Störungen der Blutgerinnung treten bei kritisch kranken Patienten häufig auf. Durch die spezielle Situation der Intensivbehandlung mit den komplexen Interaktionen von Krankheit, medikamentöser und mechanischer Therapie und diagnostischen Prozeduren kann die Aufrechterhaltung des hämostatischen Gleichgewichts eine große Herausforderung darstellen. Tabelle 1 fasst die wichtigsten Punkte zusammen.
In den vergangenen Jahren hat sich bezüglich der intensivmedizinischen Behandlung von Patienten mit malignen Erkrankungen ein Paradigmenwechsel vollzogen. Analysen zeigen deutlich, dass auch Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen unter gewissen Umständen von einer Intensivtherapie profitieren. So haben 18 % aller Intensivpatienten bzw. 12 % aller nichtchirurgischen Patienten eine Tumorerkrankung (die meisten solide Tumoren). Allerdings kommen besonders bei diesen Patienten zusätzliche hämostaseologische Probleme hinzu, die die Situation weiter komplizieren (Tab. 2).
Für das hämostatische Management onkologischer Patienten auf einer Intensivstation gibt es keine evidenzbasierten Richtlinien, es muss jeweils individuell auf die Situation eingegangen und die notwendige Gerinnungstherapie dem für den jeweiligen Zeitpunkt aktuellen Blutungs- und Thromboserisiko angepasst werden. In Folge wird auf einige wichtige Probleme eingegangen und die speziellen Erfordernisse bei kritisch kranken Intensivpatienten diskutiert.
Seit Langem ist bekannt, dass kritisch kranke Patienten ein beträchtlich erhöhtes Risiko für thromboembolische Ereignisse haben. Daher gilt bei allen kritisch kranken Patienten eine klare Empfehlung für eine Thromboseprophylaxe. In der Regel wird dafür niedermolekulares Heparin verwendet, bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko werden mechanische Methoden (pneumatische Wadenkompression) empfohlen. Wie Untersuchungen zeigen, werden diese Empfehlungen jedoch bei Weitem nicht vollständig umgesetzt.
Onkologische Patienten haben darüber hinaus ein zusätzliches thrombogenes Risiko, bedingt durch direkte und indirekte Effekten der malignen Erkrankung. So können manche Tumorzellen direkt gerinnungsaktivierende Faktoren freisetzen („cancer procoagulant, tissue factor“) oder über Zytokineffekte eine Akutphasenreaktion mit Upregulation prokoagulatorischer Proteine (Fibrinogen, Fibronektin, Faktor VIII, VWF) und Thrombozyten verursachen. Auch lokale Ursachen wie zentralvenöse Zugänge, Venenkompression durch lokales Tumorwachstum oder Leukostase bei hämatologischen Erkrankungen mit sehr hoher Leukozytenzahl können das Thromboserisiko erhöhen. Rezente Arbeiten, vor allem von Ay et al., identifizierten die wichtigsten Risikofaktoren: Sehr hohes Risiko für venöse Thromboembolie besteht bei Magen- und Pankreastumoren oder beim Glioblastom, ein hohes Risiko bei Lungentumoren, Lymphomen, multiplem Myelom und Nierentumoren. Weitere Risikofaktoren sind Thrombozytenzahlen ≥ 350 G/l, Hämoglobin < 10 g/dl, Verwendung von erythropoesestimulierenden Substanzen, Leukozytenzahl ≥ 11 G/l, Body-Mass-Index ≥ 35 kg/m2, D-Dimer-Werte ≥ 1,44 mg/l, solubles P-Selektin ≥ 53,1 µg/l.
Auf diesen Parametern basieren die Risiko-Scores für venöse Thromboembolie bei onkologischen Patienten. Je nach Score liegt das Risiko, innerhalb von 6 Monaten ein Ereignis zu erleben, zwischen 1 % und 35 %.
Daher sollte besonders bei kritisch kranken Tumorpatienten auf eine konsequente Umsetzung der Empfehlungen zur Thromboseprophylaxe geachtet werden. Auch hier sind niedermolekulare Heparine (NMH) derzeit die Substanzen der Wahl, die Dosis beträgt ca. 5.000 U bzw. 40 mg s. c. täglich. Zu beachten ist, dass Heparine bei eingeschränkter Nierenfunktion kumulieren und eine beträchtliche Blutungsneigung verursachen können. Interaktionen mit Chemotherapien bzw. Interventionen sind selten und üblicherweise leicht zu handhaben.
