI hilfreich, doch die Ergebnisse müssen immer überprüft werden. Gerade in Österreich gibt es oft das Pro­blem, dass Dialekt nicht erkannt wird, wobei die KI-Tools hier kontinuierlich besser werden.“ Sie gibt jedoch zu bedenken, dass bei der Zielgruppe Ärzt:innen der Einsatz von KI oftmals nur begrenzt möglich ist, da die Stichprobe oft sehr klein ist: „Im OTC-Sektor, in dem der Fokus mitunter auf Endkonsumenten und daher größeren Stichproben liegt, sehen wir hingegen gerade in letzter Zeit einen zunehmenden Einsatz von KI-Tools, z.B. bei der Beurteilung von Werbespots, indem Emotionen bzw. emotionales Verhalten über ein KI-Tool gemessen und beurteilt werden.“

Brosch sieht die KI ebenfalls als Bereicherung, die viele spannende Tools liefert, welche die MAFO-Arbeit erleichtern und Zeit sparen: „Es gibt bereits zahlreiche etablierte KI-Anwendungen z.B. zur Datenanalyse oder Kodierung von Freitext. Ich persönlich nutze beispielsweise ChatGPT auch als Sparringspartner für die Recherche oder für kreative Anregungen.“ Aber auch sie mahnt zur Vorsicht: „KI sollte man bei der Analyse von Daten vorsichtig einsetzen und sich immer überlegen, in welches Tool man Daten eingeben und sich sicher sein kann, dass diese nicht missbraucht werden!“ Grundsätzlich braucht es auch ihrer Meinung nach noch immer den Menschen, der am Ende die KI-Ergebnisse kontrolliert. „KI ist nicht der Weisheit letzter Schluss! Man sollte stets bedenken, dass KI nur das weiß, was jemand ihr eingegeben hat“, unterstreicht Brosch.

Empfehlungen für Healthcare-MAFO

Burghart rät: „Wir müssen uns auf jede Zielgruppe und jeden Markt einstellen und auch entsprechend vorbereiten. Die Projekte sind vielfältig und einander oft nur auf den ersten Blick ähnlich. Aber wie immer steckt auch hier ‚der Teufel im Detail‘“. Dies hat ihrer Ansicht nach auch mit der raschen Dynamik im Markt zu tun, die natürlich die Marktforschung ebenfalls beeinflusst. Den aktuellen Stand der Forschung in die Projektentscheidungen einzubeziehen ist daher von großer Bedeutung. „Aber auch eine realistische Einschätzung der Durchführbarkeit und ‚Erwartungsmanagement‘ aufseiten unserer Kunden von Anfang an zu thematisieren, wird zunehmend wichtig“, betont Burghart.

Auinger weist nochmals darauf hin, dass die Auswahl der Zielgruppe extrem wichtig ist: „Gerade bei spezifischen und komplexen Fragestellungen – und die heutigen Therapien sind sehr spezifisch und sehr komplex – muss man durch umfassende Recherche die richtigen Zielpersonen herausfinden. Nur dann erhält man auch Ergebnisse, mit denen man arbeiten kann.“

Und Brosch empfiehlt: „Bei der Fragestellung ist es wichtig, auch die Bedürfnisse der Befragten zu berücksichtigen. Bei Fragestellungen, die für Ärzt:innen irrelevant sind, wird man nicht viele Interviews und keine guten Ergebnisse erhalten.“ Wintersberger rät, dass Ärzt:innen nicht zu oft bzw. zu schnell hintereinander befragt werden sollten: „Ein Interview braucht Zeit, die darin investierte Zeit fehlt den Ärzt:innen dann entweder für den Patientenkontakt oder privat – daher muss eine vernünftige Frequenz beachtet werden!“ Generell empfiehlt er, die Befragten und ihre Interessen vermehrt in den Mittelpunkt zu stellen: „Wenn man die Fragestellung so wählt, dass die Befragten dadurch zur Reflektion bzw. zum Nachdenken anregt werden, ist das auch für sie selbst interessant. So erzielt man bessere Ergebnisse und erhöht die Bereitschaft, erneut an einer Befragung teilzunehmen.“