Wie wichtig ist eine Geschichte? – Analyse der narrativen Strukturen ausgewählter Werbespots auf YouTube

Unternehmen sehen sich in den letz­ten Jahren mit einem sich stark verändernden Kommunikationsverhalten der Konsumenten konfrontiert. Insbesondere zwischen den Generationen lassen sich unterschiedliche kommunikative Verhal­tensweisen im Allgemeinen sowie in der Mediennutzung im Speziellen feststellen. Dies muss bei Unternehmen zu einem Um­denken hinsichtlich der Kommunikation führen. Ältere Generationen greifen weiter­hin auf klassische Kommunikationsträger wie das Fernsehen zurück, die hingegen für jüngere Generationen nahezu bedeutungs­los sind. Diesen Wechsel zu neuen Medien müssen Unternehmen in ihrer Kommunika­tionsplanung beachten. Bei Betrachtung der Nettowerbeeinnahmen verschiedener Medi­en wird dieser Wechsel bereits deutlich: On­line und Mobil nahmen 2014 den 4. Platz nach Fernsehen, Tageszeitungen und Anzei­genblättern ein (ZAW 2015, S. 9).
Dabei stellt sich die Frage, ob die Art und Weise der Kommunikation mit neueren Kommunikationsträgern auch automatisch anders sein muss. In diesem Zusammenhang werden oft die Schlagworte „Content Marke­ting“ und „Storytelling“ benutzt. In der Praxis zeigt sich meist ein sehr vielfältiges Begriffs­verständnis. Beiden Begrifflichkeiten ist ge­meinsam, dass der Inhalt der Botschaft im Mittelpunkt steht. Wobei sich die Frage stellt, ob der Inhalt der Werbebotschaft für dessen Erfolg auf neuen Medien grundsätzlich an­ders sein muss. Ist der Inhalt der Botschaft überhaupt für die Verbreitung des Videos re­levant? Und welche Rolle spielt die Art und Weise der Präsentation des Inhalts?
In diesem Beitrag werden die beiden erfolg­reichsten viralen Hits des Kommunikations­trägers YouTube vom September 2016 (Theobald 2016) genauer betrachtet. Die beiden Spitzen der YouTube-Webcharts werden mithilfe mediensemiotischer Analy­se auf ihre Bedeutung untersucht. Dabei wird aufgezeigt, dass für das Marketing er­folgreiches Storytelling im narrationstheore­tischen Sinne tatsächlich eine Erzählung vorführen kann, wie im Fall des Spots der Berliner Verkehrsbetriebe BVG „Alles Ab­sicht“ (BVG 2016), dies aber nicht muss. Der Spot „#PampersPapa“ des Windelher­stellers Procter & Gamble (2016) präsen­tiert keine konkrete Geschichte, sondern setzt auf eine bestimmte Welt, die für den Spot und dessen Aussage zentral ist.

Veränderte Kommunikationsbedingungen

Im Jahr 2016 nutzten 65% der Personen ab 14 Jahren das Internet zumindest gelegent­lich. Die Online-Nutzung in Deutschland nimmt kaum noch zu. Dabei fällt insbeson­dere auf, dass in der Gruppe der 14- bis 19-Jährigen dieser Wert bei 100% liegt und das Internet nahezu täglich genutzt wird. Im Wesentlichen gibt es in Deutschland noch ei­nen Zuwachs der Online-Nutzung der Perso­nen ab 40 Jahren aufwärts. Bei genauerer Be­trachtung der Nutzungsdauer werden die Generationsunterschiede noch deutlicher: Während 14- bis 19-Jährige auf 245 Minuten Internetnutzung pro Tag kommen, sind es bei Personen im Alter ab 50 Jahren nur 85 Minuten (ARD-ZDF-Onlinestudie 2016). In diesem Zusammenhang wird die jüngere Ge­neration auch häufig als Always-on-Generati­on bezeichnet (Köhler 2015). Dabei entfällt bei der jungen Generation die meiste Zeit – 122 Minuten pro Tag – auf Kommunikation über Facebook, WhatsApp oder andere Social-Media-Dienste. Weiterhin werden 86 Minuten pro Tag für die Mediennutzung auf­gewendet. Auch hier wird der Unterschied wieder besonders deutlich, wenn dieser Wert mit Personen im Alter von 50 bis 69 Jahren verglichen wird, wo er nur 15 Minuten be­trägt (ARD-ZDF-Onlinestudie 2016).