Bei Patienten mit einem rezenten, das heißt einem weniger als drei Monate zurückliegenden thromboembolischen Ereignis in der Anamnese ist eine therapeutische Antikoagulation indiziert. Bei kritisch kranken Patienten wird heute vor allem NMH verwendet, manchmal auch unfraktioniertes Heparin als Dauerinfusion, gesteuert mit der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (APTT) oder Thrombinzeit (TZ); dies vor allem, wenn eine extrakorporale Zirkulation notwendig ist. Auch wenn eine gute Steuerbarkeit gewünscht ist, wie beispielsweise bei blutungsgefährdeten Patienten oder vor Interventionen, ist Standardheparin wegen der guten Antagonisierbarkeit von Vorteil. Nur in Einzelfällen, v. a. bei heparininduzierter Thrombozytopenie (HIT) oder Heparinunverträglichkeit, kommen alternative Antikoagulantien (Fondaparinux, Danaparoid, Argatroban etc.) zum Einsatz. Das Monitoring und die Steuerung einer therapeutischen Antikoagulation bei kritisch Kranken ist auf Grund zusätzlich oft vorhandener Risikofaktoren für Blutungen und situationsbedingter Einflussfaktoren eine Herausforderung. Konsequente Bestimmung der adäquaten Gerinnungsparameter und klinische Abschätzung der Blutungsneigung sind unabdingbar. Details dazu sprengen den Rahmen dieser Übersicht und sind anderswo nachzulesen.
Onkologische Patienten mit manifester Thromboembolie stellen eine besondere Herausforderung dar. Rezente Untersuchungen zeigen klar ein hohes Rezidivrisiko und daher die Notwendigkeit einer konsequenten Weiterführung der Antikoagulation. Dem gegenüber steht oft der Bedarf nach weiteren Chemotherapien, deren Substanzen mit der Antikoagulation interagieren können bzw. die eine Leber- oder Nierenfunktionsstörung oder eine Knochenmarkaplasie mit schwerer, substitutionsbedürftiger Thrombopenie hervorrufen können. In dieser Situation kann durch engmaschiges Monitoring und entsprechende Anpassung der Antikoagulation, eventuell auch mit paralleler Substitutionstherapie, meist ein akzeptabler Mittelweg gefunden werden.
Im weiteren Erkrankungsverlauf können chirurgische Eingriffe zur Tumordiagnose oder -behandlung notwendig werden. In diesen Fällen ist der Einsatz eines kurz wirksamen, gut steuerbaren und der individuellen Situation angepassten Antikoagulans notwendig. Bei kritisch kranken onkologischen Patienten wird meist NMH oder unfraktioniertes Heparin in therapeutischer Dosierung unter adäquater Laborkontrolle eingesetzt. Bei manchen onkologischen Patienten mit exzessiver Thromboseneigung treten trotz voller Antikoagulation neue Thrombosen auf. In diesen Fällen setzen wahrscheinlich die Tumorzellen gerinnungsaktive Substanzen frei, die möglicherweise die gerinnungshemmenden Mechanismen der gängigen Antikoagulanzien umgehen („cancer procoagulant“ und ähnliche Faktoren). In solchen Fällen stehen die direkten Thrombininhibitoren (Argatroban, Dabigatran, Lepirudin) zu Verfügung, die die Endstrecke der Gerinnungskaskade blockieren. Obwohl durch diese Substanzen auch die Protein-C-Aktivierung als wichtiger antikoagulatorischer Mechanismus verhindert wird, bleiben sie in solch katastrophalen Fällen oft der einzige Ausweg. Details zu den verfügbaren Antikoagulantien sind in Tabelle 3 dargestellt.
Das Risiko für Blutungen ist bei kritisch kranken Patienten vor allem durch die medizinische Notwendigkeit der Verletzung der Körperintegrität, beispielsweise beim Setzen von Arterien- und Venenzugängen, Drainagen, Tuben, Blasenkathetern oder Interventionen gegeben. Vor allem bei größeren Wunden können Blutungen auftreten. Aber auch therapeutische Maßnahmen können vielfältige Einflüsse auf die Hämostase haben: Volumentherapie führt zur Hämodilution, viele Medikamente beeinflussen die Thrombozytenfunktion oder die Synthese bzw. Funktion von gerinnungsaktiven Proteinen. Auch immunologische Phänomene (Immunthrombopenie, Transfusionsthrombopenie, HIT, Lupus-Antikoagulanzien) können Effekte auf die Hämostase haben. Therapieverfahren mit extrakorporaler Zirkulation (Dialyse, Hämofiltration, extrakorporale Membranoxygenierung [ECMO], interventional lung assist [ILA]) benötigen nicht nur eine suffiziente Antikoagulation, sondern können auch über den Oberflächenkontakt gerinnungsaktivierend wirken oder eine mechanische Sequestrierung von Erythrozyten oder Thrombozyten verursachen.
