Akute lymphatische Leukämie des Erwachsenenalters


Die akute lymphatische Leukämie ist eine aggressive Erkrankung mit Proliferation und Akkumulation lymphatischer Vorläuferzellen unterschiedlicher Reifungsstadien in Knochenmark und Blut. Häufig findet sich auch eine Mitbeteiligung sekundärer lymphatischer Organe wie Lymphknoten und Milz, seltener ein Befall nichtlymphatischer Organe wie Leber, ZNS, Hoden, Haut, Knochen u. a. Gemäß WHO-Klassifikation 2008 werden precursor B-cell lymphoblastic leukemia/lymphoma (75 % der Fälle im Erwachsenenalter) und precursor T-cell lymphoblastic leukemia/lymphoma (25 % der Fälle im Erwachsenenalter) unterschieden, zumal Prognose und Therapie dieser Subgruppen erheblich differieren. Die Bezeichnung „lymphoblastic lymphoma“ ist erst dann zutreffend, wenn neben einem mediastinalen oder anderswo lokalisierten Lymphombulk der Blastengehalt im Knochenmark < 25 % beträgt. Die reifzelligen Varianten entsprechen dem Burkitt-Lymphom und der reifen B-ALL (Tab. 1).


 

Epidemiologie und Pathogenese

Die Inzidenz der Erkrankung beträgt 1,1/100.000 pro Jahr mit einer leichten Prädominanz des männlichen Geschlechts und einem absoluten Häufigkeitsgipfel von 5,3/100.000 bei unter 5-Jährigen und einem zweiten Häufigkeitsgipfel bei über 80-Jährigen (2,3/100.000). Das mediane Erkrankungsalter bei Erwachsenen beträgt 39 Jahre.
Neben kongenitalen Defektsyndromen wie z. B. Ataxia teleangiectasia oder Trisomie 21 sind radioaktive Strahlung sowie eine Exposition gegenüber potenziell myelotoxischen Substanzen und Chemotherapie die wesentlichsten Risikofaktoren für die Entstehung einer ALL. Die dabei auftretenden und bei etwa 60 % der Erwachsenen-ALL-Patienten nachweisbaren klonalen genetischen Aberrationen betreffen Genloci mit substanzieller Bedeutung für Signaltransduktion, Transkriptionsregulation, Zellzykluskon­trolle und Apoptose.

Klinik

Die häufigsten sich meist über wenige Tage oder Wochen entwickelnden Initialsymptome als Folge der zunehmenden Knochenmarksinsuffizienz sind Blässe, Müdigkeit und Leistungsminderung (Anämie), Fieber und Infektneigung (Granulozytopenie) sowie Blutungsneigung mit Auftreten spontaner Hämatome und Petechien (Thrombozytopenie). Zwei Drittel der Patienten weisen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung eine Lymphadenopathie und/oder Splenomegalie auf. Ein Mediastinaltumor findet sich insgesamt in nur 14 %, allerdings bei 60 % aller Patienten mit T-ALL. Ebenso sind eine initiale ZNS-Beteiligung (7 %) oder ein initialer extramedullärer Organbefall (9 %) selten. Eine Leukozytose findet sich bei 60 % aller ALL-Patienten, das Fehlen einer Leukozytose oder gar von Blasten im peripheren Blut schließt jedoch das Vorliegen einer ALL nicht aus.

Diagnose und Differenzialdiagnose

Für die Diagnostik der ALL ist eine Knochenmarkspunktion inklusive Stanzbiopsie und/oder der Biopsie eines befallenen Lymphknotens oder eines anderen befallenen Organs mandatorisch. Die Basisdiagnostik umfasst dabei Morphologie, Zytochemie, Immunphänotypisierung, Zytogenetik und Molekulargenetik. Von wesentlicher Relevanz für eine rasche Therapieentscheidung ist dabei die Unterscheidung in T- und B-Linien-ALL, bzw. der Nachweis einer CD20-Expression und einer BCR-ABL-Translokation insbesondere bei älteren Patienten (Tab. 2).
Die WHO-Klassifikation 2008 nach zyto- und molekulargenetischen Gesichtspunkten ist insbesondere für Prognose und Therapie im Erwachsenenalter wenig relevant, hingegen hat sich die immunzytologische Subtypisierung, wie sie innerhalb der GMALL-Studienprotokolle praktiziert wird, für die klinische Praxis als sinnvoller erwiesen. Die Morphologie nach FAB ist lediglich für die Diagnose der reifzelligen B-ALL (L3-Blasten) bzw. von Burkitt-Leukämie/Lymphom von Bedeutung, welche durch Immunphänotypisierung mit Nachweis von Oberflächen-Immunglobulin und den molekulargenetischen Nachweis einer c-myc-Translokation bestätigt werden muss.
Die Differenzialdiagnose umfasst die Abgrenzung der ALL gegenüber AML, MDS, CLL, lymphatischem Blastenschub einer CML, anderen Formen chronischer und akuter Leukämien sowie von reaktiven Lymphozytosen beispielsweise im Rahmen einer infektiösen Mononukleose.

