Vom 6.–9. September 2012 fand in Marseille der 10. Kongress der Europäischen Gesellschaft für Neuroonkologie (EANO) statt; mit einem beachtlichen Vorspann, nämlich einem vorgelagerten Fortbildungstag über Studiendesigns in der Onkologie, ganz besonders mit Hirntumorpatienten und einem internationalen Symposium zur Verbesserung der Betreuung von Patienten mit Hirnmetastasen. All dies erfreute sich reger Teilnahme von europäischen und einer zunehmenden Anzahl von Experten aus Kanada und Australien: Die Kanadier haben ja gemeinsam mit den Europäern den aktuellen „standard of care“ bei den Glioblastomen erarbeitet – und seither arbeiten auch die Australier in den europäischen Studien mit. Aber auch mit Experten aus den USA, Japan, China und Korea, und das, obwohl das Wetter prachtvoll war, das nahegelegene Meer 26° C hatte und türkis funkelte und man von Marseille aus problemlos die schönsten Ausflüge in die zauberhaften Calanques, die Camargue und an die Côte d’Azur machen kann.
Preisgekröntes Thema „Belastung Angehöriger von Gliompatienten“: Die EANO ist von ihrer Ausrichtung her interdisziplinär, spannt den Bogen von der Grundlagenwissenschaft zu allen beteiligten klinischen Fächern und bemüht sich, auch Fragen nach dem bestmöglichen Erhalt der Lebensqualität der Patienten und ihrer Angehörigen zu erforschen. Nur so ist es zu verstehen, dass am Ende des Kongresses, nach einem fulminanten Vortrag über den Nachweis von EGFRvIII-beladenen Mikrovesikeln in Thrombozyten von Gliompatienten, der Preis für die beste wissenschaftliche Arbeit eines Nachwuchswissenschaftlers an eine holländische Kollegin vergeben wurde, die über die Belastung von Angehörigen von Gliompatienten im Vergleich zu Angehörigen von anderen Krebspatienten geforscht hatte. Es ist eine besondere Herausforderung, ein so breit gestreutes Programm für ein so heterogenes Publikum zu entwerfen – besonders, wenn die ganze neuroonkologische Community auf die Ergebnisse zweier US-Studien zu Bevacizumab wartet, die möglicherweise Mitte November in Washington DC beim SNO-Meeting vorgestellt werden.
Aufbruchsstimmung am Gebiet der Hirnmetastasen: Die Ausrichtung der 10. EANO-Konferenz war durchwegs weit in die Zukunft gerichtet. Es wurde viel über Methodenentwicklung, Diagnostik und Therapiemonitoring reflektiert sowie versucht, dem Thema der Translation, also der Implementierung von Grundlagenwissen in die klinische Praxis besonders bei den „educational courses“ breiten Raum zu geben.
Auch auf dem Gebiet der Hirnmetastasen ist Aufbruchstimmung zu spüren. Diesem Thema waren eine „early morning session“ und zahlreiche Poster gewidmet. Es wird neue Studien für PatientInnen mit Hirnmetastasen geben – mit neuen, zielgerichteten Medikamenten und völlig neuartigem Studiendesign. Besonders spannend erscheinen präventive Trials gegen das Auftreten von Hirnmetastasen, und es wird sich nicht mehr alles um die Frage Ganzhirnbestrahlung ja/nein drehen, die nun wirklich lang genug im Zentrum aller Überlegungen gestanden ist, ohne deswegen jemals befriedigend beantwortet worden zu sein! Gerade zu dieser Frage der Ganzhirnbestrahlung – ihrer Sinnhaftigkeit, dem Timing, der Dosierung und den etwaigen Auswirkungen auf die Bildgebung sowie auf die geistigen Fähigkeiten der PatientInnen und die Messung derselben – gibt es sehr starke Emotionen und kaum Daten, die allen Anforderungen gerecht werden. Dabei gibt es 10-mal so viele Patienten, die von dieser folgenreichen Komplikation ihrer Krankheit betroffen sind, als Patienten mit primären Hirntumoren. Endlich scheint der Punkt erreicht, wo nun neue Entwicklungen Einzug halten werden.