Junge Zielgruppe: Fernsehnutzung sinkt, Internetnutzung steigt
Neben der Nutzung des Internets für Kom­munikationszwecke findet demnach auch der Medienkonsum im Internet statt. Hier fällt auf, dass die junge Zielgruppe dabei zwar live oder zeitversetzt klassische Fern­sehsender im Internet schaut, dies jedoch nur 8 Minuten pro Tag, während andere Vi­deos im Internet gut 23 Minuten pro Tag konsumiert werden (ARD-ZDF-Onlinestudie 2016). Die klassische Nutzungsdauer des Fernsehens beträgt in der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen 118 Minuten pro Tag, während der Durchschnitt aller Zuschauer bei 223 Mi­nuten liegt (AGF 2016). Das macht deutlich, dass klassische Fernsehsender mit ihrem Pro­gramm an der Zielgruppe der jungen Zu­schauer vorbeiarbeiten und diese damit auch zeitversetzt nicht erreichen können. Für wer­betreibende Unternehmen wird deutlich, dass eine weitere Differenzierung der Kom­munikation und der Kommunikationsträger nach Zielgruppen stattfinden muss.

YouTube als Kommunikationskanal

Für die jüngere Generation ist der Kommu­nikationsträger YouTube von besonderem Interesse. YouTube selbst gibt an, mehr als eine Milliarde Nutzer weltweit zu haben (YouTube 2016), und gehört seit 2005 zu Google. YouTube veröffentlicht keine ge­nauen Nutzungszahlen für Deutschland. Daher werden nachfolgend weltweite Zah­len verwendet, die in Verbindung mit den bereits aufgezeigten Zahlen zu Deutschland die Veränderungen und das Potenzial deut­lich machen. Das Unternehmen gibt an, dass in einem durchschnittlichen Monat 8 von 10 Personen im Alter von 18 bis 49 Jah­ren Videos auf YouTube ansehen. Dabei wird weiter angemerkt, dass sich die Nut­zungsdauer der Personen, die YouTube über das Fernsehgerät schauen, über die letzten Jahre verdoppelt hat (Google 2016). Jede Minute werden auf YouTube weltweit 300 Stunden Videomaterial hochgeladen. Jeden Monat werden auf YouTube 3,25 Milliarden Stunden Videos geschaut und pro Tag mehr als eine Milliarde Videoviews registriert (Statistic Brain 2016). In Deutschland hat eine Umfrage 2015 ergeben, dass 60% der 10- bis 19-Jährigen YouTube täglich nutzen (Statista 2016).

YouTube-Nutzung für Unternehmen
Für die Kommunikation von Unternehmen bietet YouTube eine besondere Möglich­keit, eine junge Zielgruppe zu erreichen, ohne dabei in Konflikt mit der älteren Ziel­gruppe zu kommen. Dabei stellt sich je­doch die Frage, wie Unternehmen im Rah­men der Kommunikation YouTube nutzen können. Lammenett (2015) stellt hierzu fest, dass die erfolgreichen Werbefilme we­niger konventionelle, sondern vielmehr „witzige, erstaunliche oder sensationelle Kurzfilme“ (Lammenett 2015, S. 255) sind. Erfolgreiche Beispiele von Unternehmen gibt es viele, beispielsweise den Kurzfilm von Volvo Trucks, in dem Jean Claude von Damme einen Spagat auf zwei auseinan­derfahrenden Lkw macht. Dieser Spot wur­de bisher mehr als 84 Millionen aufgerufen (Volvo 2014). Gerade YouTube bietet sich für die schnelle Verbreitung von Werbefilmen an. Dies wird als „virales Marketing“ bezeichnet und führt aufgrund der Vernetzung der jungen Generation untereinander schnell dazu, dass bestimmte Videos hohe View-Zahlen in kurzer Zeit erreichen (Kreutzer 2014, S. 464; siehe hierzu auch De Bruyn/Lilien 2008).

