Was ist die Ursache dafür, dass der Corona-Musterschüler Österreich aus dem Frühjahr plötzlich die höchsten Infektionszahlen weltweit aufweist und die Intensivkapazitäten fast kippen? Ein Rückblick und ein Ausblick.
Mit ganzseitigen Inseraten haben am Samstag Möbelhäuser und Schuhhändler noch einmal die Konsumentenmassen mobilisiert, um gute Geschäfte vor dem nächsten Lockdown zu machen. „Vor der Wahl, auf unserer Winterware sitzen zu bleiben oder damit Menschen noch eine Freude vor dem nächsten Lockdown zu machen, haben wir uns für Letzeres entschieden“, verteidigte sich eine große Schuhhandelskette. Auch in Einkaufszentren herrschte Hochbetrieb. Das weckt Erinnerungen an das Wochenende vor der Verschärfung der Corona-Maßnahmen Anfang November als Menschenmassen die Eröffnung eines Möbelhauses in Oberösterreich stürmten. Ob das mitgeholfen hat, dass die Infektionszahlen in Oberösterreich in den vergangenen Tagen besonders hoch lagen, wird man wohl nicht mit Sicherheit sagen können.
Hochbetrieb herrscht aber letztlich dank des derartigen Shoppingwahns auch in den Krankenhäusern. „Die Lage ist sehr, sehr ernst. Viele in den Spitälern sind bald am Ende ihrer Kräfte und am Ende in den Kapazitäten“, sagte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) am Samstag. Oberstes Ziel der Regierung bleibt, die Spitäler davor zu bewahren, Patienten triagieren zu müssen. Die Opposition macht indes die Regierung für die Situation verantwortlich, weil man nach dem Frühjahr verabsäumt habe, entsprechende Vorsorgemaßnahmen zu treffen. „Das Virus ist jetzt so breit in allen Settings und Bevölkerungsgruppen drinnen, dass man auch in jedem Bereich nachschärfen musste“, erklärte jedenfalls Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) der Medizinischen Universität Wien.
Tatsächlich scheint es, als hätten ab dem Sommer viele die Situation nicht mehr ernst genommen. Man glaubte das Schlimmste hinter sich zu haben und wollte sich einen Sommer wie vor Corona nicht nehmen lassen. Und der Kanzler – so scheint es – wollte mit Blick auf die Umfragen und den wirtschaftlich wichtigen Tourismus den Menschen diese Hoffnung auch nicht vermiesen. Die Länder und Gemeinden wiederum hofften, dass man nicht zusätzliche Test- und Tracing-Kapazitäten vorhalten oder gar hochfahren muss. Bezeichnend dazu ein Posting des Grünen Gesundheitssprechers Ralph Schallmeiner vom Sonntag, in dem er davon berichtete, dass in einer oberösterreichischen Stadt deshalb kein zusätzliches Personal eingestellt worden sein, weil man sich das Geld dafür sparen wollte. Ähnliches hört man übrigens auch aus andere Kommunen. Grünen-Chef und Vizekanzler Werner Kogler hat am Samstag offen die Bundesländer gerügt. Er warf einzelnen Ländern eine mangelnde Vorbereitung auf die zweite Welle vor. Die Länder hätten überhaupt nicht vorgesorgt, Möglichkeiten parat zu haben, wenn es wie zuletzt zu einer dynamischen Entwicklung bei den Zahlen kommt.
Kann sein, dass die Grünen nun versuchen den Ball vom Gesundheitsminister weg zu spielen und diesen zu entlasten. Es kann aber auch sein, dass sie recht haben. Wenn dem so ist, haben wir tatsächlich ein „politisches Problem mit einem falsch verstandenen Föderalismus“, wie es Kogler formulierte. Klar ist jedenfalls, dass das Gesundheitswesen in Österreich vor allem von den Ländern und Kommunen gesteuert wird – erinnern wir uns nur an die jahrzehntelange Debatte über eine gemeinsame Finanzierung aus einer Hand. Ob das neuerliche Herunterfahren Österreichs nun auch längerfristig seinen Zweck erfüllt, „kommt auf die Folgestrategie an“, sagt jedenfalls Experte Klimek. Hier brauche es deutliche Verbesserungen, damit nicht nach dem Weihnachtgeschäft mit vollen Einkaufszentren und Familientreffen in der Folge wieder ein dritter Lockdown unter dem Christbaum liegt. Deswegen sei es so entscheidend, dass „wir diese Zeit jetzt nutzen, um sinnvolle Präventionskonzepte auf die Beine zu stellen. Sonst fallen wir wieder auf das zurück, was das Einzige war, das im März und auch jetzt funktioniert hat – nämlich den neuerlichen harten Lockdown“, sagte Klimek.
Die politische Debatte und der Shoppingwahn vor dem Lockdown haben jedenfalls eines gemeinsam: Es geht allen nach wie vor zuerst ums eigene Wohl. Unser größter Feind sei nicht ein gefährliches Virus, sondern unser eigenes Ego, sagt der Psychologe Thomas Müller am Sonntag in einem Interview mit der „Presse“: „Wir wollen wichtig sein – und in diesem Gedankenmaxim verstehen wir alles als Bedrohung, was unsere eigene Bedeutung schmälern könnte.“ Wenn er recht hat, dürfte das passieren, wovor Komplexitätsforscher Klimek warnt: ein dritter Lockdown nach Weihnachten. (rüm)