Edgar Martin, oberster Personalvertreter im Wiener Gesundheitsverbund, erklärt im RELATUS-Sommergespräch, was wirklich hinter „Gefährdungsanzeigen“ steckt.
Stimmt es, dass derzeit 13 Prozent des Pflegepersonals in den Wiener Spitälern fehlen? Aktuell fehlen um die 8,6 Prozent beim Pflegepersonal in den Spitälern des Wiener Gesundheitsverbundes. Aber nicht nur dort, sondern damit leider auch in der geriatrischen Versorgung sprich den Pflegewohnhäusern. Und leider nicht nur in der Pflege, sondern auch in anderen Berufen, die für die Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig sind und die, wenn sie fehlen, auch Auswirkungen auf Arbeit der Pflege haben. Stationssekretär:in, Service- und Versorgungsassistenz wären solche Berufe. Aber auch im Feld der MTDG und Medizinischen Assistenzberufen.
Wissen Sie, wie viele Gefährdungsanzeigen es derzeit in Wien oder ganz Österreich gibt? Ich kann nur für den Wiener Gesundheitsverbund reden, da sind es zwischen 40 bis 50. Da sie der rechtlichen Absicherung und dem Anzeigen von Gefahrenpotentialen dienen, kommen auch noch laufende dazu. Also überall wo Ressourcen knapper werden. Wie sich das in anderen Bundesländern oder bei anderen Trägern darstellt, kann ich nicht sagen. Wir arbeiten hier schon seit dem Jahr 2000 mit diesem Instrument und haben es ausgebaut, etabliert. Es ist daher auch eine Frage, wie sehr dieses Instrument in anderen Betrieben zum Einsatz kommt.
Was muss vor dem Herbst passieren, damit es zu keiner Katastrophe kommt? Was wäre aus Ihrer Sicht die Katastrophe? Die kann doch nur sein, dass es Bereiche gibt, in der eine Versorgung nicht mehr sichergestellt ist. Hier bin ich der falsche Ansprechpartner. Am Montag verlautbarte der Wiener Gesundheitsverbund, dass die Versorgung sichergestellt ist. Beispiel Unfallchirurgie Ottakring: hier ist eine Station von drei Stationen gesperrt, die beiden anderen haben Betrieb und es gibt noch andere Häuser mit unfallchirurgischen Abteilungen. Eine akute Maßnahme bei Gefährdungsanzeigen ist eben eine Bettensperre zur Schadensabwehr für Personal aber auch für Patient:nnen, um Leistungen zu bündeln. Meine Aufgabe ist es, auf das Personal zu achten. Wie sich die Maßnahmen auf die Versorgung auswirken, müssen Unternehmensleitung und Medizinischer Bereich beantworten. Wir sagen gemeinsam mit dem Personal was Ressourcenmangel bewirkt und wo es zu Gefahrenpotentialen kommt. Wir müssen dies auch vor dem Eintreten von Schäden tun.
Was ist der konkrete Sinn dieser Gefährdungsanzeigen? Ich erkläre es immer mit einem Flugzeug: der Pilot muss noch auf dem Boden sagen, dieses Flugzeug fliege ich aus dem und dem Grund nicht. Im Sturzflug, kurz vor Aufprall, oder nach Absturz als vielleicht glücklich Überlebender zu sagen, „wir hätten nicht fliegen dürfen“ ist zu spät. Daher Gefährdungsanzeigen. Das sind keine Schadensprotokolle. Und sie werden im Instanzenweg der Dienstgeberin nähergebracht. Das Aussenden an die Öffentlichkeit ist der letzte Schritt in einem Prozess. Das kann notwendig sein, wenn es keine Maßnahmen gibt oder die gesetzten nicht greifen. Bei den aktuell bekannten ist hier die Kinder und Jugendpsychiatrie sicher zu nennen – die Probleme hier sind multifaktoriell und da kann das Unternehmen eigenständig keine Lösungen anbieten. Da geht es um Jugendwohlfahrt gesamt, die Frage des extramuralen Ausbaus. Hier macht es also Sinn, die Fragen öffentlich zu stellen. Klar ist auch, dass bei diesen Meldungen die Werbewirksamkeit eines Unternehmens für neues Personal sinkt.
In deutschen Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen wurde zehn Wochen lang gestreikt – ist so etwas auch in Österreich denkbar? Zu einem Zeitpunkt, in dem die Versorgung schon als kritisch angesehen wird, in der Betten gesperrt sind und alle Bereiche vor ähnlichen Herausforderungen stehen – gleichzeitig das Thema aber in der Öffentlichkeit gesetzt ist müssen wir nicht unmittelbar zu diesem Instrument greifen. Wir würden damit ja die aktuelle Situation verschärfen. Mehr aufzeigen als in der aktuellen Situation ist unserer Meinung nach nicht möglich und auch nicht nötig. In Deutschland ging es auch unter anderem um Punkte wie eine Personalbedarfsberechnung – hier sind wir in Wien in der glücklichen Lage über ein derartiges Instrument zu verfügen, es bedarf allerdings einer Evaluierung, da kognitive Beeinträchtigungen, mehrere Diagnosen gleichzeitig etc. zunehmen. Die Berechnungen sind also nicht mehr zeitgemäß. In Deutschland muss oft gestreikt werden, um überhaupt an den Verhandlungstisch zu kommen. Hier sitzen wir am Verhandlungstisch. Es gibt nur mehrere Ebenen, die agieren müssen: Unternehmen, Land, Bund. Wir haben als Zusammenschluss aller zuständigen Fachgewerkschaften, Ärztekammer, Arbeiterkammer und ÖGB in der „Offensive Gesundheit“ auf die Problemstellung bereits vor einer Pandemie aufmerksam gemacht und hatten mehrere öffentlichkeitswirksame Aktionen.
Mit welchen Ergebnis? Es gab eine parlamentarische Bürgerinitiative mit „Achtung Gesundheit! Es ist 5 nach 12“ mit 85.000 Unterschriften, mehrere walkout in diversen Dienststellen von Wien bis Vorarlberg, eine Großdemonstration mit über 10.000 Menschen alleine in Wien. Als Folge wurden eine Pflegereform verlautbart, Gelder zugesagt, Geld für Ausbildung zur Verfügung gestellt. Also wir haben hier auch österreichweit Erfolge erzielt. Das sind jedoch nur erste Schritte. In Linz wurde auch in Form einer Dienststellenversammlung gestreikt. (Das Interview führte Katrin Grabner)