Forscher am Vienna Biocenter (VBC) beobachten mit einer adaptierten Analysemethode seit rund einem Monat die Entwicklung des SARS-CoV-2-Virus in Österreich. Fazit: Es gibt unzählige Mutationen und es könnte zu „stark optimierten“ Corona-Viren kommen.
Nach der Sequenzierung des Spike(S)-Proteins des Erregers in rund 8.000 Proben müsse man sagen: „Es tut sich viel“, warnen die Forscher am Vienna Biocenter (VBC). Neben bekannten Varianten bereiten Teams um Luisa Cochella und Ulrich Elling neu auftretende Mutationen Kopfzerbrechen. Kommen mehrere zusammen, laufe man Gefahr, dass ein stark optimiertes Virus entsteht. „Das Virus entwickelt sich vor unseren Augen, es nimmt zusätzlich Variationen auf“, sagte Cochella, die am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) forscht. Den „Wildtyp“ – sprich jene Virus-Variante, die dem aus China kommenden „Original“ am ähnlichsten ist – finde man in den Proben nur noch in zehn bis 20 Prozent der Fälle. „Der Rest sind schon Variationen. Das mag jetzt ein Schock sein, liegt aber auch daran, dass das Virus über ein Jahr lang nicht großflächiger beobachtet wurde“, sagte Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). In dieser Zeit hat sich der Erreger natürlich weiterentwickelt. „Wir sehen jetzt viele verschiedene Mutationen. Viele davon machen das Virus gefährlicher, wie sich in Experimenten zeigt“, so Elling.
Das heißt, dass sich mit mehr oder weniger gleichbleibender Rate spontan Veränderungen im rund 30.000 Basen umfassenden Bauplan des SARS-CoV-2-Erregers zeigen. Den Regeln der Evolution folgend, haben vor allem solche Mutationen eine hohe Chance sich durchzusetzen, die dem Virus eine höhere Überlebenschance geben. Das gilt für die ansteckendere, sich in Österreich durchsetzende britische B.1.1.7-Variante und die südafrikanische B.1.351-Variante, die in Tirol große Cluster gebildet hat. Beiden ist gemein, dass sie charakteristische Mutationskombinationen angesammelt haben, die für eine erhöhte Ansteckungsrate sorgen.
Diese beiden Varianten sind zwar aktuell im Fokus der Öffentlichkeit, der detaillierte, mittlerweile tausendfache Blick auf den Teil des S-Proteins, der zum Eindringen in die menschlichen Zellen notwendig und in 2.000 Basen im Virusgenom codiert ist, zeigt aber noch deutlich mehr. Die Forscher nutzen dafür die auf „Next Generation Sequencing“ (NGS) basierende von Cochella und Elling entwickelte „SARSeq“-Methode. Seit kurzem können pro Woche rund 2.400 Proben derart analysiert werden. „Wir bemühen uns, so viele Proben als möglich zu bearbeiten“, betonte Cochella. Eingebettet ist die Initiative in einen Forschungsverbund um die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), zu dem auch das Team um Andreas Bergthaler vom Forschungsinstitut für Molekulare Medizin (CeMM) der ÖAW zählt.
Der springende Punkt sei nun, wann sich mehrere Mutationen zu einer Variante mit „optimierter Effektivität und Immunevasion“ zusammenballen. Letzteres bezeichnet die Fähigkeit, sich dem Zugriff des auf den Wildtyp geschulten Abwehrsystems des Körpers weitestgehend zu entziehen, was dann auch negative Auswirkungen auf die Schutzwirkung von Impfungen hat. Das Auftreten und eventuelle Ansammeln potenziell entscheidender Veränderungen könne man durch das Monitoring, das aktuell rund 15 Prozent aller positiven Proben in Österreich umfasst, beobachten und nachvollziehen. Beginnen sich neue Mutationen oder Mutationsmuster durchzusetzen, „sagt uns das Virus, was gut für es ist“, erklärte Cochella. Daher brauche es auch ein kontinuierliches, koordiniertes, aber auch einigermaßen zentralisiertes Monitoring der Entwicklung, zeigten sich die Wissenschafter überzeugt.
Die momentane Situation mit einem Drücken der Fallzahlen durch Lockdowns und einem Öffnen bei halbwegs stabilen Zahlen sei aus evolutionsgenetischer Sicht ausgesucht schlecht. Elling: „Das ist wie wenn man Antibiotika nach drei Tagen absetzt, weil man sich etwas besser fühlt. Wir stressen das Virus und lassen es dann wieder frei laufen.“ So kommt einerseits das Virus unter Selektionsdruck, sich zu verändern, und hat andererseits immer ein großes Reservoir an Infizierten, die ihm ein recht komfortables Überleben sichern. In einem quasi apokalyptischen Szenario kämen dann viele für den Erreger vorteilhafte Mutationen zusammen, so dass eine Variante entstünde, deren Infektiösität und Umgehung des Immunschutzes noch weit über die jetzigen Varianten hinaus ginge, befürchtet Elling. Es sei aber noch nicht klar, wie weit sich das Virus insgesamt verändern könne, sagte Cochella: „Wir wissen nicht, was das Virus noch tun kann. Es kann potenziell deutlich schlimmer werden. Ich würde es aber auch nicht darauf ankommen lassen und ihm die Chance dazu geben. Am besten wäre es, sich hier nicht auf Glücksspiel einzulassen.“
Daher brauche es zumindest eine konzertierte, europaweite Strategie, um die Fallzahlen sehr stark zu drücken. Dann funktioniert einerseits die Kontaktnachverfolgung besser und andererseits hat der Erreger weniger Möglichkeiten, besonders viele vorteilhafte Mutationen anzuhäufen. Damit sinke die Wahrscheinlichkeit, dass eine Variante der Immunantwort davonläuft und sich rasch stark verbreitet. Wenn das aber passiert, müsse man es rasch erkennen und möglichst einfangen: „Jeder dieser Entwicklungsstränge sollte wie eine eigene kleine Pandemie angesehen werden. Wir müssen die Evolution dieses Virus stoppen“, sagte Elling. Gelingt das nicht, würde unsere beste Perspektive in der Pandemie – die Impfung – zum „Rohrkrepierer“. (APA)