Akute lymphoblastische Leukämie im Kindesalter


Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) stellt mit einem Gesamtanteil von etwa 30 % die häufigste maligne Erkrankung des Kindes- und Jugendalters dar. Die Inzidenz liegt bei 3,3 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner unter 15 Jahren. Es gibt drei potenzielle Leukämieformen in dieser Altersgruppe. Dabei entfällt ein Anteil von etwa 80 % auf die ALL, gefolgt von etwa 15 % auf die akute myeloische Leukämie (AML) und etwa 2–5 % auf die chronisch myeloische Leukämie (CML). Die Gesamtzahl der Kinder mit ALL-Neuerkrankungen schwankt in Österreich in engen Grenzen. Auch Katastrophen wie der Reaktorunfall in Tschernobyl fanden keinen statistisch signifikanten Niederschlag. Das Alter der Kinder bei Diagnose ist median 4,7 Jahre und zeigt einen Häufigkeitsgipfel zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr. In der Verteilung der Geschlechter zeigt sich eine minimale Knabenwendigkeit von 1 : 1,2. Bei Säuglingen mit „infant leukemia“ überwiegen hingegen Mädchen. 


Aktuelle Aspekte zur Ätiologie

Trotz großer Anstrengungen seit vielen Jahren ist die Ursache der Entstehung der ALL weitgehend ungeklärt. In der Entwicklung der Hämatopoese differenziert sich die adulte hämatopoetische Stammzelle in eine lymphopoetische Stammzelle und diese über wahrscheinlich mehrere Zwischenformen in die prämaturen B- und T-Lymphozyten. Somatische Mutationen in einem dieser Zelltypen sind wahrscheinlich für das Auftreten einer ALL verantwortlich. In den letzten Jahrzehnten gelang die Identifikation von so genannten „leukämischen Stammzellen“, die für die Entstehung einer Leukämie verantwortlich gemacht werden. Diese Zellen ließen sich in retrospektiven Analysen bereits im Nabelschnurblut nachweisen, was nahelegt, dass die molekularen Zellveränderungen, die zum späteren Auftreten einer Leukämie führen können, bereits intrauterin stattgefunden hatten. Bei eineiigen Zwillingen ist das Risiko des Auftretens einer ALL mit identischem Genotyp um etwa 30 % erhöht. Diese Tatsache beruht nach neuen Erkenntnissen auf dem Phänomen einer intrauterinen Übertragung der „leukämischen Stammzellen“ durch die gemeinsame Blutversorgung und nicht auf einer individuellen genetischen Prädisposition.
Ein Screening aus dem Nabelschnurblut ist zum derzeitigen Stand nicht indiziert, da man in seriellen Nabelschnurblutanalysen eine höhere Inzidenz von potenziell leukämieauslösenden oder prädisponierenden genetischen Veränderungen gefunden hat, als in weiterer Folge tatsächlich Leukämien bei den Kindern auf­traten. Daher würde durch eine flächendeckende Vorsorgeuntersuchung auf Leukämien aus dem Nabelschnurblut eine beträchtliche Zahl an „Risiko-Kindern“ identifiziert werden, die jedoch zeitlebens keine Leukämie entwickeln.
Ob und welche exogenen Faktoren die Entstehung einer Leukämie begünstigen, ist bislang weitgehend unklar. Diskutiert wird eine Vielzahl an Chemikalien und Substanzen mit myelotoxischer Wirkung. Nur für Benzen konnte dieser Zusammenhang wissenschaftlich nachgewiesen werden. Obwohl Virusinfektionen als begünstigende Faktoren vielfach untersucht wurden, konnte der ätiologische Zusammenhang nur beim Epstein-Barr-Virus (EBV), dem afrikanischen Typ des Burkitt-Lymphoms, dem humanen T-lymphotropen Virus 1 (HTLV-1) und einer in Japan und der Karibik vorkommenden T-Zell-Leukämie nachgewiesen werden. In Diskussion sind des Weiteren das Alter der Mutter, Hormonbehandlungen vor oder während der Gravidität sowie ein niedriges Geburtsgewicht am regelrechten Geburtstermin. Auch das Immunsystem, verantwortlich für die Tumorerkennung („tumor surveillance“), scheint Einfluss zu haben. Einen gesicherten leukämogenen Effekt hat die Exposition des Fetus oder des Neugeborenen gegenüber ionisierender Strahlung. Dies wurde durch Untersuchungen an Überlebenden der Atombombendetonationen in Hiroshima und Nagasaki sowie nach der Reaktorexplosion in Tschernobyl wissenschaftlich bewiesen.
Bei wenigen Kindern führen Keimbahnmutationen zu konstitutionellen Erkrankungen, die einen prädisponierenden Faktor darstellen. Kinder mit der numerischen Chromosomenanomalie Trisomie 21 (Down-Syndrom) haben ein etwa 20-fach erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Leukämie. Kinder mit angeborenen DNA-Reparaturdefekten wie Bloom-Syndrom, Ataxia teleangiectatica, Fanconi-Anämie, Hutchinson-Gilford-Syndrom (Progeria) und Kinder mit angeborenen Immundefekten wie Wiskott-Aldrich-Syndrom haben ebenfalls ein erhöhtes Leukämierisiko.