Aber auch verschiedene Grundkrankheiten wie Sepsis, Pankreatitis oder Trauma können eine Gerinnungsaktivierung bis hin zur Verbrauchskoagulopathie und Purpura fulminans verursachen.
Onkologische Patienten können zusätzlich weitere Blutungsprobleme haben. Bestimmte Tumoren verursachen schwere Gerinnungsstörungen. Bei der Promyelozytenleukämie kommt es regelmäßig zur Verbrauchskoagulopathie und zur Hyperfibrinolyse. Durch die Tumorlyse nach Einleitung einer konventionellen zytostatischen Therapie aggraviert dieser Prozess, und viele Patienten versterben in den ersten Tagen an intrazerebralen Blutungen. Der Einsatz von All-trans-Retinolsäure hat diese Komplikationen deutlich reduziert, allerdings kann es im Verlauf der Therapie zum Retinolsäuresyndrom kommen. Darunter wird das gleichzeitige Ausreifen der Leukämiezellen mit Sequestrierung und Lungen- und Nierenschädigung verstanden. Dies macht oft eine mechanische Beatmung und eine Nierenersatztherapie notwendig. Auch andere Tumorerkrankungen können eine Verbrauchskoagulopathie verursachen. Therapeutisch steht die Behandlung der Ursache an erster Stelle, also meist die rasche Einleitung einer Chemotherapie. Eine zusätzliche Gerinnungstherapie kann hilfreich sein. Die überschießende Hämostase kann mit Heparinen und Antithrombinkonzentraten gehemmt werden. Bei Blutungsneigung kann eine Substitutionstherapie (Plasma, Faktorkonzentrate, insbesondere Prothrombinkomplex- und Fibrinogenkonzentrate sowie Thrombozyten) sinnvoll sein. Tabelle 4 zeigt eine Übersicht der verfügbaren hämostatisch aktiven Substanzen.
Hyperfibrinolyse: Maligne Erkrankungen wie Promyelozytenleukämie, Ovarial-, Pankreas-, Bronchus- oder Prostatakarzinom verursachen oft eine Hyperfibrinolyse. Der genaue pathophysiologische Mechanismus ist unbekannt. Diagnostisch helfen die üblichen Gerinnungstests kaum weiter, oft ist die Thrombinzeit verlängert, die Fibrinogenkonzentration niedrig und der D-Dimer-Spiegel stark erhöht. Die Rotationsthrombelastographie (ROTEM) mit und ohne Aprotininzusatz kann eine eindeutige Diagnose liefern. Neben der kausalen Tumortherapie kann eine Fibrinolysehemmung mit Cyklokapron® hilfreich sein.
Knochenmarkskarzinose: Kurz erwähnt soll noch die Knochenmarkskarzinose sein, eine diffuse Infiltration des Knochenmarks mit Tumorzellen, die der thrombotischen Mikroangiopathie ähnelt (Coombs-negative Hämolyse, Thrombopenie, Mikrozirkulationsstörungen), oft aber auch mit einer Störung der plasmatischen Gerinnung verbunden ist. Die Prognose ist äußerst schlecht, die Aufnahme solcher Patienten auf eine Intensivstation sollte hinterfragt werden. Meist wird dennoch eine Chemotherapie versucht.
Paraproteinämie: Manche Malignome sind mit einer Paraproteinämie assoziiert und können auch dadurch Gerinnungsstörungen auslösen. Neben der einfachen Dysproteinämie (Verdünnung gerinnungsaktiver Proteine bei sehr hohen Paraproteinkonzentrationen) kann es zu unspezifischen Bindungseffekten und damit zur Inaktivierung oder verstärkten Clearance von Gerinnungsfaktoren kommen. Häufig ist der Von-Willebrand-Faktor (VWF) betroffen. Dieses erworbene Von-Willebrand-Syndrom (VWS) ist durch konventionelle Gerinnungsanalysen nur schwer erfassbar. Da eine Substitution der betroffenen Faktoren oft nur wenig Erfolg zeigt, bleibt die Behandlung der Grundkrankheit die einzige Option. Bei bedrohlichen Blutungen kann eine symptomatische Therapie mit Bypasspräparaten (NovoSeven®, FEIBA®) versucht werden.