Storytelling im Marketing
Der Begriff Storytelling fällt im Zusammen­hang mit Marketing, PR und Unterneh­menskommunikation inzwischen häufig (siehe z.B. Herbst 2014, – Serrano 2012; Frenze et al. 2006), obwohl das Geschich­tenerzählen zur Beeinflussung von Verhal­ten wohl keineswegs neu ist (Fuchs 2014). Storytelling wird hier verstanden als „Ge­schichten erzählen“ (Lampert/Wespe 2011, S. 9), wobei in diesem Beitrag die narrative Komponente des Storytellings im Mittel­punkt steht. Narrationen bestehen nicht nur aus einer dargestellten Welt und ihren Figu­ren, sondern zeichnen sich durch eine be­sondere ereignishafte Struktur aus (vgl. dazu „Erzählstrukturen in Werbefilmen“).

Geschichten vermitteln Markenwerte
Marken leben von gut erzählten Geschich­ten. Beispielsweise sind Mythen und die Tradition der Marke im Bereich der Luxus­marken ein wesentlicher Bestandteil der Marke. Weiterhin werden dem Konsumen­ten Markenwerte und andere bedeutende Bestandteile der Markenidentität über Sto­rys vermittelt (Lundqvist et al. 2013).
Dabei können gute Storys in der Kommunikation zum Beispiel dazu beitragen, dass positive Emotionen mit der Marke entstehen (Lundqvist et al. 2013). Durch Storytelling kann erreicht werden, dass Kunden positive Assoziationen mit einer Marke verbinden und bereit sind, mehr Geld für eine Marke auszugeben (Lundqvist et al. 2013). In der Marketingforschung finden sich ver­schiedene Arbeiten, die sich mit Storytelling auseinandersetzen und dabei verschiedene Richtungen untersuchen. Dabei kann zwi­schen Arbeiten zu Auswirkungen des Story­tellings (u.a. Chang 2009) und Arbeiten zum Inhalt des Storytellings (u.a. Woodside et al. 2008; Hsu et al. 2009) unterschieden werden. Bei diesen Untersuchungen stehen meist konsumentengetriebene Geschichten im Vordergrund.

Virales Marketing
Eine noch weitgehend unerforschte Mög­lichkeit des Storytellings besteht darin, das Internet und die Möglichkeiten der schnel­len Verbreitung von Inhalten für unterneh­mensgetriebene Werbefilme zu nutzen. Die­se Form wird als virales Marketing bezeichnet. Dabei werden Konsumenten selbstständig Verbreiter einer Botschaft und verteilen diese in ihrem Netzwerk (De Bruyn/Lilien 2008, S. 151). Gerade auf You­Tube besteht die Möglichkeit für virales Marketing, da Links zu den Videos ohne Probleme in den eigenen Netzwerken geteilt werden können. Bisher wurde nur wenig untersucht, ob unternehmensgetriebene Vi­deos auf YouTube erfolgreich Elemente des Storytellings anwenden. Erzählen diese Vi­deos Geschichten oder zeichnen sie sich durch andere Elemente aus?