Pathogenese und klinische Symptome

Die ALL ist eine klonale Expansion von unreifen lymphatischen Blasten aus dem Knochenmark oder dem lymphatischen Gewebe. Leukämische Zellen können primär im Lymphknoten als primäres Lymphom proliferieren und sekundär den gesamten Organismus und damit auch das Knochenmark befallen oder primär im Knochenmark als Leukämie entstehen. Die Unterscheidung zwischen Lymphom und Leukämie ist durch eine Infiltration des Knochenmarks von mehr als 20 % definiert. In jedem Fall liegt eine Systemerkrankung vor, die einer systemischen Therapie bedarf.
Die Manifestation einer ALL kann vielfältig sein, folgt jedoch typischen Abläufen. Die Infiltration des Knochenmarks und die Verdrängung der normalen Hämatopoese bedingen die Primärsymptome Anämie, Leukopenie und Thrombopenie. Damit assoziiert sind in der Anamnese in den meisten Fällen Müdigkeit, Mattigkeit, Antriebslosigkeit, rezidivierende Infekte und Petechien, Hämatome sowie Schleimhautblutungen. Bei Ausbreitung im lymphatischen Gewebe zeigen sich lokale oder generalisierte derbe indolente Lymphknotenschwellungen, die häufig im Halsbereich beginnen. Die Organinfiltrationen führen hauptsächlich zu Hepato- und Splenomegalie und damit verbunden zu abdominellen Beschwerden. Etwa 30 % der Kinder klagen initial über Knochen- und Gelenkschmerzen hauptsächlich im Achsenskelett und Kniebereich, die durch eine Infiltration von Knochen und/oder Periost bedingt sind. Bei Befall des Hodens sieht man eine indolente, meist einseitige Hodenschwellung. Weitere extramedulläre Krankheitsmanifestationen können bläulich-rötliche Hautinfiltrationen sowie eine Schwellung der Mundspeicheldrüsen (Mikulicz-Syndrom) sein. Selten tritt eine primäre In­filtration des Zentralnervensystems auf, die zu Kopfschmerzen, Meningismus, Krampfanfällen und Hirnnervenausfällen führen kann. Patienten mit reifer B-ALL zeigen häufig eine massive Vergrößerung der abdominellen Lymphknoten und eine Darmwandinfiltration, die bis zum Ileus führen kann. Diese Symptome können sich rasch innerhalb weniger Tage entwickeln. Kinder mit T-ALL leiden häufig unter einem großen Thymustumor und mediastinalen Lymphknotenvergrößerungen, die zu Atemnot, Husten und Zeichen einer oberen Einflussstauung führen können.