Strahlentherapie mit „hippocampus sparing“: Alle Disziplinen haben Fortschritte gemacht: Die Bildgebung ist besser geworden und kann helfen, abzugrenzen, mit wie vielen Metastasen man es tatsächlich zu tun hat und wo sie liegen. Die Strahlentherapie kann, so nötig, mit „hippocampus sparing“ durchgeführt werden, und schließlich kann mit der Anwendung nun deutlich weiter verbreiterter kognitiver Tests untersucht werden, ob dies in puncto Kognition für die Patienten tatsächlich die gewünschten Effekte haben wird.
Onkologen haben eine Vielzahl neuer „targeted agents“ zur Verfügung: kleine Moleküle, die die Blut-Hirn-Schranke (die in größeren Metastasen sowieso nicht bestehen dürfte) überwinden können bis hin zu Antikörpern, die wie Bevacizumab oder Ipilimumab (das die tumorbedingte Immunsuppression aufheben soll) nicht einmal durch die Blut-Hirn-Schranke müssen, um Anti-Tumor-Effekte auszulösen. Dies alles soll in den jeweils dafür richtigen Patienten erprobt werden.
Ein für einen solchen Kongress neuer Schwerpunkt waren die Aspekte der Belastung der Angehörigen durch die Erkrankung eines Familienmitglieds an einem malignen Gliom, die besonderen Bedürfnisse der Patienten in der Palliativbetreuung sowie in der letzten Lebensphase und die Wahrung der persönlichen Würde der Erkrankten. Diesem Themenkreis waren eine „Meet the expert session“, eine Vormittagssitzung, ein Posterschwerpunkt und auch ein Arbeitskreis-Meeting gewidmet, aus dem sich möglicherweise die Einreichung eines gemeinsamen EU-Projektes entwickeln wird.
Reflexionen über die antiangiogenetische Therapie: Zum Hauptthema über Hirntumoren wurden Reflexionen über die antiangiogenetische Therapie von mehreren Opinion Leaders, sowohl aus dem europäischen Raum als auch von Referenten aus den USA, vorgetragen. Was bringt Bevacizumab nun wirklich? Muss es überhaupt in das Gliom vordringen, um seine Wirkung – die Bindung von VEGF – zu entfalten? Wann ist der beste Zeitpunkt für die Anwendung? Gibt es prädiktive Marker für das Ansprechen? Oder für Komplikationen? Was haben die „small molecules“, die sich gegen die Angiogenese richten, unterm Strich gebracht? Es war überaus lehrreich zu hören, wie sich Michael Weller, Susan Chang und Tracy Batchelor zu diesen Themen äußerten, wobei diese Personen womöglich die einzigen sind, die bereits wissen, wie die Ergebnisse der First-Line-Avastin-Studien, auf die alle warten, aussehen werden. Außerdem zogen sie auch Bilanz über die „small molecules“, die in den letzten 5 Jahren mit antiangiogenetischer Ausrichtung in Studien geprüft wurden, und gaben manchen Einblick in ihre Gedanken, wie man negative Ergebnisse in der Vergangenheit möglicherweise hätte verhindern können.
Über Bevacizumab wurde Bilanz gezogen, die Nebenwirkungsraten wurden taxiert, wobei die wirklich schlimmen Nebenwirkungen der VEGF-gerichteten Substanzen – wie Perforationen im Magen-Darm-Trakt oder symptomatische Einblutungen ins Tumorbett – zwar im niedrigen einstelligen Bereich liegen, aber schwerste iatrogene und leider oft mit Todesfolge einhergehende Komplikationen sind, die man derzeit nicht vorhersehen kann. Es wird noch vieler Diskussionen bedürfen, auch wenn im November die PFS-Daten der AVAglio- und der RTOG-0825-Studie veröffentlicht werden, ob und bei wem und wie lange Bevacizumab in die First-Line-Therapie des Glioblastoms aufgenommen werden wird. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass der Druck von Patienten und Angehörigen sehr hoch sein wird – genauso wie die Entrüstung im Fall einer schweren Komplikation.
