Es war einer der wenigen öffentlichen Auftritte des Generaldirektors der neuen Österreichischen Gesundheitskasse Mag. Bernhard Wurzer, der derzeit intensiv damit beschäftigt ist, die bestehenden neun Gebietskrankenkassen zur ÖGK zu fusionieren. Zu künftigen Themen hält sich Wurzer meist bedeckt – nicht so allerdings bei der Zukunftsenquete „moreTECH – moreTOUCH“. Und Wurzer zeigte auch gleich die praktischen Grenzen der technischen Möglichkeiten und Entwicklungen auf: „Wir hinken als öffentliche Krankenversicherung vielen Entwicklungen und Marktteilnehmern nach. Das liegt unter anderem daran, dass wir vieles aus rechtlichen Dingen nicht dürfen.“ Dazu komme, dass man auch Ressourcen zur Verfügung stellen müsse, um die Veränderungen und Auswirkungen auf die Krankenkasse und deren Versicherte überhaupt einschätzen zu können, sagte Wurzer in der von MedMedia-Geschäftsführer Dr. Wolfgang Tüchler moderierten Diskussion. „Wir müssen uns dazu auch täglich die Frage stellen, wie wir mit dem auskommen, was wir zur Verfügung gestellt bekommen.“ Bei neuen Technologien müsse die öffentliche Krankenversicherung – wie auch alle anderen im System – die Frage nach dem Nutzen stellen. Wurzer: „Wozu machen wir das? Wo liegt der Nutzen? Wenn wir den nicht hervorheben können, wird diese Dinge niemand wollen und einsetzen.“
Wo etwa in der Onkologie dieser Nutzen liegen kann, zeigte Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger von der Universitätsklinik für Innere Medizin I, Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie der MedUni Wien, in einem Einleitungsreferat auf: „Wir reden heute in der Onkologie nicht von einem linearen Anstieg der Therapiemöglichkeiten, sondern von einem exponentiellen.“ Tumorerkrankungen nehmen insgesamt zu und würden dank der Therapien zunehmend zu chronischen Krankheiten, die „wir immer besser und immer öfter behandeln können“. Die Herausforderung dabei sei, dass gerade Akutspitäler für chronische Therapien schlecht ausgestattet sind und auch die Menschen schlecht auf derartige Krankheiten vorbereitet sind. Gaiger bemühte dazu den Vergleich mit Sportlern, die auf die Behandlung von Verletzungen aufgrund des laufenden Trainings vorbereitet seien – aber die meisten Menschen seien weder körperlich noch psychisch auf eine lange Krebstherapie vorbereitet.
Hilfe könnte hier etwa das EU-Projekt eSMART bringen, dessen österreichischer Projektleiter Gaiger ist. Die Software für Smartphones und Patienten hilft bei der Beurteilung von elektronischem Symptommanagement mit dem Fernüberwachungssystem ASyMS (Advanced Symptom Management System) für Patienten mit einer Krebserkrankung. „Das System bietet Patienten während und nach einer Chemotherapie kontinuierliche Unterstützung und ermöglicht es ihnen, bequem zu Hause zu bleiben. Sie werden dabei laufend zu Befindlichkeiten und Tätigkeiten befragt und haben damit auch das Gefühl, dass sie umsorgt sind. Bei heiklen Entwicklungen meldet sich in kürzester Zeit ein Arzt.“ Das System helfe somit, Kosten zu senken, und gebe gleichzeitig den Menschen das Gefühl, nicht allein mit ihren Problemen zu sein, wenn sie das Krankenhaus verlassen. Gaiger: „Wir müssen uns also künftig fragen, was wir wollen und was wir brauchen. Vielleicht ermöglicht uns digitale Technologie wieder, was wir suchen – nämlich Zeit zu haben, um Menschen in den Spitälern zu begegnen. eSMART gibt Patienten zudem die Möglichkeit, selbst an der Gestaltung ihrer Genesung mitzuwirken, indem sie eben auch Daten eingeben.“
Die Frage, welche Technologien allerdings ausgerollt werden, sei eine durchaus komplexe, erklärte Dr. Andreas Klein (Ethik Consulting) im zweiten Impulsstatement. „Unser Problem ist, dass wir heute Entscheidungen treffen über Dinge, die die Zukunft betreffen und deren Folgen und Nutzen wir kaum abschätzen können.“ Das sei vor allem deshalb komplex, weil „mit der Digitalisierung und Genetisierung zwei dynamische Entwicklungen aufeinandertreffen“. So gebe es etwa im Bereich der Robotik Erfindungen, die nicht nur das Personal entlasten, mit Patienten kommunizieren und Körperparameter messen, sondern auch Medikamente ordern, die Lagerhaltung verwalten und mit den Lieferanten kommunizieren.
