„Menschen haben Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen verloren“

© Privat

Immer mehr Menschen beziehen Gesundheitsinformationen aus dem Internet und aus sozialen Medien. Welche Folgen das hat, sagt Sara Rubinelli, Professorin der International Association for Communication in Healthcare.

Sie sind Professorin für Gesundheitswissenschaften mit Schwerpunkt Gesundheitskommunikation an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität Luzern und forschen zu Gesundheitskommunikation– wie stark beeinflusst das Internet die Gesundheitskompetenz der Menschen? Es gibt eine Demokratisierung der Gesundheitsinformationen, aber wir müssen die Menschen in ihrer Gesundheitskompetenz und ihrer wissenschaftlichen Kompetenz unterstützen und stärken. Wenn ich an die COVID-Pandemie denke, mussten die Menschen wissenschaftliche Studien verstehen und nachvollziehen können, was passierte. Allerdings sind das Dinge für deren Erlernen Studierende in den entsprechenden Fachgebieten normalerweise Jahre brauchen. Wir stehen also für die Zukunft vor der Herausforderung, eine Unterstützung für kritisches Denken schaffen, damit Patient:innen Gesundheitsinformationen autonom beurteilen können und tatsächlich entscheiden können, was gute und was schlechte Informationen sind. Es gibt heute im Gesundheitswesen viele technische Informationen, und es ist nicht einfach zu beurteilen, was gute Informationen sind. Manchmal ist es sogar für die Expert:innen schwierig.

Wie soll das funktionieren? Ich kann den Menschen nicht sagen, was sie tun sollen, aber wir können Ratschläge geben und zeigen, wie sie gegen irreführende Informationen vorgehen. Aus diesem Grund müssen wir die kritische und wissenschaftliche Kompetenz stärken. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Leute verstehen, was sagen wir, wenn wir ‚evidenzbasiert‘ sagen. Die Menschen müssen verstehen, dass, wenn es starke Evidenz gibt, dahinter eine starke Methodik steckt und dies im Vergleich zu einer Behauptung steht, die oft ohne jegliche Beweise auskommt. Manchmal haben Menschen, die keine entsprechend fachliche Ausbildung hatten, während der Pandemie Behauptungen aufgestellt. Sie waren überzeugend, weil diese Leute wissen, wie man redet. Aber es ist nicht evidenzbasiert, weil es auf einer Sichtweise basiert, die beispielsweise nicht mit einer großen quantitativen Studie verglichen wird. Wenn ich über den gesamten Bereich der Impfstoffe nachdenke, gab es enorm viele Desinformationen. Die große Herausforderung der Zukunft ist, dass Institutionen die Menschen informieren, schulen und befähigen müssen, um autonom entscheiden zu können sein. Ich bin mir bewusst, dass manche Menschen die Idee, von Institutionen unterrichtet zu werden, nicht mögen. Aber um eine gute Autonomie bei der Entscheidungsfindung im Gesundheitsbereich zu entwickeln, müssen wir eine Menge lernen.

Wie beurteilen Sie die Entwicklungen während der Pandemie? Während der Pandemie gab es nicht nur wissenschaftliche Standpunkte, sondern eine Mischung aus wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Standpunkten. Zu Beginn wusste niemand etwas über COVID. Was war es? Wie behandelt man es? Wir verließen uns also auf die Vergangenheit und das Wissen über den Umgang mit Pandemien, aber wir brauchten Wissenschaftler:innen, die Zeit brauchten um das Virus und die Erkrankung zu verstehen. In dieser Zeit herrschte aber ein Informationsvakuum, das die Menschen nur schwer akzeptieren können, weil sie sofort Antworten haben wollten. Wenn es eine Pandemie gibt, ist das problematisch, weil Menschen sterben, aber man hat keine unmittelbare Lösung, was zu tun ist, weil man das Virus studieren muss, studieren muss, was zu tun ist, und die Reaktion studieren muss, und das braucht Zeit. Den Menschen fehlt aber das Wissen über den wissenschaftlichen Prozess. Die Folge war, dass viele Menschen während der COVID-Krise das Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen verloren haben, weil sie sagten: ‚Oh, das ist verwirrend.‘ Fortschritte werden aber durch die Interaktion von Wissenschaftler:innen erzielt.