Von wissenschaftlicher Seite würde man sich zu diesem Thema mehr Forschung an aussagekräftigen Tiermodellen wünschen. Arbeiten, wie sie von einer ja panisch-amerikanischen Arbeitsgruppe vorgestellt wurden – in der Hoffnung, auf diese Weise mehr über die Vermeidung der schweren Komplikationen und vielleicht auch mehr über den optimalen Zeitpunkt der Verabreichung dieser Substanzen zu lernen.
Vakzinstudien: In mehreren Sitzungen wurde die Bedeutung der IDH1-Mutation erläutert – als diagnostisches Merkmal und in einem Poster auch als potenzielles therapeutisches Target. Ebenfalls gut gewählt war der Schwerpunkt zum derzeitigen Stellenwert der Immuntherapie von Gliomen. In diesem Rahmen konnte Stefan Gool die aktuellen Daten seiner Vakzinstudien vorstellen, wobei wir in Österreich mit der in 8 Zentren laufenden Trivax-Studie ein dem letzten Stand der Forschung entsprechendes Projekt am Laufen haben. Michael Weller stellte die in Kürze auch in Österreich beginnende Vakzinstudie gegen EGFRvIII vor. Und nicht zuletzt gab Amy Heimberger einen umfassenden Überblick zu den Möglichkeiten, wie man die von Gliomen verursachte Immuntoleranz durchbrechen und eine gezielte Anti-Tumor-Abwehr induzieren kann.
Ein spannender und zukunftsweisender Abschluss war der letzte Vortrag des Kongresses von Thomas Würdinger von der Universität Amsterdam, der von seinen Arbeiten über Mikrovesikel berichtete, die als diagnostische Marker benützt werden und deren biologische Funktion als Boten zwischen den Tumoren und dem Knochenmark sowie dem Immunsystem faszinierend und noch nicht überschaubar ist. Vom Gliom abgeschiedene Mikrovesikel enthalten als Exosomen Tumor-RNA. Sie erreichen den Blutkreislauf und werden von Milz, Leber und Knochenmark aufgenommen und verarbeitet, möglicherweise in beide Richtungen, um die Immundepression durch das Gliom aufrechtzuerhalten und dem Tumor weiteres Wachstum zu ermöglichen – oder auch, um die Tumorabwehr zu organisieren. Jedenfalls werden diese Tumor-RNA-enthaltenden Mikrovesikel auch von den Plättchen in der Zirkulation für ihren eigenen Stoffwechselbedarf aufgenommen. Aus diesem Pool kann Tumormaterial ganz einfach mit jeder Blutprobe entnommen und analysiert werden, was in der Zukunft neue diagnostische Möglichkeiten eröffnen kann, da die Plättchen in der Zirkulation ja nicht älter als 14 Tage sind.
Weitere sehr informative Schwerpunkte widmeten sich kindlichen Hirntumoren und ihrer Bildgebung sowie der Optimierung neurochirurgischer Techniken in der Gliomchirurgie.
EANO-Plattform: Zahlreiche kleine Meetings während der EANO widmeten sich der peripheren Neurotoxizität (PeriNom study) und anderen wichtigen organisatorischen Themen, wie der Neuroonkologie in Osteuropa und Nordafrika. Innerhalb Europas bilden sich zunehmend neuroonkologische Gesellschaften, die in der EANO eine Plattform sehen, medial vertreten durch eine weiterentwickelte EANO-Website, das EANO-NeuroOncology-Magazin und die Zeitung Neuro-Oncology, die für alle EANO-Mitglieder frei verfügbar ist. Die transkontinentale Zusammenarbeit mit SNO, JSNO und anderen asiatischen Gesellschaften wird in Hinblick auf den Weltkongress für Neuroonkologie wichtig.
Die EANO hat bei diesem Meeting neue Akzente in die Thematik innovativer und translationaler Entwicklungen gesetzt und mit einem sehr homogenen Programm den Entwicklungen der Neuroonkologie Rechnung getragen. Diese Qualität betrifft sowohl das Hauptprogramm als auch den „educational day“, an dem zahlreiche Wissenschaftler auf exzellentem Niveau die Brücke zwischen Grundlagen und angewandter Forschung in klinischer Neuroonkologie bewältigten.