Eine Diskussion über Patente auf Corona-Impfstoffe ist entbrannt. Die USA preschen vor und wollen den Patentschutz befristet aufheben. Damit sollen ärmere Länder rasch geimpft und Mutationen verhindert werden. Die EU kann sich vorstellen, mitzugehen. Gleichzeitig kocht in Europa eine Diskussion über die Höhe der Preise auf.
Die Hersteller von Corona-Impfstoffen sind zur Wochenmitte in politischen Debatten massiv unter Druck gekommen und Aktienkurse brachen deutlich ein. Kern der Debatten: die Impfstoffpreise und die Patente. Die EU-Kommission musste argumentieren, warum für den Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer künftig ein höherer Preis gezahlt werden soll. Die Zeitung „Welt“ hatte unter Berufung auf ein Schreiben des deutschen Finanzministeriums berichtet, dass die EU-Kommission für 900 Millionen Corona-Impfdosen der zweiten Generation einen deutlichen Preisaufschlag zahlen werde. Demnach verpflichtet sich Deutschland, statt der bisher abgerechneten 15,50 Euro pro Dosis einen Preis von 23,20 Euro pro Dosis zu zahlen. Die EU-Kommission wollte sich zu den Preisangaben nicht äußern, räumt aber ein: Der geplante nächste Vertrag unterscheide sich signifikant von den ersten beiden, hieß es am Mittwochabend aus Behördenkreisen. So gebe es beispielsweise strengere Liefervereinbarungen, andere Haftungsregeln und Vereinbarungen zur Anpassung des Impfstoffes an neue Coronavirus-Varianten. Außerdem gestalte sich der Preis je Dosis auch anders, weil die EU künftig kein Geld mehr für Produktionsförderung zahle.
Die Debatte war noch nicht vorbei, kam Donnerstagfrüh eine Nachricht aus den USA, die Industrie und Investoren schockte: Für den Kampf zur weltweiten Eindämmung der Pandemie unterstützt die US-Regierung die Aussetzung von Patenten für die Corona-Impfstoffe. Die USA stünden hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, erklärte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai. Das Ziel sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen“, sagte Tai. Angesichts der hohen Infektionszahlen in Indien und von dort ausgehenden neuen Mutationen, macht sich ein Gedanke in den USA breit: „No one is safe, until everybody is safe“. Experten hatten zuletzt davor gewarnt, dass beim aktuellen Tempo vor allem Afrika und Teile Südostasiens erst 2023 durchgeimpft sein könnten. Die USA fürchten nun ständig neue Gefährdungen durch Mutationen.
Der Vorstoß: Die USA werden sich im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) für die Erstellung eines entsprechenden Abkommens einsetzen. Wegen des Konsensprinzips der WTO und der Komplexität der Materie könnte dies aber zeitaufwendig werden, warnte Tai. Den USA kommt bei den Verhandlungen als weltgrößte Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle zu. Zudem hält die US-Regierung über das Forschungsinstitut NIH die Rechte an einer Erfindung, die als Voraussetzung der modernen mRNA-Impfstoffe der Hersteller Moderna und Biontech/Pfizer gilt. Mehr als 100 WTO-Mitgliedsländer wollen bisher bereits die Patente für die Impfstoffe aussetzen, damit mehr Firmen in mehr Staaten Impfstoffe herstellen können. Ärmere Staaten werfen den Industrieländern vor, die vorhandene Impfstoffproduktion aufgekauft zu haben und eine Erhöhung der Produktion durch den Schutz der Patente unmöglich zu machen. Die Handelsbeauftragte Tai erklärte, die US-Regierung werde sich nun, da die Versorgung der eigenen Bevölkerung garantiert sei, weiter in Zusammenarbeit mit den Unternehmen dafür einsetzen, die Produktion anzukurbeln.
Die Position der USA ist ein Dammbruch: Die Pharmafirmen laufen Sturm, die EU zeigte sich offen für eine Debatte über Impfstoff-Patente. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht.“ Man müsse sehen, wie der US-Vorschlag diesem Ziel dienen könne. Es soll auch Thema des EU-Gipfels in Porto sein. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) schloss sich den Aussagen der Kommissionschefin an. „Wir unterstützen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und sind offen für Gespräche sowie den WTO-Prozess, den die Amerikaner vorschlagen. Es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich weltweit so rasch wie möglich geimpft werden, um die Pandemie zu besiegen“, hieß es am Donnerstag dazu aus dem Bundeskanzleramt. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerte sich positiv zur Forderung der USA. Er sagte am Donnerstag in Paris, er sei „absolut dafür, dass das geistige Eigentum aufgehoben wird“. Deutschland zeigte sich uneinig. Außenminister Heiko Maas war offen für den Vorschlag, Gesundheitsminister Jens Spahn bremste. „Entscheidend ist vor allem der weitere Ausbau von Produktionsstätten“, teilte Spahn am Donnerstag mit. Russland ist der Idee nicht abgeneigt. Sie verdiene Beachtung, sagte Präsident Wladimir Putin der Agentur Interfax zufolge. „Eine Pandemie ist ein Notfall.“
Der Verband der US-Pharmaunternehmen (PhRMA) warnte, dass es ohne Patente zur Verbreitung gepanschter Impfungen führen könne. Und der Verband der US-Biotech-Industrie (Bio) sieht zudem die Gefahr, dass andere Länder die führende US-Rolle in der Biotechnologie untergraben könnten. Eine Sprecherin von Pfizer sagte der „New York Times“, der Impfstoff habe 280 Komponenten von 86 Zulieferern aus 19 Ländern. Um das zu verarbeiten, seien komplexe Spezialanlagen und ausgebildetes Personal notwendig. In die Kerbe schlägt auch der Generaldirektor des Pharmaverbandes IMFPA, Thomas Cueni. Alles sei viel zu kompliziert: „Selbst, wenn die Patente ausgesetzt würden, würde in dieser Pandemie keine einzige zusätzliche Dosis die Menschen erreichen.“ Der Verband der österreichischen Impfstoffhersteller (ÖVIH) betonte: Die Produktion von Impfstoffen ist ein äußert komplexer Prozess, zu dem wesentlich mehr gehöre als das Patent auf den jeweiligen Impfstoff. „Die größten Herausforderungen für die weltweite Impfstoffproduktion und -verteilung sind der zeitgleiche weltweite Bedarf gepaart mit Handelsbeschränkungen, Flaschenhälsen in den Lieferketten und knappe Rohmaterialien. Nicht die Patente“, erläuterte ÖVIH-Präsidentin Renée Gallo-Daniel. Ähnlich äußerte sich auch die Pharmig, die freiwillige Interessenvertretung der österreichischen Pharmaindustrie. (red/Agenturen)