 

 

Prognosefaktoren und Risikostratifizierung

Die wichtigsten ungünstigen Prognosefaktoren der Erwachsenen-ALL sind Alter > 55 Jahre und eine hohe initiale Leukozytenzahl (> 30,0 G/L bei B-Vorläufer-ALL) (Abb. 1).

 

 

Weitere ungünstige Prognosefaktoren sind der immunologische Subtyp (pro B, early T, reife T), das Erreichen einer Komplettremission (CR) > 3 Wo nach Induktion 1 und bestimmte zyto-/molekulargenetische Aberrationen [t(9;22) – BCR-ABL; t(4;11) – ALL1-AF4; komplexer Karyotyp]. Ebenso ist ein hohes MRD-Niveau nach Frühkonsolidierung sowie ein MRD-Anstieg unter Therapie mit einer ungünstigen Prognose assoziiert. Aufgrund der unterschiedlichen Bewertung einzelner Risikofaktoren in den verschiedenen Studiengruppen ergeben sich Unterschiede in den Inzidenzen der einzelnen Risikogruppen [Standardrisiko (SR), intermediäres Risiko (IR), Hochrisiko (HR), Höchstrisiko (VHR)] mit einem 5-Jahres-Überleben in der Standardrisikogruppe > 50 % mit Chemotherapie alleine gegenüber einem 5-Jahres-Überleben von 40 % bis < 10 % in der intermediären, Hochrisiko- und Höchstrisikogruppe. Von zunehmender Bedeutung ist die Definition eines MRD-positiven „True HR“-Kollektivs, was für 20–45 % der SR-Patienten und 50–60 % der HR-Patienten zumindest in den GMALL-Studien zutrifft (Abb. 2).

 

Therapie

Ziel der Behandlung der ALL ist die Eradikation des malignen Klons und das Erreichen einer Komplettremission (CR). In den GMALL-Protokollen erhalten die Patienten nach einer einheitlichen Vorphase mit Steroid und niedrig dosiertem Zyklophosphamid zur Reduktion eines Tumorlysesyndroms eine einheitliche Induktionstherapie mit nachfolgender Konsolidierung. Wesentliche Bestandteile der Induktionstherapie sind Steroid, Vincristin, Anthrazyklin, (pegylierte) Asparaginase, Zyklophosphamid, Cytarabin und Mercaptopurin. Damit kann bei 90 % der SR- und 75 % der HR-Patienten eine CR erzielt werden. Entsprechend des immunologischen Markerprofils erhalten CD20+-ALL-Patienten zusätzlich Rituximab (s. u.), wohingegen BCR-ABL-positive ALL-Patienten zusätzlich Imatinib erhalten (s. u.). Auch CD20–-B-Vorläufer-ALL-Patienten (< 20 %) profitieren von einer Rituximab-Gabe, da die Steroidgabe zu einer Hochregulation der CD20-Expression an den leukämischen Blasten führt. Nach Erreichen einer CR erhalten alle Patienten eine einheitliche Konsolidierung mit Hochdosis(HD)-Methotrexat und HD-Cytarabin. In den meisten gängigen Protokollen sind in der Folge insgesamt 6–8 konsolidierende Chemotherapieblöcke, von denen 2–4 HD-Methotrexat, Cytarabin und Asparaginase enthalten, sowie 1–2 Reinduktionen vorgesehen. Anschließend erhalten alle Patienten eine ein- bis zweijährige Erhaltungstherapie mit Mercaptopurin und wöchentlichem Methotrexat. Das Weglassen der Erhaltungstherapie führt zumindest bei der B-Vorläufer-ALL zu signifikant schlechteren Langzeitergebnissen (Abb. 3).