Erzählstrukturen in Werbefilmen

Nicht jeder Text, verstanden als ein sich aus Zeichen konstituierendes Zeichen (Krah 2013, S. 24 f.), verfügt zwangsläufig über eine narrative Struktur. Auch wenn durch die Aufeinanderfolge von Bildern beim au­diovisuellen Medium Film ein chronologi­scher Verlauf gegeben ist und sich die Prä­sentation einer Geschichte dadurch anbietet, verzichten viele filmische Texte auf eine nar­rative Struktur und führen stattdessen (nur) eine Welt vor. Erzähltheoretisch kann auf die theoretischen Grundlagen Jurij Lotmans (1972) und deren Weiterentwicklung durch Renner (2004) und Krah (2013) zurückge­griffen und dahingehend unterschieden werden, dass Texte immer eine wie auch im­mer geartete Welt präsentieren – diese also aus den gegebenen Informationen zumin­dest abstrahierbar ist –, aber nur unter be­stimmten Bedingungen auch eine Narration darstellen.
Jurij Lotmans Definition von literarischen Texten als sekundäre, modellbildende Sys­teme (Lotman 1972) kann auch auf audiovi­suelle Formate angewendet werden und er­möglicht so eine umfassende Analyse auch von Werbespots. Demnach konstruiert sich jeder medial vermittelte Text (unabhängig davon, ob es sich um einen Roman, einen Werbefilm oder eine Twitter-Nachricht han­delt) als Zeichen aus Zeichen und modelliert seine eigene Wirklichkeit. Er bildet nie die Wirklichkeit ab, sondern konstruiert eine eigene. Er tut dies mit den jeweiligen Zei­chensystemen, die ihm durch das vermit­telnde Medium zur Verfügung stehen. Ein Film setzt sich beispielsweise aus akusti­schen und visuellen Zeichen zusammen, wobei diese noch in die Unterkategorien Geräusche/Ton, Sprache und Musik sowie Bild und Schrift aufzugliedern sind (Gräf 2014, S. 32).

Texte & Filme kreieren eigene Welten
Die Nachzeichnung des Modells von Welt eines Textes kann hilfreich sein, um sich dessen Gesamtbedeutung zu nähern. Denn die dargestellte Welt gibt Aufschluss über die textexterne Welt und lässt somit Rück­schlüsse auf die Kultur und die relevanten Normen, Werte und Diskurse zu. Eine Ana­lyse der narrativen Strategie eines Textes und damit auch die Frage danach, ob ein Text (nur) eine Welt oder eine konkrete Narration präsentiert, ist also essenziell, um zu verstehen, wie ein Text funktioniert und was er bedeutet. Das wiederum ist für um­fassende und teleologische Marketing- und Werbestrategien von Unternehmen relevant und sollte stärker bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Mediaplanung einfließen. Der strukturalen Narratologie folgend kann eine Minimalerzählung definiert wer­den als eine Zustandsveränderung über Zeit, wobei sich der Ausgangszustand und der Endzustand in mindestens einem Merkmal oppositionell gegenüberstehen. Eine Narration geht somit immer mit einer Transformation der protagonistischen Grö­ße (egal, ob männlich, weiblich, eine Gruppe etc.) einher (Titzmann 2013, S. 121 f.).
Die Unterteilung in Welt-Vorführung und Präsentation einer konkreten Narration wird im folgenden Kapitel anhand der Wer­bespots von BVG und Procter & Gamble verdeutlicht.