Sollen dann Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen wie es manche getan haben, Soziale Medien nutzen? Und wie sollen sie künftig damit umgehen? Erstens glaube ich nicht, dass das jeder tun sollte, aber alle sollten sich darüber im Klaren sein, dass dies ein wichtiger Kommunikationskanal ist. Um soziale Medien zu nutzen, muss man lernen, wie man es macht, und man muss irgendwann einen anderen Kommunikationsstil erlernen und der ist anders als in der persönlichen Beratung. Das gilt auch für WhatsApp weil viele Dinge nicht über WhatsApp kommuniziert werden können. Für mich unterstützen diese Tools, aber sie können nicht alles ersetzen – die persönliche Beziehung zum physischen Menschen ist absolut wichtig.

Welche Rolle kann hier Künstliche Intelligenz spielen? Ich bin zu 100 Prozent davon überzeugt, dass künstliche Intelligenz keinen Ersatz für ein ärztliches Gespräch bieten kann. Der menschliche Aspekt, der persönliche Eindruck und die Empathie, die seit jeher die Beziehung zwischen Arzt und Patient prägen, sind gerade in Gesundheitsfragen enorm wichtig. Es gibt viel zu lernen, um zu verstehen, wie wir künstliche Intelligenz nutzen können, damit sie wirklich Unterstützung leisten kann. Empathie war eines der ersten Themen, die auf diesem Gebiet untersucht wurden. Wir sind Menschen und wir haben Menschen mit Gesundheitsproblemen, die viele Fragen, Ängste und Unsicherheit haben. Schmerzen lindern ist aber etwas, das künstliche Intelligenz derzeit nicht kann.

Allerdings setzen etwa Krankenversicherungen KI zunehmend ein. Wie beurteilen Sie das? Ich sehe, dass sie es immer häufiger nutzen, aber im Moment liegt die Grenze darin, dass die Informationen nicht vollständig vertrauenswürdig sind. Es kann für eine ganz einfache Sache hilfreich sein, wenn Sie fragen: „Wie viele Kalorien haben 100 Gramm Nudeln?“ Ich könnte mir vorstellen, mit ausgewählten Datenbanken künstliche Intelligenz aufzubauen. Dann wären die Antworten auf eine spezielle Sache gerichtet. Ich denke, dass es noch viel zu tun gibt, um zu verstehen, wie künstliche Intelligenz optimal eingesetzt werden kann. Jetzt sehe ich die Möglichkeit, dass das bei meinen kleineren Fragen behilflich sein kann. Wir sehen aber, dass viele medizinische Ratschläge der KI nicht überall zu 100 Prozent einheitlich sind. Es hängt auch sehr stark von Land zu Land ab. Wenn aber künstliche Intelligenz mittlerweile zum Vergleich der Diagnosen von Patient:innen eingesetzt wird, um Millionen von Fällen zu untersuchen, macht es Sinn. Für Ärzt:innen kann es ein sehr wichtiges Diagnoseinstrument sein. Ich bin also eine große Befürworterin von künstlicher Intelligenz in allen Bereichen, in denen sie unterstützend eingesetzt wird. Aber nicht als Ersatz für menschliche, empathische Kommunikation.

Wie wichtig ist generell die Arzt-Patienten-Kommunikation? In den vergangenen Jahren wurde unter Gesundheitskommunikation immer die Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen verstanden, aber es gibt immer mehr Gründe, warum es wichtig ist. Kommunikation ist Teil der Behandlung. Heute ist ganz klar, dass die Art und Weise, wie Ärzt:innen sprechen, großen Einfluss darauf hat, wie Patient:innen es verstehen und sich darüber dann auch an das Gesagte halten. Das sieht man vor allem bei chronischen Krankheiten wie Diabetes, Rückenschmerzen oder wenn es um onkologische Erkrankungen geht, bei denen die Kommunikation so wichtig ist. Gesundheitsberufe müssen Patient:innen helfen, eine Situation zu verstehen, gerade bei Behandlungen, die nicht einfach anzunehmen und komplex sind, wie eine Chemotherapie. Wenn jemand mit der Chemotherapie beginnt, muss man über die Nebenwirkungen und alles aufgeklärt werden, und zwar so, dass jemand und auch die Familie das verstehen. Auch die Art und Weise, wie eine Diagnose und auch dem umgebenden Bereich eine plötzliche schlechte Nachricht – wie etwa, dass jemand Krebs hat – gestellt wird, ist keine einfache Sache. Dazu kommen viele – zum Teil schlechte – Informationen, die im Internet leicht zugänglich sind. Das Risiko ist groß, dass das Dinge sind, die mit dem, was der Arzt sagt in Konkurrenz stehen. Das kann großen Schaden anrichten – für die Patientenkommunikation aber auch für Patient:innen selbst.