Antitumoröse Therapie: Auch eine antitumoröse Therapie kann Gerinnungsstörungen und Blutungsneigung verursachen. Durch die Chemotherapie wird die Thrombopoese supprimiert, bei intensiven Protokollen kommt es zu mehrwöchiger schwerer, substitutionsbedürftiger Thrombopenie. Die Substitution mit Thrombozytenkonzentraten sollte nur bei klinisch relevanter Blutungsneigung oder vor Interventionen mit hohem Blutungsrisiko erfolgen. Eine prophylaktische Thrombozytentransfusion wird erst bei Thrombozytenzahlen < 5–10 G/l empfohlen. Durch Thrombozyten- oder Erythrozytentransfusionen kann die Bildung von antithrombozytären Antikörpern stimuliert werden, was weitere Thrombozytengaben wirkungslos macht (Transfusionsthrombopenie). Bei schweren Blutungen kann versucht werden, die Hämostase mit Desmopressin und/oder rekombinantem Faktor VIIa (NovoSeven®) zusätzlich zu Thrombozytengabe zu verbessern. Die Gabe von Steroiden oder hoch dosierte Immunglobulininfusionen sind meist wirkungslos bzw. kommen zu spät.
Die Hepatotoxizität mancher Zytostatika kann eine Synthesestörung zur Folge haben, die nephrotoxische Wirkung im Extremfall eine Urämie. Beides ist mit einer meist transienten Blutungsneigung assoziiert. Bei Bedarf ist eine entsprechende Substitution (Plasma oder Prothrombinkomplexkonzentrate bei Leberversagen, Desmopressin oder Erythrozyten bei Urämie) möglich.
Lokale Phänomene, wie zytostatikainduzierte Schleimhautschäden (Mukositis, Zystitis, Enteritis), penetrierende oder stark vaskularisierte Tumoren können mit beträchtlicher Blutungsneigung assoziiert sein. Hier steht die lokale Therapie im Vordergrund. Vor allem bei starken Blutungen kann eine zusätzliche systemische Therapie (z. B. Fibrinolysehemmung oder NovoSeven®) hilfreich sein.
Auch eine massive Tumorlyse zu Beginn einer Chemotherapie (oft bei hochmalignen Lymphomen oder Leukämien) kann zur systemischen Gerinnungsaktivierung und einem Zustandsbild führen, das einer disseminierten intravaskulären Gerinnung (DIC) ähnlich ist und durch die notwendige hochvolumige Flüssigkeitstherapie und die damit verbundene Hämodilution aggraviert werden kann. Dieses Phänomen dauert nur wenige Tage an. Zur Überbrückung dieser Phase kann zur Kreislaufstabilisierung und zur Substitution von Gerinnungsfaktoren eine intensivmedizinische Behandlung notwendig sein.
Immunphänomene: Neben den schon diskutierten Thrombozytenantikörpern können auch Antiphospholipid-Antikörper (Lupus-Antikoagulanzien) auftreten. Diese sind selten mit Blutungs- oder Thrombosekomplikationen assoziiert und oft reine In-vitro-Phänomene. Gefährlicher, weil mit schwerer Blutungsneigung assoziiert, sind erworbene Gerinnungsinhibitoren (meist gegen den Faktor VIII, selten gegen die Faktoren V oder IX). Diese erworbene Hämophilie ist zu ca. 12 % mit Malignomen assoziiert, wie große Registerstudien zeigen. Therapeutisch müssen Bypasspräparate (NovoSeven®, FEIBA®), Immunsuppression und extrakorporale Immunadsorption angewendet werden. Vor allem das extrakorporale Verfahren ist wegen der Notwendigkeit eines suffizienten Venenzuganges und einer Antikoagulation eine logistische Herausforderung.
Im Verlauf von hämatoonkologischen Erkrankungen kann eine intensivmedizinische Behandlung notwendig werden. Oft bestehen dabei komplexe spezifische Gerinnungsprobleme (Thrombosen oder Blutungen). Das optimale Hämostasemanagement ist weder standardisiert noch durch wissenschaftliche Evidenz abgesichert und muss letztendlich individuell entschieden werden. Dazu ist aber vor allem eine ausreichende klinische hämatoonkologische, hämostaseologische und intensivmedizinische Expertise notwendig.