Analyse ausgewählter YouTube Werbevideos

Erzählstrategien am Beispiel der viralen Hits vom September 2016
Im September 2016 waren die Werbefilme „Alles Absicht“ (BVG 2016) und „#PampersPapa“ (Procter & Gamble 2016) die erfolg­reichsten Werbespots auf YouTube (Theobald 2016). Die beiden Kurzfilme unterscheiden sich nicht nur darin, was sie bewerben – bei Pampers geht es um das Produkt, bei der BVG um die Dienstleistung –, sondern auch darin, wie sie die Leistungen bewerben: Während die Strategie des Pampers-Spots darin besteht, eine Welt vorzuführen, nutzt die BVG eine konkrete narrative Struktur. Das oben skizzierte Modell auf der Grundla­ge Lotmans lässt sich auf die Texte anwenden und macht deutlich, dass sowohl das Konst­ruieren einer Welt (Procter & Gamble) als auch das Vorführen eines Ereignisses durch einen Grenzübertritt von einem zum anderen semantischen Raum innerhalb der Struktur der Welt (BVG) heutzutage angewendet wird und erfolgreich ist.
Beiden Werbefilmen ist ihr Bezug zur außer­textlichen Realität gemeinsam. Beide Texte setzen kulturelles Wissen über die Struktu­ren in Deutschland (Pampers) bzw. Berlin (BVG) im Jahr 2016 voraus. Sie sind Reakti­onen auf kulturelle Konzepte (Pampers) bzw. infrastrukturelle Probleme (BVG) und thematisieren damit aktuelle und in Deutschland allgegenwärtige Themen.

Pampers kreiert eine „Welt der Väter“
Pampers thematisiert die Beziehung zwischen Eltern und Kind, wobei die Vaterfigur als zen­trale Bezugsfigur zum Kind gesetzt wird. An­hand verschiedener Vater-Kind-Pärchen, die zeitweilig allein oder gemeinsam mit anderen Pärchen gezeigt werden, wird vorgeführt, wie diese beiden Familienmitglieder miteinander umgehen. Verschiedene Väter-Typen (blond, brünett, mit Cap, mit Goldkette etc.) küm­mern sich liebevoll um ihren Nachwuchs (Mädchen und Jungen), indem sie mit ihm spielen, ihn auf dem Arm haben oder win­deln. Hier wird ein Modell von Welt gezeich­net, in dem weibliche Figuren in der Elternge­neration keine Rolle spielen. Die Väter können die Aufgaben erfüllen, die ihnen in der Welt zukommen. Sie spielen mit den Kindern, zie­hen sie an, windeln sie, beruhigen sie und begleiten sie in den Schlaf. Alle Anforderun­gen von Kindern – abgesehen vom gefüttert Werden, was hier signifikant ausgelassen wird – werden in dem Modell von Welt von Vätern erfüllt. Dass es Frauen in der dargestellten Welt dennoch gibt, lässt sich nur durch den schriftlichen Einschub zu Beginn des Spots abstrahieren, wenn gefragt wird, warum Win­deln immer von Müttern erklärt werden. In einer vorhergehenden Einstellung sind schwarze, lange (vermeintliche Frauen-) Haare von hinten zu sehen (Abb. 1). An­schließend werden nur Männer mit Babys gezeigt und es wird deutlich, dass die Erwar­tungshaltung, die durch die Einstellung mit den langen, schwarzen Haaren etabliert wur­de, indem dieses äußerliche Merkmal kultu­rell dem Weiblichen zugeschrieben wird, be­wusst gebrochen wird (Abb. 2 und 3).
Anhand dieses Auszugs aus dem Spot wird dessen Gesamtstrategie deutlich. Die kulturell etablierte Annahme, die Procter & Gamble beispielsweise im Spot zu Pampers Ultra in den 1990er-Jahren stützte (Procter & Gamble, o. J.), die Frau sei der kompetente Ansprech­partner, wenn es um das Wickeln von Kin­dern ginge, wird als obsolet gesetzt. Auf Grundlage des oben skizzierten Modells der semantischen Räume lässt sich konstituieren, dass der Pampers-Spot gerade mit dem Mo­ment des Außergewöhnlichen funktioniert. Die vorgeführte textuelle Welt unterscheidet sich signifikant von der außertextuellen.

