Veranstaltungsbranche: Angezählt oder kampfbereit?

Österreich zählt traditionell zu den gefragtesten Kongressdestinationen weltweit, wie die Ergebnisse des aktuellen Meeting Industry Report Austria belegen. Laut einer Studie des Instituts für Höhere Studien erwirtschaftet die Veranstaltungsbranche in Summe 8,9 Mrd. Euro Wertschöpfung und damit fast 3% des BIP. Im Jahr 2019 verzeichneten heimische Kongress- und Tagungsanbieter Rekorde: Über 1.600 internationale Kongresse, 4.000 nationale Kongresse, 13.300 Firmentagungen und 6.200 Seminare fanden hierzulande statt. Insgesamt trafen sich knapp 1,8 Mio. Teilnehmer und bescherten der Hotellerie dadurch 2,3 Mio. zusätzliche Nächtigungen.
Die Pandemie trifft die Branche besonders hart: Nach einem kompletten Stillstand im März wurde rasch reagiert und mit innovativen Online-Angeboten sowie professionellen Präventionskonzepten wieder hochgefahren. Neben Gastfreundschaft und Servicequalität rückte das Thema Sicherheit und Gesundheitsschutz in den Mittelpunkt. Dennoch mussten allein von März bis Mai rund 7.000 Veranstaltungen abgesagt werden. Die zweite umsatzstärkste Saison, der Herbst, bringt keine Besserung. Die Hoffnung auf Ersatztermine vor allem für große Live-Events wurde längst begraben, denn die schwierigste Herausforderung ist und bleibt die Einschätzung der Pandemielage. Eine mittel- bis langfristige Planung ist bei der unklaren Entwicklung des Infektionsgeschehens und damit ständig wechselnden Vorgaben durch den Gesetzgeber praktisch nicht möglich.

 

 

Qualität vor Quantität

Ob kreative Messestände, international renommierte Keynotes oder ungewöhnliche Performances – Pharmafirmen haben enorme Summen investiert, um den persönlichen Kontakt zu ihren Anwendern, den Ärzten, zu etablieren. Vieles davon ist erst wenige Monate her, hinterlässt aber bereits ein Gefühl, als würden wir von einem anderen Zeitalter sprechen. Reiseplanung war gestern – Digitalisierung ist heute. Dennoch scheint die Wende nicht ganz überraschend gekommen zu sein, denn die Tage, in denen Tausende Ärzte über den Globus gejettet sind, waren ohnehin gezählt. Strenger werdende Compliance-Richtlinien, knappe Zeit- und Budgetressourcen, der Klimaschutz sowie die Überzeugung, dass manchmal weniger doch mehr ist, haben hier und da schon zu einem Umdenken geführt. So waren in der medizinischen Community Online-Übertragungen, E-Learnings oder Content-on-Demand längst keine Novitäten mehr. Der Anstoß zur flächendeckenden Umsetzung war dennoch erst jetzt Pandemie-getriggert.

 

„Online-Fortbildungen waren zum Teil ja schon vorhanden und wurden weiter ausgebaut. Das sehe ich als Bereicherung, denn die Flexibilität für die Teilnehmer ist damit gestiegen. Für Kongresse ist die Zeit jetzt hingegen sehr schwierig, das hat auch uns getroffen. Mehrtägige Events virtuell abzuhalten, ist logistisch eine Herausforderung, aber auch für Teilnehmer kaum machbar“, ist Univ.-Prof. Dr. Susanne Kaser überzeugt. Sie ist Präsidentin der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) und in dieser Funktion auch für den jährlichen Diabeteskongress verantwortlich.
Wer in der Klinik arbeitet, kennt die Herausforderung, ein stilles Plätzchen zum ruhigen Arbeiten zu finden. Hier beobachtet Online-Anbieter Priv.-Doz. Mag. Dr. Hubert Lobnig von Lemon Consulting durchaus einen Digital Gap: „Nicht jeder Vertreter aus Gesundheitsberufen ist gleich technikaffin und hat passende Zugangsmöglichkeiten. Gerade in Spitälern haben selten alle Ärzte einen EDV-Arbeitsplatz, der auch noch über Internet mit annehmbarer Geschwindigkeit verfügt. Gleiches gilt für die Pflege. Ein PC im Sozialraum reicht nicht aus, um die nötige Ruhe und Arbeitsumgebung zum Lernen zu schaffen.“ Viele Health Care Professionals sind auf ihr eigenes Improvisationstalent oder privates Equipment angewiesen und Kliniken sind jetzt gefordert, die Infrastruktur für die digitale Fortbildung bereitzustellen.

