„Postleitzahl ist wichtiger als der genetische Code“

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Michaela Fritz ist Vizerektorin der Medizinischen Universität Wien und für Forschung und Innovation verantwortlich. Im Relatus-Gespräch drängt sie auf Reformen und wünscht sich mehr Frauen in Führungsfunktionen. 

In allen Bereichen des Gesundheitswesens fehlt Personal – woran liegt das und wie ließe es sich generell und speziell in Ihrem Bereich ändern? Wir müssen hier zuerst einmal die Bereiche unterscheiden. Im ärztlichen Bereich haben wir keinen Mangel, aber ein Verteilungsproblem. Wir sind Nettoexporteure von Ärzt:innen und bilden für ganz Europa aus – vor allem für die Schweiz und Deutschland. Wir bilden in Österreich überdurchschnittlich viele Medizinstudierende aus – die Medizinischen Universitäten Wien, Graz und Innsbruck und die medizinische Fakultät in Linz stellen dafür fast 2.000 neue Plätze pro Jahr zur Verfügung. Zum Vergleich, in Deutschland sind es bei etwa zehnmal so vielen Einwohner:innen nur 12.000 Studienplätze. Wir haben in Österreich auch eine der höchsten Ärztedichten in Europa. Mangelhaft ist die Versorgung aber trotzdem, nämlich vertikal, das heißt Spitalsbereich versus niedergelassener Bereich, und horizontal, das heißt Stadt versus Land. Zudem gaben etwa 30 Prozent der Absolvent:innen bei einer Befragung an, dass sie aufgrund der wenig attraktiven Arbeitsbedingungen nach Studienabschluss nicht in Österreich arbeiten möchten. Es gelingt uns folglich auch nicht, viele im Ausland ausgebildete Ärzt:innen nach Österreich zu importieren. Es ist also nicht ein Mangel – sondern die Frage, wo und wie sie arbeiten. Viele Ärzt:innen sind nicht in versorgungswirksamen Bereichen tätig.  

Das ist der medizinische Bereich – wie sieht die Situation in den anderen Sektoren des Gesundheitswesens aus? Den Pflegemangel haben wir tatsächlich. Im Universitätsklinikum AKH Wien sind manche OP-Bereiche stark reduziert und Betten gesperrt, weil das entsprechende Pflegepersonal fehlt. Leider sind wir auch wie bei den Ärzt:innen im Bereich der Pflege kein allzu attraktiver Standort. Dazu ein Beispiel: Wir haben versucht, eine Kooperation mit Universitäten in Jordanien zu initiieren, die viele Pflegekräfte ausbilden. Diese werden nach US-Standards sehr gut ausgebildet und verfügen über Wissen und Können, das sie bei uns aber zum Teil nicht anwenden dürfen. Auch das ist ein Grund, warum wir als Standort nicht sehr attraktiv sind. Generell gilt: Die neue Generation will anders, in Teams und berufsgruppenübergreifend arbeiten und legt mehr Wert auf Work-Life-Balance. Um sie zu gewinnen, muss zum Beispiel Kinderbetreuung in der Nähe geboten werden, auch Teilzeit-, disziplinen- und fächerübergreifende Modelle sind gefragt. Kurz: Das öffentliche Gesundheitssystem geht zu wenig auf die Bedürfnisse und Präferenzen der Beschäftigten im Allgemeinen und der Frauen im Besonderen und der sehr mobilen jungen Generation ein.  

Wir hören allerdings oft, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen stockt. Woran liegt das? Und wie ist das in der Forschung? Das Gesundheitswesen ist äußerst träge gegenüber Veränderungen und von Sicherheitsgedanken dominiert – die schätzen wir ja auch alle, aber sie schränken den Willen und den Mut für Innovationen stark ein. Das Gesundheitswesen in Österreich hat im Bereich Digitalisierung noch viel Aufholbedarf, auch wenn es viele einzelne, spannende Initiativen gibt. Dass im Gesundheitswesen etwa noch gefaxt wird, ist ein drastisches Beispiel dafür. Es braucht große Kraftanstrengungen von vielen Stakeholdern gemeinsam, um im Gesundheitsbereich Innovationen umzusetzen. Wichtig ist auch der Zugang zu Daten. Wenn mehr Daten für die Forschung zur Verfügung stehen, von der Genetik bis zum Patient:innen-Outcome, würden wir schneller und evidenzbasiert herausfinden, wo es Handlungsbedarf und Optimierungsmöglichkeiten gibt. Personalisierte beziehungsweise digitale Medizin wird dabei nicht nur geschlechtsspezifische Unterschiede, sondern auch sehr individuelle Krankheitsverläufe und Therapiemöglichkeiten aufzeigen. Das Potenzial, auch für den Einsatz von Artificial Intelligence, ist riesig. Das beginnt bei der Grundlagenforschung bis hin zur Versorgungsforschung. 