 

 

 

 

BVG: Kundenerwartungen als Mittel­punkt einer Geschichte
Im Gegensatz dazu führt der Spot der BVG nicht nur ein Modell von Welt vor, sondern arbeitet bewusst mit einer narrativen Strate­gie. Das zentrale Thema dieses Werbespots sind Erwartungen. Vorgeführt wird eine Welt mit zwei semantischen Räumen, die jeweils an eine Figur angelagert sind. Ein junger Fahrgast repräsentiert den Raum der Kunden, in dem die Elemente aufgrund ih­res finanziellen Aufwands Anspruch auf eine Serviceorientierung des anderen se­mantischen Raumes erheben können. Dem Raum des Anspruchs steht der Raum der Begegnung der Erwartung in Form des BVG-Servicecenters (örtlich) und des BVG-Servicemitarbeiters (personell) gegenüber. Der junge Kunde will ein Jahresabo ab­schließen und zeigt sich über den Preis ver­wundert. Daraufhin führt ihn der ältere Ser­vicemitarbeiter in einen Bereich, der dem Kunden normalerweise nicht zugänglich ist – mithilfe eines versteckten Knopfes öffnet sich eine Geheimtür. Dem Kunden wird vorgeführt, was ihm in der dargestellten Welt normalerweise nicht zugänglich ist: Er übertritt die Grenze in das Forschungslabor der BVG (Abb. 4).
Die dargestellte Welt ist durch eine Grenze getrennt, die den Raum der Kunden von dem der BVG abgrenzt. Das BVG-Zentrum stellt eine Zwischenstufe (einen Mittler- Raum) dar, da hier Elemente beider Räume aufeinandertreffen können. Allerdings ist der BVG-Mitarbeiter an seinen Raum ge­bunden (der Schreibtisch bildet eine Ab­grenzung zum Kunden), ebenso wie es dem Kunden normalerweise nicht erlaubt ist, Einblick in die Forschung zu erhalten (der Knopf zur Geheimtür ist versteckt).
Hinter der Geheimtür forscht die Transport­gesellschaft, wie sie ihren Service im Bereich der Verspätungen, der Kundeninformation, des Fahrstils und des Umgangs mit verspä­teten Kunden verbessern kann. Verbessern heißt: konkret auf die Erwartungen der Kunden reagieren. Der BVG-Servicemitar­beiter spricht davon, dass in dem Jahresabo alles enthalten sei, „was Sie von uns erwar­ten“. Die Kundenorientierung der BVG ist also besonders hoch, die Erwartungen, die die BVG von ihren Kunden identifiziert, werden erfüllt. An der Überraschung des Kunden ist abzulesen, dass in diesem se­mantischen Raum das Erfüllen von Erwar­tungen signifikant anders besetzt ist als in seinem Herkunftsraum.
Über die Erwartungen des Kunden erfährt der Zuschauer ansonsten nichts mehr. Dies ist nicht nötig, weil er als Standardkunde die Erwartungen des normalen Bürgers an seinen Verkehrsbetrieb hat. Und diese Erwartungen, so wird vom Spot gesetzt, stehen denen der BVG diametral entgegen. Aus dem Werbefilm lässt sich abstrahieren, dass der Kunde auf­grund des Preises eine Erwartungshaltung gegenüber der BVG einnehmen kann. Die BVG tut im Gegenzug alles – sie richtet sogar ein Forschungslabor ein –, um den Erwar­tungen gerecht zu werden. Der entscheiden­de Unterschied zwischen den beiden seman­tischen Räumen, jenem der Kunden und jenem der BVG, liegt in der Konkretisierung der Erwartungen.
Was der Spot der BVG nicht thematisiert, ist die Ereignistilgung. Der Grenzübertritt vom Kunden in den Raum der BVG (und in den Geheimraum des Labors) wird erzählt, nicht jedoch seine Entscheidung, ob er das Jah­resabo abschließen wird oder nicht. Die Entscheidung als solche ist jedoch auch nicht das, worauf das Storytelling des Spots abzielt. Es geht vielmehr um das Vorführen von Überraschung, die nicht nur beim Kun­den im Spot, sondern auch beim Zuschauer selbst liegt. Was er von seinem Verkehrsbe­trieb erwartet, wird mit den Stationen im Forschungslabor bewusst konterkariert. Der Zuschauer erwartet, dass der öffentliche Personennahverkehr auf die Anforderungen des Kunden (Pünktlichkeit, Information etc.) eingeht. Die thematischen Bereiche sind der BVG bewusst, nur eben die Erfül­lung des Bedarfes erfolgt entgegengesetzt.