Einteilung und Klassifikation

Da die ALL des Kindesalters eine disseminierte Systemerkrankung darstellt, ist eine Stadieneinteilung wie bei soliden Tumoren nicht möglich. Es ist jedoch für eine stratifizierte, risikoadaptierte Behandlung notwendig, einen detaillierten Überblick über den Umfang aller leukämischen Infiltrationen und deren Ausmaß zu haben. Die Beteiligung von Organsystemen, wie z. B. dem ZNS, ist für die risikoadaptierte Planung der Therapie notwendig.
Die Klassifikation der ALL des Kindesalters erfolgt auf Basis der Morphologie entsprechend der FAB-Klassifikation („French-American-British classification systems“) und unterscheidet dabei die Subtypen L1, L2 und L3 und der Immun­phänotypisierung.


FAB-L1 beschreibt einheitlich kleine monomorphe Blasten mit gleichförmigem Chromatin und sehr wenig Zytoplasma.

FAB-L2 beschreibt Zellen mit unterschiedlicher Größe, die ein ungleichförmiges Chromatin und oftmals mehrere große Nucleoli zeigen.

FAB-L3 schließlich beschreibt große Zellen mit gleichförmig fein gesprenkeltem Chromatin, hervorstechenden Nucleoli, reichlich basophilem Zytoplasma und zahlreichen Vakuolen.
Der FAB-Subtyp L3 ist von den beiden anderen Subtypen abzugrenzen, da die ALL FAB-L3 (reife B-ALL) eine von der Vorläufer-B-ALL und T-ALL differierende Biologie aufweist und daher anders behandelt werden muss. Die Vorläufer-B-ALL macht etwa 84 %, die T-ALL etwa 15 % und die reife B-ALL etwa 1 % der akuten lymphatischen Leukämien im Kindesalter aus.1

Diagnostik und Differenzialdiagnosen

Die notwendige Diagnostik orientiert sich am klinischen Zustand des Patienten. Die erhobenen Befunde sollten aber einen präzisen Überblick über die Ausbreitung und die von der Leukämie infiltrierten Organe erlauben. Wesentlich ist auch die Beurteilung eventueller Organbeeinträchtigungen, die wegen der möglichen Toxizität der notwendigen Chemotherapie wichtig sein könnten. Im Rahmen der Primärdiagnostik einer akuten Leukämie ist es notwendig, einen peripheren Blut- und Knochenmarksausstrich anzufertigen sowie EDTA- und heparinisiertes peripheres Blut und Knochenmark für die weitere Diagnostik zu asservieren. Dabei kommen folgende Verfahren zur Anwendung:


Zytomorphologie: Die zytomorphologische Beurteilung eines Blutausstrichs und/oder Knochenmarksausstrichs im Mikroskop ist auch heute noch immer der Goldstandard in der Diagnostik einer ALL. In aller Regel lassen sich damit myeloische Leukämien, reaktive Veränderungen des Knochenmarks oder eine Infiltration durch einen metastasierenden soliden Tumor von einer ALL abgrenzen.


Zytochemie: Erweitert wird das Diagnosespektrum durch zytochemische Spezialfärbungen. Durch eine POX-Färbung (Myeloperoxidase) kann man myeloische (POX+) von lymphatischen Blasten (POX–) unterscheiden. Die PAS-Färbung (eigentlich „Periodic acid Schiff“-Reaktion) unterscheidet Subtypen der ALL (Common-ALL = PAS+). T-Lymphoblasten können durch eine saure Phosphatase-Färbung (SP) identifiziert werden.


Immunphänotypisierung: Rezeptoren an der Zytoplasmamembran von ALL-Blasten können mit monoklonalen Antikörpern gebunden werden, die mit einem Fluoreszenzfarbstoff gekoppelt sind (FITS = Fluorescein isothiocyanate; PE = Phycoerythrin; APC = Allophycocyanin und andere mehr). Die dadurch „gefärbten“ Zellen können im Laserlicht eines Durchflusszytometers („fluorescence activated cell sorting“, FACS) unterschieden und quantifiziert werden. Mit dieser Immunphänotypisierung lassen sich sämtliche Subtypen der ALL zumeist präzise differenzieren.