Gleichzeitig mache der Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz den Menschen aber auch Angst. „KI-Systeme sind selbstlernend, sie werden nicht programmiert, sondern entwickeln sich selbst anhand von Daten und Strukturen, die sie beobachten. Das bringt enorme Fortschritte in der Diagnostik. Wo und wie sie eingesetzt werden, müssen aber Menschen entscheiden, die meist gar nicht mehr verstehen, was hier abläuft“, so Klein. Das erzeuge auch Unsicherheit. Als Beispiel führte Klein die Genschere an: „Das bringt enorm viele ethische Fragen: Was wollen wir? Wollen wir Erbkrankheiten beheben? Wollen wir Designerbabys? Was ist mit genetischen Dispositionen? Wollen wir diese auch beheben, wenn nur die Wahrscheinlichkeit für eine Krebserkrankung besteht? Und welche Entscheidungsspielräume haben wir eigentlich?“ – Für solche Debatten stehe man noch immer am Anfang. Der Experte fordert klare Regeln für Debatten und Entscheidungen sowie tabulose Analysen fernab von jeweiligen Interessenlagen mit dem Ziel, dass der Patient und seine Versorgung im Zentrum bleiben.
Aus Patientensicht dürften viele Dinge allerdings klar sein, sagte Evelyn Groß von der Österreichischen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung in der Diskussion: „Als chronische Patientin will ich, dass die Dinge, die es gibt und die Hilfe versprechen, rasch umgesetzt werden.“ Derzeit hätten die Fortschritte aber die Praxis noch nicht erreicht. „Dadurch verlieren wir viel Zeit – vor allem in der Diagnose. Wenn man hier mit Digitalisierung Zeit sparen kann, kann man sich als Patient auf andere Dinge konzentrieren“, so Groß. Das schaffe tolle Perspektiven. Die Angst, die mitschwingt, sei die Datensicherheit: „Der Nutzen überwiegt aber sicher die Risiken.“ Vor allem aber könne die Entwicklung Raum für Zuwendung schaffen.
Das sieht auch Harald Titzer, Präsident der Arbeitsgemeinschaft hämatologischer und onkologischer Pflegepersonen in Österreich (AHOP), so: „Neue Möglichkeiten verdienen eine Chance in der Praxis, weil sie auch Unterstützung sein können.“ Technologien müssten aber auch sinnvoll eingesetzt werden, dann könnten sie mehr Möglichkeiten für mehr Zuwendung bringen. Allerdings brauche die Umsetzung neuer Dinge derzeit zu viel Zeit. Titzer: „Wir nutzen seit der Novelle zum Gesundheits- und Krankenpflegegesetz noch gar nicht alle Möglichkeiten aus, die sich bieten.“
Auch Dr. Thomas Holzgruber, Kammeramtsdirektor der Wiener Ärztekammer, macht sich Gedanken um die von ihm vertretene Berufsgruppe: „Der Arztberuf ist sicher einem Wandel unterworfen. Ich mache mir aber um den Arztberuf insgesamt keine Sorgen. Die soziale Interaktion und die Vernetzung von neuen Möglichkeiten werden immer wichtiger – auch im Hinblick auf das Vertrauen in moderne Therapien.“ In puncto Diagnose werde die Technologie zudem sicher helfen. Man müsse aber darauf achten, dass das nicht zu zusätzlichem Bürokratieaufwand und damit wieder weg vom Patienten führt.
Wichtig – und darin waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig – werde sein, dass neue Technologien rasch eingesetzt und auch die finanziellen Möglichkeiten für ihren Einsatz geschaffen werden. Holzgruber: „Technologie kostet. Wenn wir sie sozial einsetzen wollen und für alle verfügbar machen möchten, müssen wir uns auch dazu bekennen, dass es die Finanzierung dafür braucht.“
Quelle: Podiumsdiskussion „RELEVANZ – was bedeuten die Visionen der Zukunft für die Healthcare-Entscheidungen der Gegenwart?“. Zukunftsenquete healthcare 2030; Wien, am 13. 11. 2019