 

 

 

BVG-Spot erschafft eigene Realität
Die BVG macht in ihrem Spot deutlich, dass sie genau weiß, in welchen Bereichen der Kunde Anforderungen stellt. Anhand einer konkreten Narration wird vorgeführt, dass Erwartungen des Dienstleisters und des Kunden divergieren, dass aber gerade das Erfüllen von Erwartungen das ist, was die Dienstleistung ausmacht. Obwohl sich der Spot an der textexternen Realität orientiert, zeichnet er eine ganz eigene Wirklichkeit, die in dieser Form außerhalb des Textes nicht besteht. Genau mit diesem Wissen funktioniert der Werbespot.
Im Pampers-Spot hingegen wird das Bre­chen von Erwartungen nicht an einem kon­kreten Protagonisten vorgeführt, sondern auf den Rezipienten in der textexternen Re­alität ausgelagert.
Die beiden Beispiele zeigen, dass Werbefil­me unterschiedliche narrative Strategien verfolgen können, um Bedeutungen zu eta­blieren, Aussagen zu treffen und damit er­folgreich zu sein. Sie führen als solche im­mer ein Modell von Welt vor und können – müssen aber nicht – eine konkrete Ge­schichte erzählen. Das verbindende Prinzip beider Spots ist das Abweichen von Erwar­tungen, von Gewohntem. Dadurch wird Aufmerksamkeit – neben Verständnis und Abspeicherung ein zentrales Ziel des Marke­tings (Karmasin 2007, S. 197) – generiert. Dies belegen auch die View-Zahlen beider Videos eindrücklich.

Erfolgskennzahlen der Videos

Die beiden analysierten Videos galten im September 2016 als virale Hits (Theobalt 2016). Dies basiert auf der hohen Anzahl an Views auf YouTube. Das Video der BVG wurde am 25.09.2016 auf YouTube online gestellt und bis zum 02.11.2016 mehr als 2,4 Millionen Mal aufgerufen. Das YouTube- Video „#PampersPapa“ wurde am 19.09.2016 auf YouTube hochgeladen und konnte bis zum 02.11.2016 mehr als 2,1 Millionen Aufrufe verzeichnen.
Als Erfolgskennzahlen auf YouTube gelten neben der Anzahl der Views auch weitere Aktionen, die die Betrachter ausführen – so beispielsweise die Möglichkeit, aktiv das Video zu kommentieren, zu bewerten oder den Link zu teilen (Kreutzer 2014, S. 443 f.; Lammenett 2015, S. 312 f.). Das Video der BVG wurde über 800 Mal kommentiert, wobei auch diese Kommentare erneut kommentiert wurden. Dabei wird die BVG selbst nicht aktiv, sondern überlässt den Usern die Kommunikation untereinander. Bei einer ersten Betrachtung der Kommen­tare wird überwiegend ein positives Feed­back deutlich. Vereinzelt finden sich auch negative Bemerkungen, die aber von den anderen Usern meist dementsprechend beantwortet werden. Gerade das Thema Nahverkehr lädt aufgrund der hohen An­zahl von Menschen, die den ÖPNV nutzen und damit Erfahrung haben, zu einer regen Diskussion ein.
Während die BVG Kommentare erlaubt, ist dies beim Video von „#PampersPapa“ nicht möglich. Die Interaktionsmöglichkeiten der Betrachter sind demnach sehr beschränkt und werden mit dem Hashtag, das bereits im Titel manifestiert wird, auf andere soziale Medien wie Instagram verlagert. Nicht nur in der Strategie des Storytellings selbst, son­dern auch in der Vermarktung liegen also zwischen den beiden erfolgreichen Spots Unterschiede. Pampers möchte eine me­dienübergreifende Diskussion kultureller Geschlechterrollenverteilung anregen, wäh­rend es der BVG nicht um einen Diskurs, sondern um direkte Kommentare zum Wer­bespot und die Anbindung des Users an den Kanal geht.
Die BVG kann mit dem viralen Hit auch eine hohe Zahl von neuen Abonnenten des YouTube-Kanals gewinnen. Während sich sonst pro Tag durchschnittlich 36 Abonnen­ten einschreiben, waren es bis drei Tage nach Veröffentlichung mehr als 1.000 neue Abonnenten. Die BVG hat auch bei Weitem mehr Abonnenten des YouTube-Kanals „Weil wir Dich lieben“ als Pampers Deutsch­land (14.981 vs. 5.911 Abonnenten; Socialblade 2016a, 2016b).
Im Rahmen der Erfolgsmessung taucht häu­fig auch die Frage nach ökonomischen Er­folgswirkungen auf. Können die Unterneh­men beispielsweise mehr Abonnenten verzeichnen, wie im Beispiel der BVG, oder mehr Windeln verkaufen, wie im Beispiel Pampers? Dazu muss angemerkt werden, dass die Autoren keinen Zugriff auf die Ge­schäftszahlen der Unternehmen haben. Fer­ner ist die Forderung nach einer direkten ökonomischen Auswirkung zu kurz gegrif­fen. Beide Videos wurden mit psychografi­schen Zielstellungen konzipiert und besit­zen langfristig eine Auswirkung auf ökonomische Ziele. Bei der BVG kommt er­schwerend hinzu, dass das Unternehmen lediglich regional operiert und daher im Ab­satzgebiet eingeschränkt ist. Gerade das Bei­spiel der BVG macht aber deutlich, dass durch dieses Video ein Imagewandel einge­leitet und das Bild des ÖPNV im Allgemei­nen bzw. der BVG im Speziellen verändert werden soll.