Zytogenetik und Molekulargenetik: In den letzten Jahren ist es gelungen, durch eine ständige Verbesserung der Zytogenetik und der zusätzlichen Einführung von molekulargenetischen Techniken bei vielen Subtypen der kindlichen ALL strukturelle und/oder numerische Veränderungen des Genoms nachzuweisen. Für die häufigsten Aberrationen gibt es inzwischen prognostische Voraussagen. Die meisten strukturellen genetischen Veränderungen sind Translokationen. Die wichtigsten sind in der Tabelle 1 gelistet. Bedeutsam ist die Translokation t(9;22) entsprechend dem Fusionsprodukt BCR-ABL und die Translokation t(4;11); beide Veränderungen sind mit einer schlechten Prognose verbunden. Die hyperploide ALL mit 51–65 Chromosomen als Beispiel einer numerischen Aberration ist hingegen prognostisch eher günstig zu beurteilen.
Die initiale Diagnostik eines Patienten mit ALL umfasst weiters eine Sonographie von Abdomen, Becken, Mediastinum und aller zugänglicher Lymphknoten zur Beurteilung von Organvergrößerungen, von Nieren- und Darminfiltraten sowie eines Pleura- und/oder Perikardergusses. Des Weiteren müssen ein Thoraxröntgen zur Beurteilung des Mediastinalschattens und eine MRT des Gehirns durchgeführt werden. Ein EKG mit Echokardiographie zur initialen Beurteilung der Herzfunktion und ein EEG sowie eine komplette Laboruntersuchung inklusive Virusserologie/Virus-PCR-Analyse vervollständigen die diagnostischen Maßnahmen.
Leukämien sind entsprechend ihrer Manifestationsformen von verschiedenen anderen Erkrankungen abzugrenzen. Knochen- und Gelenkschmerzen dürfen nicht mit einer juvenilen rheumatoiden Arthritis (Still-Syndrom) oder einer Osteomyelitis verwechselt werden. Weitere Differenzialdiagnosen einer ALL sind die infektiöse Mononukleose (Pfeiffersches Drüsenfieber), die Immunthrombozytopenie (ITP) und die schwere aplastische Anämie (SAA). Weiters müssen auch ein myelodysplastisches Syndrom (MDS) und ins Knochenmark metastasierte solide Tumoren wie das Rhabdomyosarkom oder Neuroblastom ausgeschlossen werden.

 

 