Haptisches Erlebnis fehlt

Einfacher haben es hier beispielsweise die Radiologen, die naturgemäß viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, aber vielleicht genau deswegen persönliche Treffen den virtuellen vorziehen. Der Europäische Radiologenkongress (ECR) im März sollte der Treffpunkt für rund 40.000 Anwender sein. „Das Who-is-who der Szene informiert sich hier über die Entwicklungen medizinischer Großgeräte“, wissen Andreas Pan­gratz, MBA, Geschäftsführer, und Alexandra Schmatz, Marketing und Communication von Canon Medical Systems. Entsprechend aufwendig ist die Vorbereitung – und dann kam kurzfristig der Switch in die virtuelle Welt. „Nicht viel anders erging es uns mit dem Ultraschall-DACH-Dreiländertreffen. Hier gab es gar keine Alternative im Netz“, berichtet Pangratz.
Trotzdem können die beiden der Situation auch Positives abgewinnen. „Am ECR haben wir den mobilen Computertomografen-Truck im Netz präsentiert, das wäre auf einem Indoor-Messestand nicht möglich gewesen. CT und MRT leben von virtuellen Abläufen und klinischen Bildern via Computer und die Demo-Konsolen sind bestens dafür ausgerüstet. Ein Herz-CT oder eine Intervention an der Wirbelsäule sieht live nicht viel anders aus“, resümiert Schmatz.
Dennoch: Das haptische Erlebnis, wie eine Ultraschallsonde in der Hand liegt oder wie es sich anfühlt, in einer breiten Gantry zu liegen, fehlt. „Das sind normalerweise die Kriterien, die auch für eine Kaufentscheidung ausschlaggebend sind. Ohne Kongress sind wir jetzt gefordert, andere Wege zu finden, die klinische Welt erlebbar zu machen“, sagt Pangratz. In dieselbe Kerbe schlägt auch Mag. Birgit Knipper, MSc, Leiterin der Aesculap Akademie und Clinical Training Specialist beim Medizinprodukteunternehmen B. Braun: „Es gibt Fortbildungen, bei denen Hands-on unerlässlich ist. Da werden wir zumindest immer eine Mischung aus Online- und Präsenztraining anbieten müssen.“

Sprung ins kalte Wasser

„Wir alle haben erlebt, dass bewährte Konzepte buchstäblich über Nacht neu überdacht werden mussten. Das betraf Veranstalter genauso wie Teilnehmer, Sprecher und Sponsoren“, erklärt Walter Voitl-Bliem, MBA, Geschäftsführer, Österreichische Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Langjährig etablierte und erfolgreiche Präsenzveranstaltungen mit entsprechendem Raum zum Netzwerken konnten aber nicht 1:1 online abgebildet werden. „Wir haben oft über diese Formate nachgedacht, aber der Druck, sie umzusetzen, war nicht da, weil die bewährten Veranstaltungen erfolgreich waren“, erzählen Voitl-Bliem und seine Kollegin, Christina Pritz, die für die Onconovum.academy eine Reihe von Fortbildungsveranstaltungen verantwortet.
Die beiden hatten Glück im Unglück: Mit Lisa Widhalm kam eine neue Kollegin an Bord, die das Online-Business als ihr Steckenpferd mitbrachte. „So sind wir rasch aus der anfänglichen Schockstarre in die Umsetzung gekommen. Dennoch müsste ich lügen, wenn ich nicht sagen würde, dass es enorme Zeit und Energie gekostet hat, diese neuen Wege zu gehen“, so Voitl-Bliem. Tools für Videokonferenzen waren aus Vorstandssitzungen bereits vorhanden, Software für Seminare wurde aufgestockt und die Lernkurve wuchs rasch. Unter der neuen Marke „OnCoLine“ werden Fortbildungen in strukturierter Form angeboten – ein Format, das sich rasch bewährt hat. Vieles davon konnte angesichts der Umsetzungsgeschwindigkeit gar nicht bis zum Ende gedacht werden. „Wir haben einfach angefangen, im Tun gelernt und schier endlose Feedback-Schleifen gedreht“, gibt Pritz Einblick. Sie ist froh, dass die großen Katastrophen zum Glück ausgeblieben sind, aber: „Am Ende des Weges sind wir noch lange nicht angekommen.“

 