 

Stammzelltransplantation

Die Indikation zur allogenen Stammzelltransplantation (SZT) in 1. Komplettremission (CR1) sollte aufgrund der Risikokonstellation gestellt werden und sollte bei Hoch- und Höchstrisikopatienten (ca. 50 % der Patienten) in CR1 erfolgen, da damit die besten Ergebnisse mit einem Langzeitüberleben von 40–50 % erzielt werden. Aufgrund hochauflösender HLA-Typisierungen sind die Ergebnisse mit HLA-identen Fremdspendern mittlerweile gleicht gut wie mit HLA-identen Geschwisterspendern. Bei MRD-negativen Standardrisiko-Patienten ist eine allogene SZT in CR1 der alleinigen Chemotherapie nicht überlegen, bei MRD-positiven Standardrisiko-Patienten aufgrund des hohen Rezidivrisikos allerdings durchaus indiziert. Für ältere „fitte“ Patienten stellt die dosisreduzierte allogene SZT durchaus eine therapeutische Option dar. Eine autologe SZT nach einer weiteren Konsolidierung sollte nur dann durchgeführt werden, wenn keine andere Form der Salvage-Therapie zur Verfügung steht. Eine MRD-Negativität stellt für diese Therapieoption eine conditio sine qua non dar. Haploidente und Nabelschnurblut-SZT sind als experimentell einzustufen und sollten nur in darin erfahrenen Zentren unter entsprechend strenger Indikationsstellung durchgeführt werden.

Monoklonale Antikörper und neue Substanzen

In zwei randomisierten Phase-III-Studien (GMALL, MD Anderson) konnte gezeigt werden, dass bei jüngeren Erwachsenen mit CD20+-B-Vorläufer-ALL eine Chemo-Immuntherapie mit Rituximab, einem monoklonalen Anti-CD20-Antikörper, der alleinigen Chemotherapie hinsichtlich des Erreichens einer molekularen Remission und in der Folge auch einer Verbesserung der CR-Rate überlegen ist. Zumindest in der MD-Anderson-Studie führte die Chemo-Immuntherapie mit Rituximab und modifizierten Hyper-CVAD auch zu einem signifikant besseren Gesamtüberleben. Auch bei der reifzelligen B-ALL und beim Burkitt-Lymphom führt die Chemo-Immuntherapie mit Rituximab zu einer signifikant besseren Überlebenswahrscheinlichkeit (Abb. 4).

 

 

Weitere vielversprechende Antikörper in der Therapie der ALL sind Blinatumomab, ein bispezifischer Anti-CD3- und Anti-CD19-Antikörper, Epratuzumab (anti CD22) und Alemtuzumab (anti CD52) für die B- und T-Vorläufer-ALL sowie Gemtuzumab-Ozogamicin (anti CD33), die alleine und z. T. in Kombination mit Rituximab in verschiedenen Settings in der Behandlung der ALL derzeit getestet werden. Ebenfalls in klinischer Testung befinden sich FLT3-Inhibitoren, mTOR-Inhibitoren, neuere Purinanaloga v. a. als Bridging zur allogenen SZT in der Rezidivsituation (Clofarabin, Forodesin, Nelarabin) und γ-Sekretase-Inhibitoren, welche in den Notch-1-Signaltransduktionsweg eingreifen.

T-Vorläufer-ALL

Die Behandlungsergebnisse bei der T-Vorläufer-ALL sind generell besser als bei der B-Vorläufer-ALL, wobei – wie bei der B-Vorläufer-ALL – dem Immunphänotyp und somit Reifungsgrad der Blasten prognostische Bedeutung zukommt. In den GMALL-Studien 06/1999 und 07/2003 erreichte die thymische T-ALL (56 %) mit 92 % die höchste CR-Rate gegenüber 84 % für die reife T-ALL (21 %) und 77 % für die frühe T-ALL (23 %). Dementsprechend ist das Gesamtüberleben der thymischen T-ALL mit 60–70 % deutlich besser als das der frühen oder reifzelligen T-ALL mit 33 % bzw. 22 %. Somit ergibt sich für diese HR-Population eine Indikation für eine SZT in CR1, wobei auch hier der MRD-Diagnostik prognostische und therapeutische Relevanz zukommt.