Kriterien zur Therapiestratifizierung

Entscheidend in der Behandlung der kindlichen ALL ist zunächst die Stratifikation der Patienten entsprechend ihres Rezidivrisikos basierend auf ihrem individuellen ALL-Subtyp und des individuellen Therapieansprechens. Dieses Prinzip ermöglicht es, Kinder mit relativ geringem Rückfallrisiko in einen Standardarm zu stratifizieren und einer ­Chemotherapie zu unterziehen, die die negativen Langzeitfolgen reduziert und trotzdem eine hohe (> 90 %) Heilungschance eröffnet. Kinder mit hohem Rezidivrisiko hingegen werden bereits primär oder nach der Induktionsphase mit einer intensivierten Therapie bis hin zur allogenen Stammzelltransplantation behandelt. Steuerungskriterien sind das initiale Risikoprofil und das Ansprechen auf die Therapie. Das Risikoprofil ergibt sich aus dem Subtyp der ALL und den molekularen Aberrationen der Blasten, aus der Blastenzahl bei Diagnose und dem Alter der Patienten. Kinder im ersten und über dem zehnten Lebensjahr haben eine schlechtere Prognose. Patienten mit ­Hyperleukozytose bei Diagnose (> 100.000/µl Blasten im peripheren Blut), die häufig eine Translokation im Bereich des Chromosoms 11 aufweisen, haben durch ein höheres Risiko von therapieassoziierten Komplikationen ebenfalls eine schlechtere Heilungschance. Ältere Kinder und Jugendliche präsentieren sich häufiger mit einer BCR-ABL(Philadelphia-Chromosom)-positiven ALL, diese Patienten haben eine auf etwa 70 % reduzierte Überlebenswahrscheinlichkeit. Die Weiterentwicklung der Therapiekonzepte, die Einführung von Dexamethason in die konventionelle Chemotherapie und die geringere transplantationsassoziierte Mortalität durch Verbesserung des gesamten Transplantationsverfahrens führten zu einer Verbesserung der Prognose von Patienten mit T-ALL. Die besten Chancen haben weiterhin Patienten mit einer Common-ALL (= Subtyp der Vorläufer B-ALL) und regelrechtem Ansprechen auf die eingeleitete Therapie mit einer Heilungschance von > 90 %.2
Wichtig für die Prognose ist auch die Dynamik des Ansprechens auf die eingeleitete Chemotherapie. Der 1986 eingeführte und damit älteste und im Verlauf erste Parameter zur Evaluierung des Ansprechens ist der Anteil an leukämischen Zellen im peripheren Blut nach acht Tagen Monotherapie mit Prednisolon. Bei einem Anteil von < 1.000/µl Blasten spricht man von einem „Prednisolon good response“. Bei schlechtem Ansprechen muss der Patient im Hochrisikoarm weiterbehandelt werden. Die Geschwindigkeit des Ansprechens wird seit einigen Jahren durch Bestimmung der minimalen Resterkrankung (MRD) ermittelt. Dabei wird eine Kombination aus molekularbiologischer Bestimmung von Rearrangements im Bereich der Immun­globulin/T-Zell-Rezeptor-Region (PCR-MRD), durchflusszytometrischer Bestimmung leukämiespezifischer Oberflächenrezeptoren (FACS-MRD) und die quantitative Analyse spezifischer Fusionsgene verwendet. An den Zeitpunkten Tag 15, Tag 33 und Woche 12 werden diese Methoden selektiv zur Ermittlung des Rezidivrisikos angewendet. Dabei dient die Analyse der MRD als unabhängiger prospektiver Parameter zur Stratifikation. Patienten, die sich dabei für den Hochrisikoarm qualifizieren, haben nur eine 50–60%ige Chance auf Heilung.

Therapie

Die Therapie der kindlichen ALL ist seit nahezu 4 Jahrzehnten eine weltweite Erfolgsgeschichte. Diese Entwicklung wurde durch die Erfahrungen möglich, die aus internationalen Therapiestudien gewonnen werden konnte.
In Österreich wurde in den 1970er-Jahren von Kinderärzten das Ziel einer multizentrischen Therapiestudie zur einheitlichen Behandlung von Kindern mit ALL definiert. Das daraus entstandene Protokoll wurde nach seinen Protagonisten KMK-Protokoll (nach den Pädiatern R. Kurz [Innsbruck], I. Mutz [Graz] und P. Krepler [Wien]) benannt. Durch dieses moderne neue Behandlungsschema konnten langdauernde Remissionen bei etwa 35 % erreicht werden. Seit 1979 nimmt Österreich an den ALL-Studien der BFM-Studiengruppe (BFM = Berlin, Frankfurt und Münster) teil.2 Dieses in Europa entwickelte Protokoll basiert auf einer intensiven Induktionstherapie, einer Konsolidierungsphase, einer prophylaktischen chemotherapiebasierten ZNS-Behandlung und einer erneuten Intensivierung durch eine Reinduktionstherapie, gefolgt von einer äquitoxischen Erhaltungschemotherapie. Die gesamte Therapie dauert zwei Jahre. Diese BFM-Strategie wurde in weiterer Folge zur Basis nahezu aller weltweit verwendeten Protokolle zur Behandlung der ALL im Kindes- und Jugendalter. Das Therapieschema ist in Tabelle 2 vereinfacht dargestellt. Die Konsolidierungs- und Extrakompartmenttherapie ist ausgerichtet, um Blasten in ZNS und Hoden zu eliminieren. Die prophylaktische Schädelbestrahlung, ein Teil früherer BFM-Protokolle, wurde wegen der beträchtlichen Langzeitnebenwirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten, der möglichen Hypophyseninsuffizienz und des erhöhten Risikos von Zweitmalignomen mit Erfolg durch systemisch und lokal verabreichtes Methotrexat ersetzt. Nur selektive Subgruppen von Patienten mit T-ALL müssen weiterhin bestrahlt werden.