Dos and Don’ts in der Umsetzung

Einig sind sich die Experten, dass Online-Events eine Reihe von Vorteilen bringen: Beruf und Freizeit lassen sich besser vereinbaren, hoher Reiseaufwand fällt weg und die zeitliche Flexibilität macht eine Teilnahme einfacher. Durch die Kombination von kostenlosen Angeboten und der Ano­nymität im Netz ist eine gewisse Hemmschwelle gefallen und aktuell ein massives Überangebot entstanden. Eine Marktbereinigung ist zu erwarten, denn unabhängig davon, ob Online-, Hybrid- oder Präsenzveranstaltung: Das Konzept muss passen. Wie viel Aufmerksamkeit für Inhalte dann tatsächlich online vorhanden ist, lässt sich schwer überprüfen. „Das ist aber auch vor Ort nicht anders“, sagt Kaser und Lobnig ergänzt: „Open Online-Kurse, in denen einer spricht und Tausende zuhören, haben auch ihren Platz, das ist wie eine Radiosendung. Das Engagement besteht im Zuhören. Es gibt aber auch noch die Ebene von Events, bei denen Reflexion und Diskussion gefragt sind. Dann muss man den Raum dazu aber auch bereitstellen.
Den großen Vorteil sieht Schmatz in der Reaktionsgeschwindigkeit: „Man kann schneller auf Themen reagieren, die Ärzte jetzt dringend benötigen. Bei den technischen Tools haben wir natürlich immer Luft nach oben, noch besser zu werden, aber ich denke, der Erfolg liegt in der unmittelbaren Reaktion auf die Bedürfnisse. Wir müssen das Ohr beim Anwender haben und genau hinhören, was gebraucht wird.
Die Kombination aus synchroner und asynchroner Form der Vermittlung ist Lobnig besonders wichtig: „Einen Teil arbeiten und interagieren wir in einem gemeinsam Raum, im anderen Teil stellen wir Unterlagen auf Plattformen und geben Zeit zum individuellen Arbeiten. Das ist ein guter Mix aus virtueller Präsenz und asynchroner Arbeitsmethode.“ Dennoch braucht die Umsetzung viel mehr inhaltliche Klarheit und Präzision sowie persönliches Engagement, als man dies aus Präsenzevents kennt. Eine PowerPoint-Präsentation und danach Fragen und Antworten reichen längst nicht aus, um Teilnehmer auch virtuell bei der Stange zu halten.
Das Veranstaltungsdesign ist auch für Prof. Dr. Robin Rumler, Präsident der Pharmig Academy, der entscheidende Erfolgsfaktor: „Wie fülle ich die Webinare mit Content und bringe eine Botschaft mit Mehrwert hinüber, sodass sich die Teilnehmer überhaupt einwählen und dann dabei bleiben? Sie müssen aktiviert, direkt angesprochen, informiert und zugleich unterhalten werden.“ Wie es gehen kann, hat er nicht nur in der Pharmig Academy gezeigt, sondern etwa auch mit dem neuen digitalen Diskussionsformat #WissenSchafftVorsprung von Pfizer. Als Marketingexperte setzt Rumler zudem auf klares Branding: „Der Titel muss Programm sein und es braucht die Magnetwirkung von echt guten Ideen. Die Latte für künftige Kongresse liegt schon jetzt hoch – niemand wird mehr lange Reisezeit auf sich nehmen, um in einem Seminarraum Frontalvorträge zu hören.“

Zurück zur Normalität

Die Online-Zukunft liegt für Kaser im Mi­crolearning: „Sowohl für die Veranstalter als auch für die Vortragenden besteht die Herausforderung darin, den Spannungsbogen zu gestalten und zu halten. Alles, was über zwei Stunden hinausgeht, belastet die Konzentration, und Chats ersetzen keine direkte Kommunikation.
Die wissenschaftliche Community lebt vom Netzwerken. Künftige Forschungskooperationen oder neue Ergebnisse werden oft informell auf Kongressen besprochen. „Ich denke, dass viele von uns schon ‚onlinemüde‘ sind und wir uns alle freuen, wenn die klassischen Jahrestagungen wiederkommen“, spricht Kaser wohl allen Experten aus der Seele. Nicht nur sie wünscht sich, dass wir in der zweiten Jahreshälfte 2021 zu einem halbwegs normalen Veranstaltungskalender übergehen können. Rumler ist überzeugt, dass Online-Veranstaltungen auch nach der Pandemie weiter bestehen bleiben werden, allerdings müsse – so wie auch bei Präsenzveranstaltungen – die ­Qualität ­stimmen: „Events der Zukunft müssen das Publikum einbinden und so gut konzipiert sein, dass man gar nicht darum herumkommt, dabei zu sein.“