Neue Therapien können nur nach transparent geplanten, seriös durchgeführten und entsprechend publizierten wissenschaftlichen Untersuchungen in der Medizin eingeführt werden und den Patient:innen zugutekommen. Damit ist klinische Forschung der zentrale Faktor für Innovationen. Dafür werden aber – speziell an beteiligten Kliniken und Krankenhäusern – Personal und Strukturen benötigt. Proband:innen müssen aufgeklärt und zur Teilnahme an solchen Untersuchungen motiviert werden. Dies alles ist eine komplexe Aufgabe, gewährleistet aber gleichzeitig die Zukunft der österreichischen Medizin, betonten die Expert:innen bei der Veranstaltung Ende Juni.
Dr. Jan Oliver Huber, Leiter des Gesundheitspolitischen Forums: „Investitionen in die klinische Forschung sind enorm wichtig. Ohne klinische Forschung gäbe es keine neuen medikamentösen Therapien. Klinische Forschung ist der Motor für den Fortschritt im Gesundheitssystem.“ Österreich stünde derzeit mit einer Forschungsquote von (insgesamt) 3,21% (2021) vom Bruttosozialprodukt im EU-Vergleich auf Rang 8 und damit im vorderen Drittel. Doch man dürfe den Bereich der klinischen Forschung nicht aus den Augen verlieren. Sprichwörtlich ist hier in Österreich noch deutlich „Luft nach oben“ vorhanden. Huber: „In Österreich laufen regelmäßig rund 500 klinische Prüfungen mit 5.000 bis 6.000 Patient:innen. Während in der EU die Zahl der klinischen Prüfungen stagniert, wächst sie in den USA und in Asien.“ Auf diesem Gebiet müsse die Awareness gestärkt, die Vorgaben in der EU müssten vereinheitlicht und leichter umsetzbar gemacht werden.
AbbVie als international forschendes Pharmaunternehmen hat nun ein „Grünbuch – Klinische Forschung in Österreich“ herausgegeben (siehe Kasten). Das Dokument soll auf bestehende Probleme aufmerksam machen und zur Umsetzung notwendiger Maßnahmen dienen. Für den rund 125 Seiten umfassenden Band wurden rund drei Dutzend österreichische Expert:innen – von Universitätskliniken bis zur Sozialversicherung und zu Patientenvertreter:innen – interviewt und die Kernaussagen festgehalten.
Mag. Ingo Raimon, General Manager AbbVie: „Die Medizin von gestern wird für die Herausforderungen von morgen nicht reichen. Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, dass in Österreich klinische Forschung stattfindet.“ Hier befinde man sich in einem unternehmensinternen internationalen Wettbewerb, in dem Projekte immer neu an Land gezogen werden müssten.
Seit mehr als 30 Jahren ist Univ.-Prof. Dr. Walter Reinisch, Universitätsklinik für Innere Medizin III, Klinische Abteilung für Gastroenterologie, MedUni Wien/AKH, in der klinischen Forschung zu chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen engagiert. Er kennt die internationale Szene und Entwicklung auf diesem Gebiet. Ohne Zweifel haben jedenfalls die Innovationen in seinem Spezialbereich, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, wissenschaftliche Projekte ermöglicht, gefördert und tiefgehende Verbesserungen in den Therapiemöglichkeiten gebracht. Das lässt sich auch an den Studienzahlen – zumindest bis einschließlich 2018 – ablesen. Reinisch: „1998 gab es international drei, vier klinische Studien, 2018 hingegen 84 Studien zu Colitis ulcerosa und 63 zu Morbus Crohn. Dieser Anstieg hat aber auch eine Rekrutierungskrise hervorgerufen.“ Noch vor der (COVID-19-)Krise sei man bei Morbus-Crohn-Studien nur auf 0,05 Patient:innen pro Monat und Zentrum für Studien gekommen.
Dabei gestalte sich die Studienlandschaft immer komplexer: Die Anzahl der in wissenschaftliche Untersuchungen aufgenommenen Endpunkte hätte sich in der jüngeren Vergangenheit stark erhöht, durch die immer genauere Auswahl der Proband:innen nach komplexen Charakteristika sinke der Anteil der nach dem Screening für eine etwaige Teilnahme dann wirklich in Studien aufgenommenen Patient:innen. Ein Beispiel, so der Experte: „Für eine Studie zur Colitis ulcerosa wurden 1.012 Patient:innen gescreent, 819 davon kamen für die Teilnahme letztendlich nicht infrage.“ Auf der anderen Seite würden bei den Patient:innen Bedenken wegen potenziell invasiver Monitoringverfahren, Placebokontrolle, Risiken der geprüften Medikation und hinsichtlich der Nachbetreuung bestehen. Und schließlich: Grundlagen- und translative Forschung würden derzeit primär gefördert, mit klinischer Forschung allein lasse sich eine Karriere nur bedingt machen.
In den Patientenvertretungen allerdings gibt es eindeutig die Forderung nach mehr Studien(beteiligung). Evelyn Groß, Präsidentin der Österreichischen Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Vereinigung (ÖMCCV): „Ich sehe die große Bedeutung für klinische Studien. Die Therapie ist zwar gut, aber es profitieren bei Weitem noch nicht alle davon. In Wien ist die Möglichkeit für die Beteiligung an einer klinischen Studie ja noch recht einfach. Aber außerhalb ist das schon anders. Die Strukturen müssen definitiv verbessert werden.“
Prim. Dr. Werner Saxinger, Vorstand Dermatologie am Klinikum Wels-Grieskirchen (OÖ) und ÖVP-Nationalratsabgeordneter: „Die klinische Forschung ist der Motor für den Fortschritt. In Zukunft wird es keinen klinischen Alltag ohne Forschung geben. Es muss eine Symbiose da sein.“ Auf der anderen Seite hätte Österreich – wie sich eben gerade bei COVID-19 gezeigt hätte – durchaus ein Problem mit der Akzeptanz von Wissenschaft und Forschung in der Bevölkerung. Latente Skepsis habe sich diesbezüglich manifestiert. Man sollte aber auch darauf hinweisen, dass häufig nur eine kleine Gruppe „sehr viel Trara“ mache und damit auffalle.
Der stellvertretende Leiter der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft, Mag. Michael Prunbauer, verwies auf einen möglichen Zusammenhang der Wissenschaftsskepsis mit einem anderen Faktum: „Die Gesundheitskompetenz in der österreichischen Bevölkerung ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ gering.“ Für Aufklärung würden aber auch Zeitressourcen benötigt, die oft nicht vorhanden wären. In Zeiten von COVID-19 sei jedenfalls eine gewisse Skepsis gegenüber der Wissenschaft wahrnehmbar geworden, auch begünstigt durch pseudowissenschaftliche Strömungen in den Gesundheitsberufen.