 

 

Perspektiven für die Zukunft

Eine wesentliche Voraussetzung zur Heilung von Kindern mit ALL ist das rasche und vollständige Ansprechen. Diese Forderung kann durch eine kompromisslose konsequente Chemotherapie insbesondere in den 64 Tagen der Induktionstherapie erreicht werden. Wichtig dafür ist die Erfahrung des Behandlungsteams im Management von potenziellen Komplikationen. Trotzdem können durch unvorhersehbare Ereignisse (wie zum Beispiel: Septikämien, Organtoxizitäten, temporäres Organversagen) Verzögerungen der Therapie entstehen, die sich negativ auf das Überleben auswirken können. Des Weiteren hat ein kleiner Anteil an Kindern mit ungünstigen Prognoseparametern mit den heute zur Verfügung stehenden Medikationen weiterhin ein deutlich erhöhtes Rezidivrisiko. Daher wird intensiv nach neuen wirksamen Therapieoptionen mit tolerablem Nebenwirkungspotenzial gesucht. Dabei haben sich speziell konfigurierte Antikörper als mögliche neue Chance etabliert.
Einer der Kandidaten ist der monoklonale bispezifische BITE-Antikörper („bi-specific T-cell engager“) Blinatumomab. Dieser hat einen CD19(B-Zell)-spezifischen und CD3(T-Zell)-spezifischen Teil. Damit koppelt er potenziell zytotoxische T-Lymphozyten direkt an Vorläufer-B-ALL-Blasten und kann dadurch eine zellmediierte Lyse induzieren. Die präliminären Ergebnisse von Phase-II-Studien sind erfolgversprechend.
Eine weitere vielversprechende Option stellt der monoklonale artifizielle T-Zell-Rezeptor („chimeric antigen receptor“, CAR) dar, der bereits in der dritten Generation verfügbar ist. Dieses Konstrukt besteht aus einem extrazytoplasmatischen Anteil (Ectodomain), der den Antikörper in der Zellmembran eines T-Lymphozyten verankert und eine antigenerkennende Region trägt (z. B. CD19/CD20). Ein intrazytoplasmatischer Anteil (Endodomain) aktiviert die „Wirtszelle“, den T-Lymphozyten. Mit dieser Technik können über CD19- oder CD20-Rezeptoren ebenfalls Vorläufer-B-Zell-Blasten an künstlich aktivierte T-Zellen gekoppelt und zerstört werden. Es laufen derzeit ebenfalls bereits Phase-II-Studien.
Durch die langjährige Arbeit der ALL-BFM-Studiengruppe hat sich die Therapie der ALL im Kindesalter kontinuierlich verbessert. Zunächst konnte durch Dosiseskalation und Strategieoptimierung die Überlebensrate der Kinder ständig angehoben werden. In den letzten Jahren gewinnt die auf den einzelnen Patienten maßgeschneiderte Therapie und damit die Minimierung der Spätfolgen immer mehr an Bedeutung.

1 Schrappe M, Creutzig U, Akute lymphoblastische (ALL) und akute myeloische (AML) Leukämie im Kindesalter. Interdisziplinäre Leitlinie der Deutschen Krebsgesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. AWMF online 2008
2 Attarbaschi A, Panzer-Grünmayer R, Akute lymphoblastische Leukämien (ALL). krebs:hilfe, DFP-Literatur 2011; 2:32–36