Die neue Dachverbands-Chefin Ingrid Reischl drängt wie ÖGK-Obmann Andreas Huss darauf, die vor Corona begonnene Gesundheitsreform und Vereinheitlichung der Kassenleistungen vorantreiben. Die Arbeitgeberseite bremst allerdings. Es fehle das Geld.
Die neue Vorsitzende im Dachverband der Sozialversicherungsträger, Ingrid Reischl, will die zuletzt eingeschlafene Gesundheitsreform und die Vereinheitlichung der Kassenleistungen wieder vorantreiben. „Die Gesundheitsreform war im niedergelassenen Bereich und mit der Primärversorgung gut unterwegs. Die Zusammenarbeit von Ländern und Krankenversicherung auf Länderebene hat in der Zielsteuerung begonnen zu funktionieren und neue Impuls hervorgebracht. Durch die Kassen-Fusion und dann die Corona-Krise ist das ins Stocken geraten“, sagt Reischl im RELATUS-Interview. Sie hat mit 1. Juli turnusmäßig den Vorsitz im Dachverband vom Arbeitgebervertreter Peter Lehner (ÖVP) von der Sozialversicherung der Selbstständigen (SVS) für ein halbes Jahr übernommen. Es sei dringend nötig hier neue Impulse zu setzen. „Die Reform ist dringendst in Angriff zu nehmen.“ Auch die Investitionen innerhalb der Sozialversicherungseinrichtungen sollen weitergehen und nicht coronabedingt gestoppt werden, „um nicht mehr die Wirtschaft weiter nach unten zu drücken.“ Hier habe die Sozialversicherung auch einen Auftrag, formuliert die oberste Kassenchefin.
Gleichzeitig fordert sie vom Bund einen finanziellen Ausgleich für die durch die Corona-Krise verursachten Verluste. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle gerettet werden, nur die Sozialversicherung nicht. Die Sozialversicherung kann die Corona-Kosten nicht alleine tragen“, sagt die sozialdemokratische Arbeitnehmervertreterin. „Der Bund muss einspringen.“ Weil die Sozialversicherungen zu einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik verpflichtet seien, würde andernfalls Geld für Gesundheitsleistungen fehlen. Und Leistungskürzungen, höhere Beiträge oder Selbstbehalte kommen für Reischl nicht infrage.
Der oberste Arbeitgebervertreter der Sozialversicherung und Reischl-Vize, Peter Lehner, weist die Forderungen der Gewerkschafterin zurück. Der Ruf nach Staatshilfe sei reine Parteipolitik. „Zudem ist derzeit der falsche Zeitpunkt für die Forderung nach mehr und mehr Leistungen“, sagt Lehner und plädiert stattdessen für einen „Konsolidierungskurs“: „Die Sozialversicherung kann nicht einfach ‚Geld vom Bund‘ fordern.” Bis Mitte August werde der finanzielle Bedarf geklärt, dann gebe es einen Vorschlag an die Regierung. Wieviel Geld den Sozialversicherungen wirklich fehlen wird, kann auch die Dachverbands-Chefin derzeit noch nicht genau sagen. Die vom derzeitigen ÖGK-Obmann Andreas Huss genannten 600 Millionen bis eine Milliarde Euro allein für seine Österreichische Gesundheitskasse hält Reischl für ein „realistisches Szenario“. Lehner hatte Huss hingegen Panikmache vorgeworfen. Reischl verwies darauf, dass die Sozialversicherungen allein bei den tatsächlich abgeführten Beiträgen im April ein Minus von 9,1 Prozent im Vergleich zum Voranschlag verzeichneten. Und wenn man Stundungen für Betriebe hinzurechnet, liege das Minus im April sogar bei 17,2 Prozent. Wie viel von den gestundeten Beiträgen nicht mehr hereinkommen, weil die Firmen in Konkurs gehen, lasse sich derzeit nicht abschätzen.
Im Hinblick auf die Corona-Krise wünscht sich Reischl ein gemeinsames Lernen von Ländern, Bund und Sozialversicherung sowie ein gemeinsames sektorenübergreifendes Krisenhandbuch aller Player „im Sinne einer gemeinsamen Steuerung“. „Das ist ein Auftrag an Bundeszielsteuerungskommission. Wir haben etwa einen Engpass bei Intensivbetten gesehen und müssen daran arbeiten, dass so viel wie möglich im niedergelassenen Bereich versorgt wird.“ Dazu müsse dieser Sektor gestärkt werden. Probleme sieht Reischl in diesem Zusammenhang bei der Spitalsfinanzierung, die einerseits teilweise an die Kasseneinnahmen gekoppelt ist und umgekehrt auch von den Mehrwertsteuereinnahmen des Bundes abhängt. Reischl will deshalb in den kommenden Monaten Vorbereitungen für die nächstes Jahr anstehenden 15a-Verhandlungen zur Spitalsfinanzierung zu treffen. Hier drohen geringere Zahlungen sowohl vom Bund als auch von der Sozialversicherung wegen der Coronakrise, und die Länder würden wohl auch nicht mehr Geld haben. Und schließlich wünscht sich Reischl auch ein neues „Vertragswerk“ mit der Pharmawirtschaft im Hinblick auf die Medikamentenpreise, „das für die Sozialversicherung auch einen finanziellen Benefit vorsieht – so wie wir es in vergangenen Jahrzehnten gemacht haben.“ Die von der Branche gewünschte Verlängerung des Preisbandes sieht Reischl wörtlich als „Faul“, das der Sozialversicherung Mehrkosten in der Höhe von 55 Millionen Euro bringe. „Das Preisband war Teil eines Pharmadeals. Nun ist nur eine Maßnahme hinter dem Rücken der Sozialversicherung verhandelt worden, ohne dass es ein Gesamtpaket gibt.“ (rüm)