Wie hat sich Kommunikation verändert? Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war vor Jahren noch sehr paternalistisch. Der Arzt brauchte sich nicht groß um Kommunikation zu bemühen, da der Patient dem Arzt vertraute. Jetzt ist es komplizierter und problematischer. Möglicherweise haben Ärzt:innen noch den Eindruck, dass ihnen Patient:innen zuhören. In der Arztpraxis akzeptieren sie alles. Viele von ihnen nehmen aber gerne eine aktive Rolle ein, insbesondere weil sie am Ende des Tages entscheiden müssen, was sie tun möchten. Sie müssen also die Informationen auswerten und eine Entscheidung treffen. Und das kann eine Herausforderung sein, wenn es sich bei einigen Therapien um ein komplexes Gebiet handelt das sehr schwierig zu übersetzen sein kann. Es gibt dann so viele andere Informationen im Internet und jeder kann auf Wikipedia nachschauen und denkt sich dann, dass er mehr weiß als er tatsächlich weiß. Es ist ganz natürlich, dass man nach alternativen Erklärungen sucht, wenn etwas passiert, wie zum Beispiel eine schwierige Diagnose. Aber heute kann die Suche nach Alternativen gefährlich sein.

Welche Empfehlungen geben Sie Gesundheitsberufen für die Kommunikation? Es geht darum, nicht nur einen Kommunikationsstil zu haben, sondern den Stil an den jeweiligen Menschen anpassen. Man muss heute in gewisser Weise wirklich ein:e Kommunikationsexpert:in sein, denn man kann mit manchen Patient:innen sehr offen und direkt sein, weil sie das so wollen, aber andere können damit nicht umgehen. Ärzt:innen müssen also erkunden, welche Persönlichkeit jemand hat und in welcher Phase er oder sie sich befindet. Zum Beispiel sollte man nicht einfach schlechte Nachrichten überbringen, sondern man muss wissen, was jemand weiß und wie ich näher an diese Person herantreten kann, bevor ich etwas Schlechtes mitteile. Das Problem ist, dass die Informationszeit sehr kurz ist um die Botschaft maßschneidern zu können.Woran orientiert man sich aber dann tatsächlich? Wenn man bedenkt, dass man bei ernsthaften lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankungen sehr vorsichtig sein muss, ist die Art der Kommunikation unterschiedlich, da man die Lebenserfahrung von Patient:innen berücksichtigen muss. Da geht es um den Gesundheitszustand, um die Kultur, um das Geschlecht, das Alter und wie jemand mit Technologien umgeht. Was macht jemand? Geht er viel online? Geht er in viele Online-Foren, wo er mit anderen Leuten chattet? All diese Aspekte machen einen Unterschied, wie jemand auf ärztliche Aussagen reagiert.

Gilt das für alle Gesundheitsberufe gleich? Ärzt:innen stellen die Diagnose und führen die Behandlung durch, aber Kommunikation ist auch bei Pflegkräften ein großes Thema. Denn im Grunde sprechen Krankenschwestern noch mehr mit Patient:innen als Ärzt:innen. Eigentlich basieren alle Gesundheitsberufe auf Kommunikation, obwohl jede Situation ihre eigenen Herausforderungen hat. Im Grunde ist die Kommunikation sehr oft die Therapie. Für Pflegekräfte ist es deshalb sehr schwierig, weil Patient:innen nach dem Arztbesuch dazu neigen, bei ihnen nachzufragen. Das ist gerade auch im palliativen Bereich von großer Bedeutung. Hier erinnere ich mich immer an einen Arzt aus den Vereinigten Staaten, der zu einem Studierenden sagte: „Wir alle sterben nur einmal und wir müssen sicherstellen, dass die Menschen es gut machen und dass Patient:innen trotz eines sehr ernsten und schweren Gesundheitszustandes ein qualitativ hochwertiges Leben führen können.“ (Das Interview führte Martin Rümmele)