Reife B-ALL/Burkitt-Lymphom

Die Behandlung der reifen B-ALL und des Burkitt-Lymphoms des Erwachsenen orientiert sich im Wesentlichen an den pädiatrischen Protokollen und basiert auf HD-Cytarabin und HD-Methotrexat, Ifosfamid und Zyklophosphamid, die meist in 4–6 Therapieblöcken über einen 6-monatigen Zeitraum mit kurzen Therapieintervallen verabreicht werden. Da > 80 % aller B-ALL und Burkitt-Lymphome CD20 exprimieren, ist Rituximab fixer Bestandteil der Therapie. Damit konnte das Gesamtüberleben von 50 bis 60 % auf nunmehr nahezu 80 % gesteigert werden.

Ph1+-ALL

Das Philadelphia(Ph)-Chromosom mit Expression des BCR-ABL-Fusionsgens findet sich bei ca. 30–40 % der Erwachsenen-ALL und ist mit einer äußerst ungünstigen Prognose (VHR) und einem Gesamtüberleben von nur 10–19 % assoziiert, welches nur durch eine allogene SCT auf ca. 30 % angehoben werden kann. Durch den Einsatz von BCR-ABL-TKI der ersten (Imatinib) und zweiten Generation (Dasatinib, Nilotinib) kann nicht nur die CR-Rate, sondern möglicherweise auch das krankheitsfreie und Gesamtüberleben signifikant verbessert werden, wie es ja für pädiatrische Patienten bereits gezeigt werden konnte. Bei älteren Ph1+-ALL-Patienten ist die Imatinib-Monotherapie einer dosisreduzierten Induktionstherapie in Kombination mit Imatinib aufgrund einer deutlich geringeren Frühmortalität überlegen (90 % CR).

ZNS-Prophylaxe/ZNS-Rezidiv

Obwohl eine ZNS-Beteiligung zum Diagnosezeitpunkt selten ist ( 30 G/L). Intrathekale Methotrexat-Gaben alleine oder in Kombination mit Cytarabin und Steroid, HD-Methotrexat/Cytarabin sowie eine Schädelbestrahlung mit 24 Gy werden in Kombination im GMALL-Protokoll 07/2003 eingesetzt. Damit kann die ZNS-Rezidivrate auf < 5 % gesenkt werden. Bei einem ZNS-Rezidiv oder initialer ZNS-Beteiligung ist eine zweimal wöchentliche Methotrexat-Gabe bis zur Blastenclearance mit zwei weiteren konsolidierenden Methotrexat-Gaben erforderlich. Liposomales Cytarabin und intrathekales Rituximab sind in klinischer Testung. Vorsicht ist bei der gleichzeitigen Gabe von liposomalem Cytarabin und HD-Methotrexat/Cytarabin aufgrund kumulativer Toxizität geboten. Die allogene SZT stellt für Patienten mit ZNS-Befall die wahrscheinlich einzige kurative Therapieoption dar.

Therapie älterer Patienten mit ALL

Die Therapieergebnisse älterer ALL-Patienten – insbesondere im Alter > 65 Jahre – sind aufgrund der Frühmortalität mit CR-Raten von 60–80 % und einem Gesamtüberleben von nur 20–40 % schlecht. Für einzelne Subgruppen stehen nunmehr adaptierte Therapieprotokolle zur Verfügung, in denen molekulare Therapieansätze (Imatinib) und monoklonale Antikörper (Rituximab) zum Einsatz kommen, vorausgesetzt, dass auch bei älteren Patienten eine vollständige und hochwertige Initialdiagnostik durchgeführt wird. Dosisreduzierte Konditionierungsprotokolle eröffnen auch älteren fitten Patienten die potenziell kurative Option einer allogenen SZT.

 

Literatur:

– Gökbuget N et al., Akute lymphatische Leukämie. Leitlinie. www.dgho-onkopedia.de
– Gökbuget N & Hoelzer D, Treatment of adult acute lymphoblastic leukemia. Hematology 2006; 133–141.
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