Gibt es in den jüngsten Gesundheitsreformen einen Gender-Gap? Was zuletzt 2023 an Reformen kommuniziert wurde, war aus meiner Sicht ein sehr wichtiger Schritt für Frauen – etwa die Gehaltserhöhung für Pflegekräfte. Auch der Ausbau von Primärversorgungseinheiten ist wichtig. Insbesondere Ärztinnen wollen nicht immer allein in einer Praxis arbeiten, sondern berufsgruppen- und disziplinenübergreifend tätig sein. Wie gesagt: Das Thema Frauengesundheit muss noch stärker in den Fokus zu rücken – auch in Hinblick auf die Fragen, welche Präventionsangebote Frauen brauchen und wie wir dafür eine gute Datenlage schaffen können. 

Wo liegen die Hauptprobleme im Gesundheitswesen – und inwiefern sind Frauen davon besonders betroffen? Die Zersplitterung und fehlende Integration sowie der starke Fokus auf Reparatur statt Prävention sind wohl die größten Themen. Dazu kommt, dass vernachlässigt worden ist, die Pflege zu reformieren. Alle diese Themen betreffen Frauen sehr stark – weil sie den Großteil dieser Arbeit machen – auch informell. Die Pflege zu Hause übernehmen auch sehr oft Frauen. Sie spüren damit jede Veränderung und sind doppelt betroffen – als die, die pflegen, und als die, die gepflegt werden. Denn ein weiteres Thema ist, dass Frauen in Österreich trotz höherer Lebenserwartung weniger Jahre in Gesundheit leben als Männer – Österreich liegt hier sogar unter dem EU-Durchschnitt. Erstaunlicherweise gibt es hier auch Bundesländerunterschiede und auch zwischen Gemeinden oder in Wien zwischen den Bezirken. Der Postal Code ist wichtiger als der genetische Code – das ist beschämend für ein reiches Land wie Österreich. 

Fast 80 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen sind Frauen, aber nur wenige in Führungspositionen. Warum ist das so und wie lässt sich das ändern? UNO-Generalsekretär António Guterres hat gesagt, wenn wir mit der Geschwindigkeit wie bisher weitermachen, brauchen wir noch 300 Jahre bis zur Gleichstellung. An den Universitäten haben wir in manchen Bereichen wie der Medizin bereits mehr Frauen, die studieren. Doch entscheidend ist für eine Universität vor allem die Frage, wie sich Karrieren von jungen Wissenschaftlerinnen entwickeln. Auf Postdoc-Level können die Frauen zahlenmäßig im Vergleich zu den Männern noch mithalten; wenn es in Richtung Habilitation und Führungspositionen geht, driften die Frauen weg. Der Gap wird größer, sobald Kinder im Spiel sind. Dann ist es nach wie vor so, dass Frauen in der Karriere stagnieren, Männer aber nicht, was auch gesamtgesellschaftlich ein Problem ist – entweder haben wir irgendwann keine Kinder oder keine Frauen in leitenden Funktionen. Wir müssen also auf allen Ebenen die Kinderbetreuung ausbauen, so dass 50:50 auch 50:50 bedeutet und machbar ist. Es gibt naturgemäß auch Beharrungskräfte, wenn der Frauenanteil in den Führungspositionen steigen soll. Eine Frau mehr in einer Führungsposition bedeutet immer auch einen Mann weniger. Ich bin aber nicht so pessimistisch wie Guterres. Bei den Assistenzprofessor:innen sind bei uns an der MedUni Wien schon fast 50 Prozent Frauen – und das ist ja der Nachwuchs für weitere Spitzenjobs. Hier bewegt sich also massiv etwas. (red) 

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Jetzt reden wir! Wie Frauen das Gesundheitssystem neu denken“, erschienen im Ampuls-Verlag; ISBN: 978-3-9505385-3-3; 180 Seiten, 29,90 Euro