Fazit

Die Analyse der beiden Spots „#PampersPapa“ und „Alles Absicht“ der BVG hat gezeigt, dass ein viral erfolgreicher Werbefilm, der über den Kommunikationsträger YouTube verbreitet wird, nicht zwangsläufig Storytelling im wört­lichen Sinne betreiben muss. Ein erfolgreicher Spot kann eine narrative Struktur besitzen, also einen Transformationsprozess der prota­gonistischen Größe anhand eines Grenzüber­tritts zwischen zwei semantischen Räumen innerhalb der dargestellten Welt vorführen und so eine Geschichte erzählen. Allerdings kann er auch, wie der Pampers-Spot, bewusst (nur) eine Welt vorführen und keine Entwick­lung der Protagonisten zeigen. Diese werden auch vor keine Entscheidung gestellt (wie im BVG-Spot), es wird lediglich das Leben ver­schiedener Väter mit ihrem Nachwuchs und vor allem das Windeln dargestellt. Dieses Vor­führen einer bestimmten Welt ist funktional für die Aussage des Spots: Die Welt ist gar nicht so, wie bisher angenommen, denn nicht Frauen, sondern Männer sind für den Nach­wuchs zuständig. Der Erwartungsbruch wird nicht an einer konkreten Figur gezeigt, son­dern auf den Zuschauer ausgelagert.
Unabhängig von der Funktionsweise der Spots wäre es an dieser Stelle verfrüht, zu sagen, dass der YouTube-Hit mit der narrati­ven Struktur anhand einer ersten Erfolgskenn­zahlenauswertung erfolgreicher ist. Hier ist weitere Forschung notwendig. Beispielsweise stellt sich die Frage, ob der Konsument die narrative Struktur wahrnimmt oder ob er die Marke aufgrund der unterschiedlichen Struk­tur anders beurteilt, also ob die verschiedenen Arten der Präsentation von Inhalten eine un­terschiedliche Wirkung auf ihn haben.